Von Savo Ivanic (agnes@work)
Otfrid Altfeld ist Leiter des Zentrums für berufliche Bildung und Ressortleiter focus arbeit - Zentrum für Ausbildung, Umschulung und Arbeitsmarktintegration - der Deutschen Blindenstudienanstalt (blista) in Marburg. agnes@work sprach mit ihm über das Thema agile Arbeit und ihre Auswirkungen auf Beschäftigte mit Seheinschränkung.
Herr Altfeld, der Begriff "agile Arbeit" findet immer größere Verbreitung. Was versteht man darunter?
Unter agiler Arbeit versteht man die Realisierung von Zielen mit nicht von vornherein vorgegebenen Realisierungspfaden. Wechselnde Anforderungen der Kund*innen oder anderer Interessengruppen werden in den laufenden Zielerreichungsprozess eingebaut. Entscheidungen im operativen Prozess werden nicht mehr nur top-down - also von oben nach unten -, sondern auf der operativen Ebene, beispielsweise im Team, getroffen, um die Reaktionsfähigkeit und Flexibilität zu verbessern und den "Flaschenhals" Leitung zu entschärfen. Leitungsfunktionen werden weniger hierarchisch als unterstützend definiert. Leitende wechseln die Rollen von der anweisenden und kontrollierenden Person zur ermöglichenden Person, die die Produktivität des Teams unterstützt.
Was wird damit bezweckt?
Eine bessere Kundenorientierung, bessere Qualität der Produkte, eine höhere Flexibilität der Prozesse sowie Motivation, Identifikation und damit Produktivität der Mitarbeitenden.
Wie sehen die Folgen aus?
Es gibt weniger Routine, weniger vorstrukturierte Abläufe. Arbeit ist weniger ablauf- als zielorientiert ausgerichtet, das Arbeitsergebnis dominiert die Definition der Arbeit zunehmend im Vergleich zur Arbeitszeit.
Welche Risiken bestehen dabei?
Arbeitnehmer*innen werden zunehmend zu "Solution-Workers", die ein Ziel selbst- und teamverantwortlich verfolgen. Arbeit wird mehr ergebnisorientiert als zeitorientiert wahrgenommen. Das kann den Erfolgsdruck erhöhen.
Agiles Arbeiten setzt stark auf visuelle Darstellungen und Werkzeuge, die meist nicht barrierefrei nutzbar sind. Wie können Beschäftigte mit Seheinschränkung dennoch mithalten?
Visualisierung ist kein Privileg agiler Arbeitsweisen und kommt bereits seit längerer Zeit im klassischen, nicht-agilen Projektmanagement und in der Prozessorganisation in Unternehmen vor. Das Thema ist also nicht neu.
Burn-Down-Charts und Kanban-Boards als berühmte Beispiele für agile Tools sind analoge oder digitale Werkzeuge, die bei der Arbeit unterstützen und die Zusammenarbeit organisieren. Leider sind sie nur selten barrierefrei entwickelt. Eine barrierefreie Umsetzung ist aber oft nicht problemlos möglich, weil sie nur selten als Stand-Alone-Software eingesetzt werden, sondern in agile Software oder komplexe Projektmanagement- oder Enterprise-Resource-Planning-Systeme (ERP) wie SAP eingebettet sind.
Wie kann eine Lösung aussehen?
Der Königsweg ist natürlich der Einsatz oder die Entwicklung barrierefreier Systeme, was nur selten rasch gelingen wird. Alternativ kann intensive Kommunikation mit den sehenden Kolleg*innen oder der Einsatz einer Arbeitsplatzassistenz Informationslücken überbrücken. Natürlich kann das zu informellen Abhängigkeiten führen, denen Sehende nicht oder in geringerem Maße ausgesetzt sind. Zugleich sind damit hohe Anforderungen an die von Blindheit oder Sehbehinderung betroffenen Mitarbeiter*innen hinsichtlich ihrer kommunikativen Kompetenzen oder Führungskompetenzen - etwa beim Einsatz einer Arbeitsplatzassistenz - gefragt.
