Barrierefrei-Probleme an Fußgängerquerungsstellen
Das Grundproblem ist uralt: Menschen im Rollstuhl oder mit Rollator wünschen sich den öffentlichen Bereich möglichst eben - blinde Menschen brauchen aber an bestimmten Stellen auffällige Kanten, die sie mit ihrem Blindenstock ertasten und sicher interpretieren können. Sie brauchen dort einen deutlichen Höhenunterschied, der ihnen sagt: "Oben = Sicherheit, unten = Gefahr". Dies gilt vor allem für die "Grenzlinie" zwischen sicherem Gehbereich und der für Fußgänger gefährlichen Fahrbahn.
Neue Untersuchungen zeigen, dass dieser Sicherheits-Höhenunterschied nicht nur für blinde Menschen gilt: Bei einer Befragung, die von 127 Kindergartenfachkräften beantwortet wurde, sprach sich eine überzeugende Mehrheit dafür aus, dass Bordsteinkanten von mindestens 6 cm Höhe einen wichtigen Aspekt für die Sicherheit kleiner Kinder darstellen.(1)
Die bedeutsamsten und gleichzeitig unfallträchtigsten Stellen für Fußgänger befinden sich dort, wo größere Fußgängerströme stark befahrene Straßen queren. Bereits in den 70er-Jahren fand man eine Lösung, die noch heute bei vielen Fußgängerquerungsstellen realisiert wird: Die Bordsteine werden auf eine Höhe von 3 cm abgesenkt (siehe Bild 1).
Ein "guter Kompromiss" ist dies allerdings nicht: Für manchen Rollstuhl- und Rollatornutzer ist diese für sie zu hohe Kante zumindest unangenehm, im Extremfall sogar kaum zu bewältigen. Für blinde Menschen ist sie dagegen zu niedrig. Es erfordert sehr viel Training und eine extreme Konzentration, damit sie sicher erfasst wird.
Die "Getrennte Überquerungsstelle mit differenzierter Bordhöhe"
Vor ca. 20 Jahren wurde dann in einem langwierigen Prozess eine zweite Lösung erarbeitet: Blinde Menschen erhalten dabei eine Querungsstelle mit 6 cm hoher Kante, auf die Bodenindikatoren hinführen; Rollstuhlnutzern wird daneben eine kantenlose Überfahrt vom Gehweg zur Straße (und umgekehrt) angeboten.(2)
Zwar wird diese "Nullabsenkung" für blinde Menschen mit einem so genannten "Sperrfeld" aus Bodenindikatoren abgesichert. Dieses Sperrfeld kann aber z. B. bei Streusplitt oder Herbstlaub mit dem Blindenstock oft nicht mehr erkannt werden. Wichtig ist es daher, dass der pendelnde Stock vorn an der Straße links oder rechts direkt neben der Nullabsenkung noch den Bordstein wahrnimmt. Die "Nullabsenkung" muss daher - mit Rücksicht auf blinde Menschen - so schmal wie möglich sein. In den Normen wurde aus diesem Grund die Breite auf "in der Regel 90 cm bis 100 cm"(3) bzw. "grundsätzlich auf eine Breite von 1,00 m"(4)begrenzt.
Aktionen der "Rollstuhlaktivisten"
Es ist notwendig, hier einige Jahrzehnte zurückzublicken. Bis Ende der 60er-Jahre hatten die Gehwege in Deutschland ziemlich konsequent ca. 12 cm hohe Bordsteine. Deshalb sah man damals keine Menschen im Rollstuhl, die allein unterwegs waren. Es war eine Gruppe aktiver Menschen im Rollstuhl, die erreichten, dass Bordsteine an Fußgängerquerungsstellen auf 3 cm abgesenkt wurden.(5) Für blinde Menschen, für die in jenen Jahren das "Mobilitätstraining" an den deutschen Blindenschulen begann, war diese Höhe zwar nicht optimal, aber gerade noch zu akzeptieren - bis heute spricht man vom "3-cm-Kompromiss".
In den 80er-Jahren machten Menschen im Rollstuhl durch spektakuläre Aktionen auf die Problematik behinderter Menschen aufmerksam.(6) Dabei ging es primär darum, die Forderung von §1 GG in die Realität umzusetzen: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."
