Die vorgeschlagenen Lösungen haben zur Folge, dass der Sozialhilfeträger in der Regel weder beim Tod des Erstversterbenden noch beim Tod des Zweitversterbenden auf das Erbe zugreifen kann. Die Frage ist, ob solche Bestimmungen Bestand haben können oder nach § 138 BGB wegen eines Verstoßes gegen die guten Sitten nichtig sind. Das hätte zur Folge, dass die gesetzliche Erbfolge einträte. § 138 Abs. 1 lautet: "Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig."

Der Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil vom 21. März 1990 (Az.: IV ZR 169/89, NJW 1990, S. 2055) die Sittenwidrigkeit im Falle eines verhältnismäßig bescheidenen Vermögens des Erblassers von etwa 30.000,00 DM (= rund 15.000,00 Euro) verneint. Das behinderte Kind war in diesem Fall als Vorerbe, ein gemeinnütziger Träger einer Behinderteneinrichtung als Nacherbe eingesetzt worden. Der Bundesgerichtshof hat es offen gelassen, ob das anders sein könnte, wenn der Erblasser ein "beträchtliches Vermögen hinterlassen hätte und der Pflichtteil des Behinderten so hoch wäre, dass daraus oder sogar nur aus den Früchten seine Versorgung sichergestellt wäre". Für den der Entscheidung zu Grunde liegenden Fall bestätigt der BGH gerade, dass der Erblasser bei der Gestaltung seines Testaments sittlich verantwortlich gehandelt habe. Er stellt fest: "Wenn Eltern zugunsten ihres behinderten Kindes eine Testamentsgestaltung wählen, welche bezweckt, dem Kind mehr zukommen zu lassen, als die Sozialhilfeträger zu leisten in der Lage sind, dann könne man ihnen regelmäßig keinen Sittenverstoß vorwerfen."

In seinem Urteil vom 20. Oktober 1993 (Az.: IV ZR 231/92) hat der BGH entschieden, dass auch ein Testament nicht gegen die guten Sitten verstoße, bei dem nicht eine gemeinnützige Organisation, sondern ein anderes Kind des Erblassers als Nacherbe eingesetzt worden ist. In diesem Fall war das behinderte Kind sogar nur auf ein Vorerbe, das knapp über dem Pflichtteilsanspruch lag, eingesetzt worden. Wegen des im Erbrecht bestehenden Grundsatzes der Testierfreiheit, die nach Art. 14 Grundgesetz verfassungsrechtlich geschützt ist, verstößt die Beschränkung des behinderten Kindes auf einen geringeren Erbteil (im vorliegenden Fall 28 % des Nachlasses) nicht gegen die guten Sitten, weil die Grenzen des Pflichtteils, der die Rechte der nächsten Angehörigen schützt, beachtet worden sind.

Ein Verstoß gegen die guten Sitten könnte nur bejaht werden, wenn die Absicht eindeutig im Vordergrund stehen würde, dem Sozialhilfeträger verwertbares Vermögen zu entziehen und in der Familie zu halten. Der BGH stellt fest: "Wenn Eltern zugunsten ihres behinderten Kindes eine Testamentsgestaltung wählen, welche bezweckt, dem Kind mehr zukommen zu lassen, als die Sozialhilfeträger zu leisten in der Lage sind, dann könne man ihnen regelmäßig keinen Sittenverstoß vorwerfen. "Das Sozialhilferecht bietet nach Ansicht des BGH keine Grundlage für die Auffassung, dass ein Erblasser aus Rücksicht auf die Belange der Allgemeinheit seinem unterhaltsberechtigten behinderten Kind "jedenfalls bei größerem Vermögen entweder über den Pflichtteil hinaus einen Erbteil hinterlassen müsse, um dem Träger der Sozialhilfe einen gewissen Kostenersatz zu ermöglichen", oder zumindest verpflichtet sei, "eine staatlich anerkannte und geförderte Behindertenorganisation als Nacherben" einzusetzen, "damit der Nachlass auf diesem Weg zur Entlastung der öffentlichen Hand beitrage."

In der Literatur wird ebenfalls ganz überwiegend die Auffassung vertreten, dass so genannte "Behindertentestamente", die den Nachlass dem Zugriff der Sozialhilfeträger entziehen und das Vermögen der Familie erhalten, nicht gegen die guten Sitten verstoßen, wenn das behinderte Kind zumindest mit einem Erbteil in Höhe des Wertes des Pflichtteils bedacht wird. Eine Ausschlagung der durch Nacherbschaft und Testamentsvollstreckung beschränkten Erbschaft wird von dem Behinderten in aller Regel nicht verlangt werden können. Diese Ausschlagung hätte zur Folge, dass ihm der Pflichtteil zustünde. Auf diesen hätte dann der Sozialhilfeträger Zugriff. Eine solche Forderung oder die Einschränkung der Sozialhilfeleistungen für das behinderte Kind auf das Lebensnotwendige, wenn es das Erbe nicht ausschlägt und seinen Pflichtteil verlangt, käme allenfalls in Betracht, wenn das behinderte Kind durch die Erträgnisse des Pflichtteils von Sozialhilfeleistungen unabhängig würde (§ 26 SGB XII). Der BGH lässt diese Frage in seinem Urteil vom 20. Oktober 1993 offen.

Die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichtsbarkeit hat sich der Auffassung des BGH zum Behindertentestament angeschlossen. Vgl. z.B. Urteil des Oberverwaltungsgericht des Saarlandes vom 17.03.2006 Az.: 3 R 2/05 in ZErb 2006, S. 275-282.

Der Leitsatz dieser Entscheidung lautet:

"Ein Hilfesuchender, der Eingliederungshilfe in Form von Übernahme der Kosten seiner vollstationären Unterbringung begehrt, darf unter dem Gesichtspunkt des Nachranggrundsatzes der Sozialhilfe nicht darauf verwiesen werden, einen ihm von seiner Großmutter vererbten Nachlass als Vermögen zu verwerten, wenn die Erblasserin wirksam Testamentsvollstreckung für die Dauer des Lebens des Erben angeordnet und eine "sozialhilfeunschädliche" Verwendung des Nachlasses zur Auflage gemacht hat, die eine Verwendung des Erbes zur Deckung der Heimkosten ausschließt."

Es ist zu erwarten, dass sich die nunmehr für das Sozialhilferecht zuständige Sozialgerichtsbarkeit dieser Auffassung anschließt.

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