Aber: Konsequentes Durchführen agiler Konzepte führt fast immer zu einem verbesserten Informationsaustausch, zum Beispiel in täglichen Scrum-Meetings. Nach unserer Erfahrung kann so ein erheblicher Teil der benötigten Informationen barrierefrei bereitgestellt werden.
Und zuletzt: Rückmeldungen unserer Partner haben uns ein wenig überrascht. Die Einbindung von Mitarbeiter*innen mit Seheinschränkung hat etwa dazu geführt, dass Team-Meetings neu konzipiert wurden und man zum Beispiel auf PowerPoint-Präsentationen verzichtet, was auch von sehenden Kolleginnen und Kollegen als Fortschritt wahrgenommen wurde. Die Schaffung inklusiver Arbeitsbedingungen hat hier tatsächlich für alle Beteiligten zu einer Verbesserung der Prozesse geführt.
Wie behandelt die blista das Thema agile Arbeit in ihrer Aus- und Weiterbildung?
Wir bilden nach den Konzepten von Scrum und eduScrum aus. Das sind agile Methoden für die Produktentwicklung und den Kompetenzerwerb. Damit fördern und fordern wir Selbstverantwortung, Bereitschaft zur Kommunikation und Transparenz sowie die Teamkompetenz. Gerade die Schlüsselkompetenzen sind in agilen Umgebungen von überragender Bedeutung und erhalten bei uns eine besondere Aufmerksamkeit. In unserer Übungsfirma com4well, die wir im Jahr 2021 als virtuelles Startup gemeinsam mit den Azubis in den Fachrichtungen E-Commerce und Büromanagement gegründet haben, werden die Kompetenzen dann auf die Probe gestellt.
Wie sieht das konkret aus?
Wir führen klassische betriebliche Prozesse durch, die nicht immer agil sein müssen. Dabei setzen wir visuelle Darstellungen taktil und auditiv um, um inklusive Settings von sehenden Ausbilder*innen und Azubis mit Sehbehinderung oder Blindheit zu schaffen. Wir haben gemeinsam mit Azubis der IT-Berufe ein barrierefreies Kanban-Board entwickelt, das leider noch zu selten operativ eingesetzt wird. Wir entwickeln aktuell einen Virtual-Reality-Raum, in dem visuelle Standards visuell, auditiv und taktil digital hergestellt und nutzbar gemacht werden. So wollen wir eine inklusive Umgebung für die Zusammenarbeit sehender und nicht oder eingeschränkt sehender Kolleg*innen erstellen.
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Eignet sich denn jede Aufgabe für agile Prozesse?
Nein! Trotz des aktuellen Hypes um neue Arbeitsformen: Viele Aufgaben eignen sich nicht für agile Umsetzungsformen. Die meisten Unternehmen arbeiten also nicht ausschließlich agil. Das heißt, die Zusammenarbeit verläuft fast immer zweigleisig: Projekte - Software, Hardware, kaufmännische Entwicklungsprojekte etc. - werden agil durchgeführt. Daneben bleibt aber die klassische nicht-agile Arbeit für den Alltag mitbestimmend. Routine- oder immer wiederkehrende Aufgaben werden außerhalb der agilen Umgebung durchgeführt. Das führt dazu, dass sich die Beschäftigten in beiden Welten auskennen müssen und den Wechsel zwischen den Welten und den damit verbundenen Vorgehensweisen hinbekommen. Dazu gehört auch eine gute Ressourcenplanung, damit die Herausforderungen der einen Tätigkeit nicht negativ auf die andere Tätigkeit wirken. Es geht also um so etwas, das wir als Work-Work-Balance bezeichnen könnten. Außerdem werden die Mitarbeitenden damit konfrontiert, dass sie unterschiedliche Aufgaben mit unterschiedlichen Kolleginnen und Kollegen durchführen. Hier spielt die soziale und vor allem kommunikative Kompetenz eine große Rolle.
Bestehen weitere Herausforderungen?