Der Kampf um die Breite der Nullabsenkung in den Normen
Was gegenwärtig im Hinblick auf die "Nullabsenkungs-Problematik" zu beobachten ist, unterscheidet sich jedoch grundlegend von derartigen Aktivitäten.
In der wichtigsten Norm für den öffentlichen Verkehrs- und Freiraum, die gegenwärtig novelliert wird (DIN 18040-3), ist zu dem "auf Fahrbahnniveau abgesenkten Bord für Rollstuhl- und Rollatornutzer (Nullabsenkung)" festgehalten:
"Dieser Bord muss grundsätzlich auf eine Breite von 1,00 m begrenzt ... werden."(7)
Und eine andere Norm erläuterte dies:
"Bordabsenkungen bis auf Fahrbahnniveau, die breiter sind als 1 m, können eine Gefährdung für blinde und sehbehinderte Menschen darstellen: Es besteht die Gefahr, dass die Trennlinie zwischen sicherem Gehweg und Fahrbahn mit dem Langstock und/oder den Füßen nicht ausreichend eindeutig wahrnehmbar ist und sie unbeabsichtigt auf die Fahrbahn geraten."(8)
Im Entwurf für die Novellierung der DIN 18040-3 steht nun anstelle der bisher geforderten Breite von 1 m:
"Dieser Bereich sollte eine Breite von 1,80 m haben, um Begegnung zu ermöglichen."
Dies bedeutet: Wenn ein Mensch im Rollstuhl vom Gehweg auf die Straße fahren möchte und gleichzeitig ein anderer Mensch z. B. mit Rollator oder Kinderwagen von der Straße auf den Gehweg, muss die Nullabsenkung so breit sein, dass die Begegnung genau auf dieser Engstelle problemlos möglich ist.
Ist für diese seltenen Fälle eine Verbreiterung der Nullabsenkung gerechtfertigt? Mehr als 40 blinde Menschen haben sich mit einem Einspruch dagegen gewehrt, da diese breite Lücke im Bordstein für ihren Personenkreis eine schwerwiegende Verschlechterung der Norm darstellt. Mehr als 50 Rehabilitationslehrer, die in tausenden Unterrichtsstunden mehrere hundert blinde Menschen im öffentlichen Verkehrsraum trainiert haben, haben sich an das DIN gewandt und die Befürchtungen der blinden Menschen bestätigt: Bereits die sichere Bewältigung der ein Meter breiten Rollstuhlrampen stellt für blinde Menschen eine Herausforderung dar, die aber nach Aussage der Rehabilitationslehrkräfte leistbar ist. Wenn ein blinder Mensch jedoch versehentlich in eine wesentlich verbreiterte Nullabsenkung gerät, ist die Gefahr unverhältnismäßig größer, dass er auf die Straße und in den Fahrzeugverkehr gerät. Rehabilitationslehrkräfte haben in ihrem Schreiben die Sorge geäußert, dass "schwere bzw. tödliche Körperverletzungen" die Folge wären, würde sich jene Normänderung durchsetzen.
Eine ministerielle Broschüre als Mittel des Kampfes
Verschärft wird diese Auseinandersetzung der unterschiedlichen Gruppen von Menschen mit Behinderung durch eine Broschüre des hessischen Ministeriums für Verkehr mit dem Titel: "Musterzeichnungen für Barrierefreiheit im öffentlichen Straßenraum".(9) Der Text, der auch von blinden Menschen durchgesehen worden war, entspricht weitgehend den aktuellen Normen. Die Zeichnungen widersprachen diesen aber zum Zeitpunkt der Veröffentlichung gravierend und widersprechen ihnen z. T. noch immer: Die Nullabsenkungen vor Fußgängerüberwegen sind - statt 90 bis 100 cm - hier 1,80 m breit gezeichnet, z. T. noch breiter. Die Nullabsenkungen haben außerdem keinen kontrastreichen Begleitstreifen, obwohl die Norm eindeutig feststellt:
"Ist kein ausreichender Leuchtdichtekontrast zwischen Bodenindikatoren und dem angrenzenden Bodenbelag vorhanden, sind Begleitstreifen erforderlich, damit auch sehbehinderte Personen Bodenindikatoren zur Orientierung nutzen können."(10)
Für ausnahmsweise verbreiterte Nullabsenkungen fordert die noch nicht novellierte Norm 90 cm tiefe Sperrfelder. In den "Musterzeichnungen" wird dagegen eine Breite von nur 60 cm gezeichnet. Dies war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung normwidrig, wurde allerdings 2023 normgerecht - durch ein unübliches Verfahren, das man als trickreich bezeichnen könnte: Der Öffentlichkeit wurde ein Änderungsvorschlag der DIN 32984 zur kritischen Durchsicht vorgelegt.(11) Nicht enthalten war darin der Satz:
"Bei Gehwegen unter 300 cm Breite kann das Sperrfeld auf 60 cm reduziert werden."
