Die Vorgeschichte
Schon seit mehr als 25 Jahren beschäftigt sich der DVBS in Aufsätzen, Projekten, Fachtagungen und Stellungnahmen mit dem Thema digitale Barrierefreiheit. Als Beispiele unter anderen seien nur die Fachtagung zum 100-jährigen Jubiläum des DVBS von 2016 und die 2018 in Berlin durchgeführte Veranstaltung zur Umsetzung der EU-Richtlinie zu barrierefreien Webseiten und mobilen Anwendungen genannt.
Dabei ging und geht es immer um eine klassische Querschnittsaufgabe, die sämtliche Fach- und Bezirksgruppen unseres Vereins und unsere Mitglieder in ganz verschiedenen Ausprägungen erfasst, schreitet die Digitalisierung doch in ungeheurem Tempo fort und stellt uns immer wieder vor neue Herausforderungen, teilweise charakterisiert mit der Redensart von der Angst vor dem Update.
Da war es nicht ganz fernliegend, ab 2019 eine Arbeitsgruppe einzurichten, die sich dem Thema digitale Barrierefreiheit und seiner bestmöglichen Verankerung in unserem Verein konzentriert widmen sollte. Verschiedene Personen aus unterschiedlichen Bereichen trafen sich hier, diskutierten diesen Themenkreis und stellten als erstes Ergebnis 2021 einen Zoom-Workshop auf die Beine, bei dem es um die Frage ging, wie man richtig Barrieren melden kann (siehe Boysen in: horus 3/21).
Im Anschluss hieran wuchs die Erkenntnis, die jetzt vorhandenen Möglichkeiten unserer Satzung zur Gründung von Interessengruppen zu nutzen, um hier eine bessere und kontinuierlichere Vernetzung zu erreichen. Im November 2022 wurde die Interessengruppe Digitale Barrierefreiheit dann vom Arbeitsausschuss des Vereins als weitere Vereinsgliederung anerkannt mit der Folge, dass sie nunmehr Sitz und Stimme im Arbeitsausschuss hat, eine Mailingliste besitzt und Mitglieder aufnehmen kann (dazu Boysen, horus 1/23), von denen es derzeit 53 gibt.
Themen des ersten Workshops der IG Digitale Barrierefreiheit
Konsequenterweise trafen sich am Wochenende des 17. und 18. Februar 2024 35 Teilnehmende in Marburg zum ersten Workshop der IG, der verschiedene Aspekte rund um das Thema behandelte.
Im ersten Themenblock gab Andreas Carstens (Richter am Finanzgericht Hannover) einen Überblick über die vorhandenen gesetzlichen Regelungen in Bund und Ländern. Zentral sind hier Vorschriften in den jeweiligen Behindertengleichstellungsgesetzen zu den Anforderungen an Barrierefreiheit für die sog. öffentlichen Stellen, aber auch Normen, die sie verpflichten, ihre elektronische Vorgangsbearbeitung und Aktenführung barrierefrei zu gestalten (für den Bund § 12a Abs. 1 des BGG). Hinzu kommen zahlreiche Normen in verschiedensten Gesetzen und Verordnungen, die teilweise unterschiedlich ausgestaltet sind (zum Ganzen auch Carstens in horus 3/22).
In Themenblock zwei referierte Oliver Nadig (Dipl.-Psych. und Mitglied im Leitungsteam der Fachgruppe MINT im DVBS) über Standards zur Schaffung und Gewährleistung digitaler Barrierefreiheit und ging dabei ausführlich auf die vorhandenen Regelwerke (Stichworte: BITV 2.0, WCAG 2.2 und DIN EN 301 549) ein. Letztere Norm befasst sich mit "Barrierefreiheitsanforderungen zu IT-produkten und -Dienstleistungen". Dies ist der einzige für die BITV 2.0 rechtlich verbindliche Kriterienkatalog. Bei der Erläuterung der vier grundlegenden Barrierefreiheitsmerkmale Wahrnehmbarkeit, Bedienbarkeit, Verständlichkeit und Robustheit hob Nadig das sonst oft nur kurz gestreifte Prinzip "Robustheit" hervor. Er betonte: Wenn beispielsweise eine Webseite nur in einer ganz speziellen Kombination aus Screenreader, Browser und Betriebssystem von Menschen mit Blindheit genutzt werden kann, so ist Robustheit nicht gegeben, was durchaus als Barriere gemeldet werden kann.