Eine weitere Herausforderung ist das seit Beginn der Corona-Pandemie als neuer Trend auftauchende Desk-Sharing, das durch den stetigen Wechsel von Präsenz- und Fernarbeit geprägt ist und keine festen Arbeitsplätze mehr kennt. Für Mitarbeitende mit einem hohen Bedarf an Hilfsmitteln ist so etwas natürlich ein Problem. Darauf hat man bei unseren Partnern in der Form reagiert, dass ein bestimmter Anteil der zur Verfügung stehenden Arbeitsplätze mit der erforderlichen Ausstattung versehen und für die Kolleg*innen mit Blindheit oder Sehbehinderung reserviert bleibt.
Bei all dem kann man kritisieren, dass die Kolleginnen und Kollegen mit Sehbeeinträchtigung strukturell nicht so vollständig eingebunden sind wie die sehenden Kolleg*innen und deswegen in einer Sonderstellung verharren. Man kann aber auch positiv bewerten, dass die Organisationen bereit sind, Workarounds, also situativ Lösungen zu entwickeln oder zumindest zuzulassen, die eine produktive Mitarbeit ermöglichen - und das nach unserer Wahrnehmung ziemlich schnell, wertschätzend, kreativ und undogmatisch.
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Wie unterstützt die blista Beschäftigte in agilen Arbeitsprozessen?
Die blista bietet über ihre Beratungs- und Schulungszentren in Marburg und Frankfurt Coachings für Fach- und Führungskräfte mit Blindheit oder Sehbehinderung an, in denen alle Problemstellungen, die mit der konkreten Arbeitssituation verbunden sind, bearbeitet werden können. Das geht von Software-Updates über die Arbeitsorganisation bis hin zur teambezogenen Kommunikation und Karriereplanung. Wir sehen agile Arbeitsprozesse hier als einen Teil der Herausforderung, die die Mitarbeit von Personen mit Sehbeeinträchtigung in Unternehmen mit sich bringt. Grundsätzlich stellen agile Prozesse keine vollkommen neuen Anforderungen an die Mitarbeitenden, sie verschieben aber die Schwerpunkte.
Wir beraten und coachen aber auch Arbeitgeber, Führungskräfte und Teams, um die Zusammenarbeit mit Personen mit Seheinschränkung zu unterstützen, Vorbehalte abzubauen, Chancen zu zeigen und damit die Produktivität divers aufgestellter Arbeitsgruppen zu stärken.
Welche agilen Werkzeuge empfehlen Sie? Welche sind ungeeignet?
Microsoft Teams ist natürlich kein klassisches agiles Werkzeug, repräsentiert aber die am weitesten verbreitete digitale Arbeitsumgebung, die häufig als Kollaborationsplattform in agilen Prozessen eingesetzt wird. Wir setzen es seit Beginn der Pandemie sehr erfolgreich in der Ausbildung und in anderen Angeboten von focus arbeit ein, auch wenn wir seit geraumer Zeit nur noch selten auf Online-Meetings angewiesen sind. MS Teams ist auch für Personen mit Blindheit gut zu bedienen und hat viele Funktionen, die für die Zusammenarbeit sinnvoll genutzt werden können. Hinsichtlich der immer größer werdenden Anzahl von Apps, die im MS Teams-Ökosystem entwickelt werden, fällt es aber schwer, einen Überblick darüber zu bekommen, ob sie barrierefrei sind. Und leider tut sich JAWS offenbar noch immer schwer mit dem in MS Teams integrierten SharePoint, so dass eine gemeinsame Bearbeitung von Office-Dateien für JAWS-Nutzer noch nicht möglich ist.
Gibt es weitere Werkzeuge?
Wir haben für unser agiles Vorgehensmodell Scrum verschiedene Programme und Web-Applikationen mit unterschiedlichem Erfolg getestet, sodass wir zunächst eine Eigenentwicklung vorangetrieben haben, die ein digitales Kanban-Board barrierefrei abbildet. Auf klassische Visualisierungen von Arbeitsfortschritten wie Burn-Down-Charts verzichten wir aktuell aber grundsätzlich.