Dieser - für blinde Menschen negative -Aspekt wurde nach Abschluss des Einspruchverfahrens, ohne dass dagegen ein Einspruch möglich gewesen wäre, in die Norm eingefügt ...
Achtmal steht der folgende Satz neben den betr. Zeichnungen:
"Die Breite der Nullabsenkung ist gemäß DIN EN 17210 = 1,80 m".(12)
Diese Aussage bezieht sich auf den folgenden Abschnitt jener "Europanorm":
"Fußgängerüberquerungen sollten eine ausreichende Breite aufweisen, die es Personen mit fahrbaren Mobilitätshilfen erlaubt, die Fahrbahn nebeneinander zu überqueren oder sich auf einfache und sichere Weise in einer angemessenen Zeit und ohne unnötige Verzögerung oder gegenseitige Behinderung aneinander vorbeizubewegen."(13)
Der erste Teilsatz betont, dass es für Menschen im Rollstuhl möglich sein muss, nebeneinander die "Fahrbahn" zu überqueren. Die "Fahrbahn" endet aber am Bordstein - die Nullabsenkung liegt außerhalb davon und gehört nicht mehr zur Fahrbahn, ist von dieser Aussage also nicht betroffen! Der zweite Teilsatz spricht von "unnötiger Verzögerung". Wenn es um Lebensgefahr für blinde Menschen geht, kann ein Zeitaufwand von einigen Sekunden nicht als "Verzögerung", schon gar nicht als "unnötige Verzögerung" bezeichnet werden, sondern entspricht dem Gebot der Rücksichtnahme der Straßenverkehrs-Ordnung:
"Wer am Verkehr teilnimmt, hat sich so zu verhalten, dass kein Anderer geschädigt (oder) gefährdet ... wird".(14)
Der achtfach zitierte Satz neben den Zeichnungen muss daher als schwerwiegende Fehlinterpretation des Normtextes bezeichnet werden.
Viele blinde Menschen und Rehabilitationslehrer haben sich bereits an das hessische Ministerium gewandt und dringend darum gebeten, dass jene höchst problematischen "Musterzeichnungen für Barrierefreiheit" zurückgezogen und überarbeitet werden. Bisher ist jedoch keine Bereitschaft dazu zu erkennen.
Nochmals verschärft sich die Situation dadurch, dass nun bereits zum zweiten Mal ein Webinar zum Thema "Barrierefreies Planen und Bauen im Öffentlichen Raum" mit einem Bild aus den hessischen "Musterzeichnungen" (S. 31) beworben wird.(15) Dieses zeigt eine Nullabsenkung von (a) ca. 2,40 m Breite (Norm: 1 m) mit einem Sperrfeld von (b) nur 60 cm Tiefe (Norm: 90 cm), ohne den von der Norm vorgeschriebenen (c) kontrastreichen Begleitstreifen am Sperrfeld. "Bundesweit" sollen u. a. kommunale Behörden, Beauftragte für Menschen mit Behinderungen, Bau- und Planungsämter lernen, wie in Zukunft "barrierefrei" zu bauen ist: Für Menschen im Rollstuhl und mit Rollator einfacher und bequemer, für kleine Kinder, vor allem aber für blinde Menschen gefährlicher als bisher.
Aspekte der Taktik
Natürlich gibt es behinderte Menschen, die Unglaubliches leisten. Das sind einerseits jene Rollstuhlartisten, die noch Bordsteine von mehr als 10 cm Höhe bewältigen können. Das sind andererseits blinde Menschen, die mit Hilfe eines Sehrests noch Straßenmarkierungen erkennen und nutzen können - oder die eine phänomenale Orientierungsfähigkeit besitzen.
