Alle blinden und sehbehinderten Menschen, auch diejenigen, die beruflich nicht eingegliedert werden können, haben ein Anrecht auf eine Rehabilitation, die ihnen ein möglichst unabhängiges und selbstbestimmtes Leben ermöglicht. Dieser Anspruch richtet sich auf eine "Elementarrehabilitation". Die Elementarrehabilitation ist die Voraussetzung dafür, dass sich entsprechend dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 und 28 GG) eine der Menschenwürde entsprechende Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft verwirklichen lässt. Die Maßnahmen der Elementarrehabilitation sind überdies geeignet, einer sonst drohenden Pflegebedürftigkeit entgegenzuwirken. Sie ist ein zielgerichteter Prozess.

Die Elementarrehabilitation Blinder und Sehbehinderter muss vom Betroffenen und seiner Situation, vom Erleben der Erblindung oder Sehbehinderung und von den Auswirkungen dieser Behinderungen ausgehen und die individuellen Bedürfnisse berücksichtigen.

Die Erblindung bzw. der Eintritt der Sehbehinderung sind häufig mit einer außergewöhnlichen psychischen Belastung verbunden. Nicht nur der Verlust der optischen Wahrnehmung führt zu einem Mangelerlebnis. Betroffene empfinden vor allem die dadurch eintretende Hilflosigkeit und das Angewiesensein auf die Hilfe ihrer Mitmenschen, den Verlust der Orientierungs- und Informationsmöglichkeit und die daraus resultierende Mobilitätseinschränkung als besonders bedrückend. Auch die zwischenmenschliche Kommunikation / Interaktion wird durch den Wegfall des Blickkontaktes wesentlich erschwert. Der Verlust eines Arbeitsplatzes oder der sonstigen beruflichen Tätigkeit sowie der Stellung in der Familie kann zur Existenzangst führen. Die Verrichtungen des täglichen Lebens, sei es im Bereich der Körperpflege und Hygiene, des Ankleidens und der Kleiderpflege, der Nahrungszubereitung und Nahrungsaufnahme oder der sonstigen hauswirtschaftlichen Versorgung, können nicht mehr oder nicht mehr uneingeschränkt unter optischer Kontrolle vorgenommen werden. Blinde benötigen zum Schreiben und Lesen ein eigenes, auf den Tastsinn ausgerichtetes, Schriftsystem. Die schriftliche Kommunikation mit Sehenden ist erschwert. Weil die optische Wahrnehmung die größte Reichweite hat und die schnellste Information erlaubt, kann Blindheit oder Sehbehinderung auch als "Behinderung in der Wahrnehmung" oder als "Informationsbehinderung" charakterisiert werden.

Die Maßnahmen der Elementarrehabilitation müssen psychisch stabilisieren, damit die Behinderung seelisch verarbeitet und angenommen werden kann. Die optische Wahrnehmung muss in einer "visuell, höchstens audiovisuell" ausgerichteten, hoch entwickelten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft durch die Wahrnehmung über andere, weniger weit reichende und hoch auflösende Sinne ersetzt werden, wobei bei diesem "Sinnesvikariat" die Wahrnehmungsfähigkeit und Reichweite der unterschiedlichen Sinne beachtet werden muss. Die Leistungsfähigkeit oder Reichweite lässt sich durch Training und den Einsatz von Hilfsmitteln erhöhen. Zur Veranschaulichung sei auf die Schulung des Gehörs und des Tastsinns sowie die Verwendung eines Taststockes (Vergrößerung der Reichweite des Tastsinnes) zur Steigerung der Mobilität hingewiesen.

Als Maßnahmen der Elementarrehabilitation kommen in Betracht:

  • Beratung und psychosoziale Unterstützung.
  • Kompensation der Behinderung durch den Einsatz von Hilfsmitteln und die Schulung in ihrem Gebrauch zur Befriedigung elementarer Grundbedürfnisse. Zu den Grundbedürfnissen eines Menschen gehören nicht nur Nahrung und Kleidung, sondern auch die Mobilität und die Schaffung eines geistigen Freiraumes durch Information.
  • Die Mobilität eines Blinden kann durch das Orientierungs- und Mobilitätstraining wesentlich verbessert werden. Als kompensierende Hilfsmittel kommen dabei Sehhilfen, der Blindenlangstock, elektronische Leitgeräte oder Blindenführhunde in Frage. Im Mobilitätstraining werden vermittelt: Begleitertechniken, Orientierung durch den Einsatz entsprechender Methoden und der richtige Gebrauch der Hilfsmittel. Dazu gehört auch ein Training der Restsinne, insbesondere des Gehör-, Tast- und Geruchssinnes.
  • Kompensierende Hilfsmittel im Bereich der Information sind z. B. vergrößernde Sehhilfen, Bildschirmlesegeräte oder auch Lese-Sprech-Geräte und Farberkennungsgeräte für Blinde.
  • Die Schulung in lebenspraktischen Fähigkeiten in den Bereichen Körperpflege und Hygiene, Kleidung und Kleiderpflege, Essenszubereitung und Nahrungsaufnahme sowie der übrigen hauswirtschaftlichen Versorgung. Die vermittelten Techniken im Bereich der lebenspraktischen Fähigkeiten (LPF-Training) helfen, die zahlreichen Verrichtungen im Ablauf des Tages, angefangen z. B. bei der Zahnpflege, der Rasur, der Körperpflege, der Kleiderauswahl und Kleiderpflege bis hin zur Vorbereitung von Mahlzeiten, zum selbstständigen Umgang mit Besteck beim Essen und zur Besorgung des Haushalts ohne optische Kontrolle weitgehend selbstständig zu bewältigen. Als Hilfsmittel kommen in der Regel Messgeräte mit abtastbaren Skalen oder Sprachausgabe wie Uhren, Waagen, Messbecher, Maßstäbe oder -bänder, Geldschein und Münzschablonen zur Verwendung.
  • Kommunikations- und Kulturtechniken wie Schreiben und Lesen. Hier ist vor allem das Schreiben, auch der Handschrift, ohne optische Kontrolle zu nennen. Dadurch können sehenden Menschen Nachrichten übermittelt werden. Zumindest die eigenhändige Unterschrift sollte beherrscht werden. Durch die eigenhändige Unterschrift wird die Teilnahme am Rechtsverkehr erleichtert. Das Erlernen des Schreibmaschinenschreibens erleichtert ebenfalls die Kommunikation mit Sehenden. Für eigene Notizen und zum eigenständigen Lesen ist das Erlernen der Blindenschrift hilfreich. Aber auch die Bedienung von Fernsprechapparaten, Kassettenrekordern, elektronischen Notizbüchern und die Benützung der EDV gehören hierher.
  • Organisationsstrategien zur Entwicklung und Anwendung von Ordnungssystemen und zur Beschaffung von Hilfen. Weil ein Blinder oder wesentlich Sehbehinderter verlegte Gegenstände nur schwer wieder auffinden kann und weil trotz der durch die bisher angeführten Rehabilitationsmaßnahmen erreichbaren Selbstständigkeit immer wieder auf Hilfe zurückgegriffen werden muss, sind Organisationsstrategien unentbehrlich. Hierher gehört die Entwicklung und Einübung von Ordnungssystemen, z. B. eine bestimmte Ordnung im Kleiderschrank, die systematische Markierung von Gegenständen durch abtastbare Merkzeichen, die Anpassung von Haushaltsgeräten durch abtastbare Skalen.
  • Organisationsstrategien sind ferner für die Anforderung von Hilfen, z. B. Umsteighilfen bei Reisen, Bestellung von Taxen von großem Nutzen. Mögliche Hilfen müssen ermittelt und festgehalten werden können.
  • Befähigung zur sinnvollen Freizeitgestaltung und zur Teilnahme am Gesellschafts- und Kulturleben. Es sollte dazu verholfen werden, bisherige Freizeitaktivitäten fortzusetzen. Aber auch neue Freizeitaktivitäten müssen erschlossen werden.
  • Beratung und Hilfen für Angehörige zur partnerschaftlichen Schicksalsbewältigung.
  • Die Beschreibung der Maßnahmen der Elementarrehabilitation hat gezeigt, dass es sich um einen komplexen, aber modular aufgebauten Bereich handelt. Außerdem geht es nicht um ein Minimum, sondern um die Vermittlung von Schlüsselfertigkeiten, die für blinde und sehbehinderte Menschen von existentieller Bedeutung sein können.

Dieser Katalog ist nur beispielhaft und nicht abschließend zu verstehen.

Das dem Sozialrecht zugrunde liegende gegliederte System macht es erforderlich, die einzelnen Maßnahmen den Bereichen der medizinischen Rehabilitation bzw. der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (soziale Rehabilitation) zuzuordnen.

Die Rehabilitation kann aber nicht nur nach dem Sozialrecht zugrunde liegenden Phasenmodell mit den Bereichen medizinische, schulisch/berufliche und soziale Rehabilitation betrachtet werden. Sie lässt sich auch nach ihren Schichten einteilen. Die Elementarrehabilitation legt auch die Grundlage für eine weiterführende Rehabilitation, z. B. die berufliche Rehabilitation.

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