Ich fühle mich eigentlich im Großen und Ganzen nicht einsam, aber mir ist aufgefallen, dass ich kaum Hobbys habe und nur wenige sehende Bekannte. Ich habe mich gefragt, woran das liegt.

Ansprechhemmung

Sehende Menschen schauen sich erstmal um, bevor sie jemanden ansprechen. Sieht sie oder er nett aus? Wünscht sie oder er eine Kontaktaufnahme? Wenn blinde oder sehbehinderte Menschen jemanden ansprechen möchten, können sie sich kein Bild vom Gegenüber machen. Sie müssen einfach loslegen und warten, was passiert. Ich möchte nicht stören, möchte niemanden ansprechen, die oder der gar kein Gespräch wünscht. Bislang empfand ich meine Denkweise als normal. Doch kürzlich nahm ich an einem Seminar der DVBS-Fachgruppe "Soziale Berufe und Psychologie" teil. Da erfuhr ich, sowohl vom Seminarleiter als auch von anderen Teilnehmenden, dass sie Gespräche mit Fremden als sehr bereichernd erleben, dass sie es als gar nicht aufdringlich empfinden, Andere in ein Gespräch zu verwickeln, sondern als etwas völlig Selbstverständliches, und sie merken anhand der Reaktion der angesprochenen Person (antwortet sie einsilbig oder geht sie auf das Gespräch ein?), ob sie an einem Austausch interessiert ist oder nicht. Auf diese Weise sind sogar neue Freundschaften entstanden. Ich muss meine Einstellung also vielleicht überdenken.

Eisschmelzen

In einer größeren runde von sehenden Menschen herrscht zunächst große Unsicherheit, wenn eine blinde Person dazukommt. Die Leute wissen oft nicht, wie man ohne Augenkontakt ein Gespräch beginnt, worüber man mit blinden Menschen sprechen kann usw. Es gibt blinde Personen - und natürlich auch Sehende -, denen es spielendleicht fällt, das Eis zum Schmelzen zu bringen, die durch ihre Offenheit, Herzlichkeit, ihren Witz und Charme, fesselnde Geschichten u. ä. alle Leute für sich einnehmen können. Ich bin Menschen gegenüber, die ich nicht gut kenne, eher schüchtern und zurückhaltend. Ich brauche ein Weilchen, bevor ich Zutrauen fasse und mich öffne. Deshalb habe ich Mühe damit, das Eis zu schmelzen. Es strengt mich an.

Der "Ich-bin-viel-zu-langsam"-Gedanke

Ich hab' mal mit dem Gedanken gespielt, an der Volkshochschule einen Indisch-Kochkurs zu besuchen, ihn aber schnell wieder verworfen. Ich hatte die Befürchtung, dass sich alle, außer mir, schnell in der Küche zurechtfinden, sich Fleisch, Gewürze, Obst und Gemüse schnappen und mit der Arbeit beginnen würden, während ich noch darüber nachdenke, wo denn nochmal die Schneidebrettchen liegen. Bis ich überhaupt angefangen hätte, wären alle schon längst fertig. Also habe ich keinen Indisch-Kochkurs an der Volkshochschule begonnen.

"Ich kann das! Ich kann das wirklich! So glaubt mir doch!"

Ich wandere gern und habe überlegt, einem Wanderverein beizutreten. Aber dann stellte ich mir vor, wie den Leuten die Gesichtszüge entgleisen würden, wenn ich auftauchen würde. Wie sie sich fragen würden: "Wie soll das denn mit ihr gehen?" "Die wird bestimmt über alle Wurzeln und in alle Erdlöcher stolpern und gaaanz langsam gehen!" "Was machen wir, wenn sie einen Abhang herunterfällt?" Ich müsste allen zeigen, dass ich ganz gut allein oder am Arm laufen kann, und wehe, ich komme doch mal ins Stolpern .... Ich würde mich unwillkommen und beobachtet fühlen. Ich hätte die Befürchtung, hinzufallen oder ins Straucheln zu geraten, weil dies Wasser auf die Mühlen derjenigen wäre, die der festen Meinung sind, dass blinde Menschen sich nicht gut in Feld und Wald fortbewegen können. Deshalb bin ich bislang noch keinem Wanderverein beigetreten.

Anderen lästig sein

Ein Whiskey-Händler bietet neben vielen köstlichen Whiskeys auch manchmal für seine Kund*innen Reisen zu den Destillerien nach Irland oder Schottland an. Ich habe ganz kurz darüber nachgedacht, an einer solchen Reise teilzunehmen. Aber dann machte ich mir Sorgen, dass mich die anderen Reisegäste oder der Reiseleiter die ganze Zeit führen müssten, dass ich sie darum bitten müsste, falls wir häufig die Unterkunft wechseln würden, mich von und zu meinem Zimmer oder zum Speisesaal zu begleiten und mich am Buffet zu unterstützen. Das wäre für die anderen Teilnehmenden der Reise eine ganz schöne Belastung und für mich keine Entspannung. Also buchte ich die Reise nicht.

Der "Ich kann nichts beitragen"-Gedanke

Ich habe die Leute beneidet, die sich nach der Flut im Ahrtal einfach so auf den Weg gemacht haben, um den Menschen in Not zu helfen. Ich finde auch die Arbeit der Seenotrettung großartig, die geflüchteten Personen das Leben rettet. Dann werde ich traurig, weil ich auch gerne mit anpacken würde, es aber nicht kann. Aber es geht auch eine Nummer kleiner. Ich bin Mitglied im Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland. Ich würde mich sehr gern dort engagieren, aber dann denke ich: Ich kann keine Vögel beobachten, keine Fledermaushäuschen aufhängen, keine Führungen für Kinder durch die Natur anbieten. Also bin ich seit Jahrzehnten passives Mitglied.

Barrieren im Kopf abbauen

Manche von Ihnen und Euch, liebe Leserinnen und Leser, wird meine Einstellung sicher in den Wahnsinn treiben. Wie kann man nur so negativ, passiv und pessimistisch sein? Aber genau das sind einige der Fallen, in die Menschen tappen, die sich nicht trauen, ihre Hobbys zu verwirklichen oder neue Beziehungen zu knüpfen. Ich werde von Gedanken geleitet, die destruktiv sind, die ich mir erstmal bewusst machen musste und gegen die ich - und das ist der schwerste Teil - andenken muss. Hinzu kommen noch andere Faktoren, die zwar nichts mit der Blindheit zu tun haben, die aber trotzdem wirksam sind. Ich bin von Natur aus eher inaktiv, neige dazu, mich zurückzuziehen und mit den Ohren oder den Händen zu lesen, Podcasts zu genießen. Daher bin ich Freundinnen und Freunden und dem Verein dankbar, die mich aus meinem Nichts-tun herausholen.

Nicht nur ich, meine gesamte Familie ist nicht so gesellig. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie mein Vater, als ich noch klein war, mich bei meinen Freundinnen abgeliefert hatte. Die Eltern der Freundinnen hätten gerne einen Kaffee mit ihm getrunken und sich mit ihm unterhalten, aber mein Vater ist immer ganz schnell "geflüchtet", weil er nicht stören wollte.

Um also ein geselliges und abwechslungsreiches Leben zu führen, müssen nicht nur die anderen, sondern muss auch man selbst die Barrieren im Kopf abbauen und, wie das immer so ist, manche haben überhaupt keine Mühe damit, andere müssen hart dafür an sich selbst arbeiten.

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