Als Heilmaßnahmen zur Verbesserung oder Wiedererlangung des Sehvermögens kommen bei zahlreichen Augenerkrankungen oder Verletzungen, z. B. Glaukom, Katarakt, Netzhautablösung, Hornhautverletzungen, operative Eingriffe in Frage. Bei der feuchten Makuladegeneration gibt es zwischenzeitlich Erfolg versprechende Therapien. Die Frage ist, inwieweit im Rahmen der Blindengeldgesetze eine Verpflichtung besteht, sich einer Untersuchung zu Erfolgsaussichten einer Therapie oder einer Therapie, insbesondere einer Operation zu unterziehen, wenn dadurch Blindheit beseitigt bzw. ein Sehvermögen erhalten oder wiederhergestellt werden kann, so dass kein Anspruch auf Blindengeld besteht oder der Anspruch wieder verloren geht. Für die Landesblindengeldgesetze, auf welche das SGB I anwendbar ist und für die Blindenhilfe nach § 72 SGB XII enthalten die §§ 60 ff. SGB I die notwendigen Rechtsgrundlagen.

Zu den im dritten Abschnitt dritter Titel des SGB I geregelten Mitwirkungspflichten gehört gemäß § 63 für denjenigen, welcher wegen Krankheit oder Behinderung Sozialleistungen beantragt oder erhält, die Verpflichtung, sich einer Heilbehandlung zu unterziehen, wenn zu erwarten ist, dass sie eine Besserung seines Gesundheitszustands herbeiführen oder eine Verschlechterung verhindern wird. Zur Feststellung der Erfolgsaussichten einer Therapie sollen die erforderlichen Untersuchungen vorgenommen werden (§ 62 SGB I). Es handelt sich um Obliegenheiten im eigenen Interesse des Betroffenen. Die Unterlassung dieser Mitwirkungsobliegenheiten ist deshalb nicht rechtswidrig. Die Verletzung der Obliegenheiten kann jedoch zur Versagung oder zum Entzug der Sozialleistungen führen (§ 66 Abs. 2 SGB I). Sozialleistungen dürfen nach § 66 Abs. 3 SGB I wegen fehlender Mitwirkung aber nur versagt oder entzogen werden, nachdem der Leistungsberechtigte auf diese Folge schriftlich hingewiesen worden ist und seiner Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten angemessenen Frist nachgekommen ist.

Der VGH Baden-Württemberg hat mit Urteil vom 31.05.1972 - VI 261/71 = FEVS 21, 61-68 - für die Blindenhilfe nach § 67 BSHG (jetzt § 72 SGB XII) entschieden, dass ein Blinder keine Blindenhilfe beanspruchen kann, wenn er sich einer zumutbaren ärztlichen Untersuchung entzieht, bei der die Erfolgsaussicht einer Operation zur Wiedergewinnung des Augenlichts geklärt werden soll.

Nicht jede Weigerung, sich einer Heilmaßnahme, wozu auch Operationen zählen, zu unterziehen, gibt dem Sozialleistungsträger die Möglichkeit, die Sozialleistung ganz oder teilweise zu versagen oder zu entziehen. Die Grenzen der Mitwirkungspflicht ergeben sich aus § 65 SGB I. Bei Eingriffen handelt es sich um Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit. Diese ist durch Art. 2 Abs. 2 GG geschützt. Weil der Eingriff nicht erzwungen werden kann und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werden muss, der insbesondere in § 65 SGB I mit seinen Beschränkungen zum Ausdruck kommt, verstößt § 63 nicht gegen Art. 2 Abs. 2 GG. § 65 SGB I ist eine Ausprägung des verfassungsrechtlichen Übermaßverbotes. Die dabei maßgebenden Teilmaßstäbe sind Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit. Voraussetzung ist zunächst, dass zu erwarten ist, dass die Heilbehandlung eine Besserung des Gesundheitszustandes, also hier des Sehvermögens, herbeiführt oder eine Verschlechterung verhindert wird. Das erfordert, dass nach einer vorausschauenden Betrachtung nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft eine Besserung oder eine Abwendung einer Verschlechterung wahrscheinlich ist.

Nach § 65 Abs. 1 Nr. 1 SGB 1 muss zwischen der Mitwirkung, also der Duldung des Eingriffes, und der begehrten Sozialleistung ein angemessenes Verhältnis bestehen. Das wäre nicht der Fall, wenn z. B. bei einer Operation nur erwartet werden könnte, dass das erreichbare Sehvermögen unter den Grenzen des Blindheitsbegriffes nach den Blindengeldgesetzen bliebe, wenn also Blindheit im Sinne der gesetzlichen Definition überhaupt nicht beseitigt werden könnte. Bei der Beurteilung der Zumutbarkeit sind nicht nur objektive Gesichtspunkte, sondern auch die subjektiven Befürchtungen des Betroffenen zu berücksichtigen. Die mit der Mitwirkungshandlung verbundenen Nachteile dürfen insgesamt die Vorteile nicht überwiegen. In die anzustellende Abwägung sind sämtliche Interessen des Leistungsberechtigten einzubringen, zu gewichten und untereinander sowie gegeneinander abzuwägen. Die Angst eines Leistungsberechtigten, einen noch vorhandenen geringen Sehrest bei einer Operation zu verlieren, muss als wichtiger Grund (§ 65 Abs. 1 Nr. 2 SGB I) berücksichtigt werden. Gramberg-Danielsen und Küchle haben unter Berücksichtigung des medizinischen Fortschrittes augenärztliche Eingriffe zusammengestellt, die nach medizinischer Sicht zumutbar sind (vgl. Gramberg-Danielsen, Rechtliche Grundlagen der ärztlichen Tätigkeit, Abschnitt 2.5.3 sowie Gramberg-Danielsen, H, Julius Küchle in: "Der Augenarzt", 1990, S. 69. sowie die Ausführungen auf S. 413 ff. in der Dissertation von Demmel, insbesondere auch die Fußnoten auf S. 413). Nur allgemein geäußerte Befürchtungen, welche nicht objektiv nachvollzogen werden können, rechtfertigen die Ablehnung einer auf die Besserung des Gesundheitszustandes zielenden Therapie nicht. Die Grenze der Mitwirkungspflicht nach § 65 Abs. 1 ist von Amts wegen zu berücksichtigen. Über diese allgemeinen Zumutbarkeitsgrenzen des § 65 Abs. 1 hinaus sind in Abs. 2 besondere Grenzen für die Mitwirkung bei Heilbehandlungen gezogen worden. Danach können Behandlungen und Untersuchungen abgelehnt werden, bei denen

  1. im Einzelfall ein Schaden für Leben oder Gesundheit nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann,
  2. die mit erheblichen Schmerzen verbunden sind oder
  3. die einen erheblichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit bedeuten.

Diese Gründe müssen vom Betroffenen geltend gemacht werden. Liegen sie vor, kann der Eingriff nicht verlangt werden. Eine Einzelfallprüfung ist notwendig. Eine generell als zumutbar zu bewertende Heilmaßnahme kann in einem bestimmten Einzelfall gefährlich sein und damit zur Ablehnung berechtigen.

Wonach suchen Sie?