Bei den aktuellen Barrierefrei-Überlegungen orientiert man sich im Hinblick auf Rollstuhl- und Rollatornutzer an den "Schwächsten" (die bereits bei minimalen Schwellen Probleme haben), bei blinden Menschen dagegen an den "Stärksten", den "Supermobilen" (die nahezu Unmögliches noch bewältigen können). Aus dieser Verzerrung erwächst jener "Kampf" von behinderten Menschen gegen behinderte Menschen. Er muss als tragisch, aber auch als unwürdig bezeichnet werden.
Zur Erinnerung: Artikel 3 des Grundgesetzes stellt fest:
"Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden."
Wenn es um barrierefreie Gestaltung des öffentlichen Raumes geht, haben Bauämter und Straßenbauingenieure die Verpflichtung, das Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme zu beachten!
Anmerkungen
(1) Böhringer, Dietmar: Bordsteine - wichtig für kleine Kinder, https://www.boehri.de/dietmar_boehringer/
(2) Böhringer, Dietmar: "Gesicherte Nullabsenkungen": Für blinde Menschen gefährlich - gerade noch brauchbar - oder eine gute Lösung? https://www.boehri.de/dietmar_boehringer/publications/2007_Gesicherte%20Nullabs_brauchbar-oder-gefaehrlich.pdf zurück zum Text
(3) DIN 32984:2020-12, Bodenindikatoren im öffentlichen Raum, 5.3.2.2, Bild 12 zurück zum Text
(4) DIN 18040-3:2014-12, Barrierefreies Bauen - Planungsgrundlagen - Teil 3: Öffentlicher Verkehrs- und Freiraum, 5.3.2.1 zurück zum Text
(5) DIN 18024:1974; Bauliche Maßnahmen für Behinderte und alte Menschen im öffentlichen Bereich, Planungsgrundlagen, Straßen, Plätze und Wege; 2.2: "Nach Möglichkeit" soll eine Absenkung der Bordsteine auf 3 cm vorgenommen werden. DIN 18024-1:1998, Barrierefreies Bauen, Teil 1: Straßen, Plätze, Wege, öffentliche Verkehrs- und Grünanlagen sowie Spielplätze, Planungsgrundlagen; 10.1: "Borde müssen ... auf eine Höhe von 3 cm abgesenkt sein." zurück zum Text
(6) https://kobinet-nachrichten.org/2021/02/18/heute-vor-40-jahren-hungerstreik-in-bremen/ Franz Christoph: Krüppelschläge, Gegen die Gewalt der Menschlichkeit, Hamburg 1983, https://archiv-behindertenbewegung.org/media/23_krueppelschlaege.pdf ..., S. 21 ff. zurück zum Text
(7) DIN 18040-3:2014-12, Barrierefreies Bauen - Planungsgrundlagen - Teil 3: Öffentlicher Verkehrs- und Freiraum, 5.3.2.1 zurück zum Text
(8) DIN 32984:2011-10, Bodenindikatoren im öffentlichen Raum, 5.3.3 zurück zum Text
(9) ANLAGE 10 - Musterzeichnungen für Barrierefreiheit im öffentlichen Straßenraum und der Einsatz von taktilen Elementen im Fuß- und Radverkehr, Wiesbaden 2022 zurück zum Text
(10) DIN 32984:2023-04, Bodenindikatoren im öffentlichen Raum, 4.3.3.1 zurück zum Text
(11) Manuskript DIN 32984:2020-12/A1:2022-06 - für Entwurfsumfrage zurück zum Text
(12) ANLAGE 10 - Musterzeichnungen für Barrierefreiheit ..., S. 28, 30, 31, 36, 41, 43-45 zurück zum Text
(13) DIN EN 17210:2021-08, Barrierefreiheit und Nutzbarkeit der gebauten Umwelt - Funktionale Anforderungen; 7.3.4 zurück zum Text
(14) Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) § 1 (2) zurück zum Text
(15) https://nullbarriere.de/weiterbildung/webinar-verkehrsraum.htm zurück zum Text