Mit dem Inkrafttreten des SGB IX im Jahre 2001 hat der Gesetzgeber den Behinderungsbegriff neu geregelt. § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX lautet:

"Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist."

Dieser Behinderungsbegriff gilt grundsätzlich für alle Bücher des Sozialgesetzbuches. Darüber hinaus wurde er mit Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) wörtlich in § 3 BGG und auch in die meisten Behindertengleichstellungsgesetze der Länder übernommen und findet nach der Gesetzesbegründung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) auch im AGG Anwendung. Die Definition von Behinderung ist somit über das SGB IX hinaus für die Rechtsordnung von Bedeutung (u.a. auch für das Arbeitsrecht).

Das bedeutet nun aber nicht, dass der jeweils anspruchsberechtigte Personenkreis in allen Regelungsbereichen derselbe ist. Insoweit eingrenzende Regelungen finden sich insbesondere im Bereich der kausalen Sicherungssysteme (gesetzliche Unfallversicherung nach dem SGB VII und soziale Entschädigung).

Aber auch die Träger der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung und die Bundesagentur für Arbeit orientieren sich bei ihren Rehabilitations-und Teilhabeleistungen an spezifischen Zugangsvoraussetzungen in den Bestimmungen über die Leistungsberechtigung.

Auch § 53 SGB XII, der ausdrücklich auf § 2 SGB IX verweist, schränkt für die Eingliederungshilfe den Personenkreis der Anspruchsberechtigten noch weiter ein. Danach sind Personen leistungsberechtigt, wenn sie infolge einer gesundheitlichen Störung im Sinne von § 2 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt sind oder dies einzutreten droht. Das bedeutet: In der Eingliederungshilfe muss für einen Rechtsanspruch das Merkmal der Wesentlichkeit als Zugangsvoraussetzung vorliegen. Die Eingliederungshilfeverordnung konkretisiert dies für bestimmte Personenkreise. Danach gelten bestimmte Gruppen körperlich, geistig, seelisch behinderter Menschen kraft Gesetzes als wesentlich behindert z.B. auch wesentlich sehbehinderte Menschen); die wesentliche Behinderung bei anderen Personenkreisen ist durch Prüfung im Einzelfall festzustellen.

Da die UN-behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Deutschland geltendes Recht ist, und es sich bei ihr um einen Völkerrechtlichen Vertrag handelt, muss der Behindertenbegriff völkerrechtskonform ausgelegt werden (Art. 25 GG).

Die UN-BRK verpflichtet den Staat dazu, die gleichberechtigte, barrierefreie Rechtsausübung jedes Menschen trotz individueller Beeinträchtigung zu ermöglichen. Deshalb heißt es in Artikel 1 UN-BRK:

"Zweck dieses Übereinkommens ist es, den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern. Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Partizipation an der Gesellschaft hindern können."

Damit umschreibt Artikel 1 Satz 2 die Personengruppe, die in den Schutz des Übereinkommens fällt.

Bereits in der Präambel Buchstabe e) der UN-BRK wird als "Erwägungsgrund" auf den Begriff "Behinderung" Bezug genommen. Dort wird beschrieben, dass sich das Verständnis von Behinderung ständig weiterentwickelt und dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern. Die in der Präambel der UN-BRK formulierten Erwägungsgründe dienen der Auslegung der UN-BRK. Diese in Buchstabe e) der Präambel enthaltene Erläuterung verdeutlicht, dass ein Verständnis von "Behinderung" nach der UN-BRK nicht als fest definiertes Konzept verstanden wird, sondern auch von gesellschaftlichen Entwicklungen abhängig ist. Nach diesem Verständnis ist in den Blick zu nehmen, dass einstellungs- und umweltbedingte Barrieren das Behindertsein noch wesentlich erschweren, ja: Dieser Aspekt wird bewusst in den Fokus gerückt. Man spricht von einem "Paradigmenwechsel" weg von einer vorwiegend medizinischen Betrachtungsweise einer Behinderung hin zu den die Teilhabe behindernden Barrieren und weg von der Fürsorge für behinderte Menschen hin zu ihrer Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft.

Damit werden die körperlichen, seelischen, geistigen oder Sinnesbeeinträchtigungen aber nicht ignoriert oder bagatellisiert. An sie wird vielmehr angeknüpft. "Behinderung" entsteht nicht erst durch die Barrieren (also durch das Wirken Dritter), sondern liegt bereits vor bei Beeinträchtigungen, die die genannten negativen "Wechselwirkungen" auslösen können. Um welche Barrieren es sich handeln kann und was zu ihrer Beseitigung oder Überwindung getan werden muss, um behinderten Menschen den Genuss der Menschenrechte und die Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermöglichen, erschließt sich aus den Artikeln 8 bis 30 UN-BRK.

Eine weitere Orientierung zum Verständnis des Begriffs "Behinderung" stellt die "Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit" (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) dar. Sie dient als länder- und fachübergreifende einheitliche Sprache zur Beschreibung des funktionalen Gesundheitszustandes, der Behinderung, der sozialen Beeinträchtigung und der relevanten Umgebungsfaktoren einer Person. Die Anwendung der ICF in Deutschland ist geregelt in den Richtlinien über Leistungen zur medizinischen Rehabilitation des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) vom 16. März 2004. Bereits die Gestaltung des SGB IX wurde wesentlich durch die Vorläuferfassungen der ICF beeinflusst. Wichtiges Ziel der ICF war und ist es, das bio-psycho-soziale Modell zu erweitern und damit der Lebenswirklichkeit Betroffener besser anzupassen. Nach Ziffer 2.1 der Erläuterungen zur ICF ist Behinderung ein Oberbegriff für Schädigungen sowie Beeinträchtigungen der Aktivität und Teilhabe. Er bezeichnet die negativen Aspekte der Interaktion zwischen einer Person (mit einem bestimmten Gesundheitszustand) und deren individuellen Kontextfaktoren. Sie stellen den gesamten Lebenshintergrund einer Person dar und umfassen zwei Komponenten: Umweltfaktoren und personenbezogene Faktoren. Diese können einen positiven oder negativen Einfluss auf die Person mit einem bestimmten Gesundheitszustand haben.

Sowohl die Auffassung von Behinderung in der UN-BRK als auch der Behindertenbegriff im deutschen Sozialrecht knüpfen notwendigerweise und übereinstimmend an eine vorhandene dauerhafte körperliche, geistige oder seelische Funktionsbeeinträchtigung an, also an ein medizinisch feststellbares Kriterium. Um das Ausmaß einer Behinderung zu erfassen, darf jedoch der Blick nicht auf eine rein medizinische Beurteilung verengt werden. Vielmehr müssen die Wechselwirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung sowohl mit den personenbezogenen als auch mit den umweltbezogenen Faktoren berücksichtigt werden. Die ICF hatte nicht nur Einfluss auf den Behindertenbegriff nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX, sondern lag auch den Beratungen der UN-BRK zugrunde.

Im Rahmen des für das Jahr 2016 zu erwartenden Erlasses eines Bundesteilhabegesetzes ist zu erwarten, dass der Behindertenbegriff in § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB IX den Formulierungen der UN-BRK angepasst werden.

Zum Behindertenbegriff vgl. Marianne Hirschberg, Deutsches Institut für Menschenrechte POSITIONEN Nummer 4.

Wonach suchen Sie?