In einem unserer Evaluierungsprojekte für kommerzielle agile Software schnitt Trello mit Abstand am besten ab, wenngleich hier noch nicht alle Probleme gelöst sind. Andere Tools wie Agilo und Yodiz scheiterten nicht zuletzt wegen der Überfrachtung der grafischen Benutzeroberfläche. Neben bestehenden Barrierefreiheitsproblemen waren sie auch in der Benutzerfreundlichkeit nicht empfehlenswert. Mit Jira haben wir noch keine eigenen Erfahrungen sammeln können, hören aber von Ehemaligen, dass sein Einsatz für Personen mit Sehbeeinträchtigung recht gut funktioniert.
Empfehlen Sie besondere Hilfsmittel bei agilen Prozessen?
Empfehlungen für agile Software für Mitarbeitende mit Seheinschränkung möchte ich hier nicht abgeben, dazu reicht meine Expertise nicht aus. Sehr hilfreich ist die Verwendung von Fibonacci-Zahlen für die Bewertung von Schwierigkeitsgraden der Aufgaben etwa in Scrum. Fibonacci-Zahlen sind jene Zahlenfolge, bei der jede Zahl die Summe der beiden ihr vorangehenden Zahlen darstellt. Das hilft für eine Ersteinschätzung ungemein und bietet eine gute Grundlage für eine Gewichtung der Aufgaben und damit für eine sinnvolle Strukturierung der Prozesse.
Außerdem ist eine barrierefreie, prägnante und verlässliche Dokumentation der Anforderungen und des Arbeitsfortschritts unerlässlich, um zentrale Informationen barrierefrei zur Verfügung zu stellen. Ich empfehle auch hier die Verwendung einer zentralen Applikation wie MS Teams, die Daten und Informationen standortunabhängig - also etwa auch im Homeoffice - zur Verfügung stellt. MS Teams und Trello arbeiten gut zusammen, so dass hier beide Systeme synergetisch genutzt werden können. Bei der Verwendung von cloud-gestützten Systemen wie MS Teams muss jedoch die Kompatibilität mit der Datenschutzgrundverordnung beachtet werden.
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Wie kann ein Projekt wie agnes@work Betroffene und Arbeitgeber beim Thema agile Arbeit unterstützen?
Indem Sie versuchen, Bedenken vor Agilität zu zerstreuen. Agiles Arbeiten kann für die Mitarbeitenden nicht nur mehr Stress bedeuten, sondern vor allem auch mehr Erfüllung durch Verantwortung und mehr Motivation durch den Abschluss von Projekten.
Indem Sie agile Arbeitsweisen praxisbezogen vermitteln. Zielgruppen sollten hier nicht nur die Betroffenen selbst, sondern zugleich auch die Arbeitsplatzassistenzen sein. Hier geht es auch um die Zusammenarbeit im Tandem und um Führungskompetenzen.
Indem Sie Unterstützung bei der Entwicklung kommunikativer Fähigkeiten anbieten.
Indem Sie die Vernetzung der agil Arbeitenden unterstützen. Dazu braucht es kein neues Netzwerk-Tool, sondern es sollten bestehende Angebote wie XING oder LinkedIn genutzt werden, die eine sehr gute Anbindung an andere Netzwerke ermöglichen.
Und indem Sie auf die bestehenden Coaching-Angebote für Beschäftigte und Arbeitgeber hinweisen bzw. sie in Ihre Angebote integrieren.
Herr Altfeld, vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Savo Ivanic, Projekt agnes@work. Es wurde für horus 3/2023 gekürzt und aktualisiert. Die ursprüngliche Version finden Sie auf der Internetseite des Projekts unter https://www.agnes-at-work.de/wissen/hintergrund/interview-agile-arbeit/
Kontakt
agnes@work - Agiles Netzwerk für sehbeeinträchtigte Berufstätige
c/o DVBS e.V.
Frauenbergstraße 8
35039 Marburg
Telefon: 06421 94888-33
E-Mail: agnes@dvbs-online.de
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