In Themenblock 3 widmeten sich Ursula Weber (beschäftigt bei der BA) und Alexander Pfingstl (Mitarbeiter der "Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik", kurz: BFIT-Bund) Fragen des Vergaberechts, dem gerade bei neu zu beschaffender Software eine Schlüsselrolle zukommt, wenn es um die Barrierefreiheit der Produkte geht. Thema war hier auch die Möglichkeit der Einleitung von Schlichtungsverfahren über die dafür zuständige Schlichtungsstelle. Dazu Pfingstl: "Solche Verfahren sind sinnvoll, sie lösen nicht akute Probleme, helfen aber, Probleme mittelfristig zu lösen und sind damit empfehlenswert."
Der Sonntag gehörte zunächst in Themenblock 4 dem Konzept des agilen Arbeitens, das neue Herausforderungen an die Entwickler von IT-Produkten stellt und jedenfalls zum Teil auch eine Chance ist, Barrierefreiheit von Anfang bis Ende im Entwicklungsprozess zu verankern und so kontinuierlich auf ihn Einfluss zu nehmen. Das bringt zwar erhebliche Herausforderungen für Betroffene im Hinblick auf ihre Flexibilität mit sich, wird aber gleichwohl von Pfingstl als eine Chance zur besseren Verankerung digitaler Barrierefreiheit gesehen.
Vereinsinterna
Danach galt es, eine Leitung der IG zu bestimmen. Die Anwesenden einigten sich auf Bianca Kronhardt aus Bielefeld als IG-Leiterin sowie Dr. Andreas Wagner, Ursula Weber, Martin Falge, Wencke Schönmetzler und Philipp Fischer als weitere Mitglieder des Leitungsteams. Daneben bestand Einigkeit, die kleine Steuerungsgruppe, ergänzt um die Mitglieder des Leitungsteams, weiter als Ideenproduzentin und Informationsplattform bestehen zu lassen.
Workshopauswertung und Ausblick
In der sich anschließenden Auswertung des Workshops wurde deutlich, wie notwendig die Bündelung unserer Erfahrungen auf diesem alle Lebensbereiche erfassenden Gebiet ist, wenngleich für die Teilnehmenden die mit der IT verbundenen beruflichen Herausforderungen eindeutig im Vordergrund standen.
Eine ganze Reihe weiterer Themen drängt sich für die zukünftige Arbeit der IG auf: Zu nennen sind:
- die Rolle der Schwerbehindertenvertretung bei der Durchsetzung digitaler Barrierefreiheit,
- Möglichkeiten der Einflussnahme auf Ausschreibungsverfahren
- Auswirkungen des 2025 Inkrafttretenden Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes, BFSG (zu ihm auch die Resolution der DVBS-Mitgliederversammlung in horus 3/23),
- denkbarer Einfluss der KI auf digitale Barrierefreiheit,
- Barrierefreiheit der neuen digitalen Gesundheitsleistungen sowie
- Folgen einer ausgeweiteten Anwendung von open-source-Software auf unser berufliches Fortkommen,
um nur die derzeit wichtigsten Entwicklungen zu benennen. Man sieht: An für uns relevanten Themen besteht wahrlich kein Mangel.
Mit Erfahrungsaustausch, Solidarität und Ideen sollte es uns auch als kleiner Gruppe von Menschen mit Seheinschränkungen gelingen, unsere Bedürfnisse und Ansprüche an die Zugänglichkeit und Nutzbarkeit von IT-Anwendungen wirksam zu vertreten, auch wenn uns allen die damit verbundenen Schwierigkeiten bewusst sind.
Kontakt
Leitungsteam IG Digitale Barrierefreiheit
E-Mail: Leitung-dgbf@dvbs-online.de