Spaziergänge zur Kunst Zur Entwicklung des inklusiven Vermittlungsangebots im Kunstmuseum Marburg

Von Ulrike Schönhagen

Spaziergänge zur Kunst, die sich an Menschen mit und ohne Visus richten, gehören seit einigen Jahren zum Profil der Vermittlungsangebote im Kunstmuseum der Philipps-Universität Marburg. Diese sind Teil einer neuen Öffnung in die Gesellschaft, ermöglicht durch den Leiter des Museums(1), der damit ein zeitgemäßes Selbstverständnis der Aufgaben und Chancen eines Museums verwirklicht. Federführend unterstützt der Verein der Museumsfreunde die Umsetzung des Inklusionsgedankens als Träger des dreijährigen Projekts "Museum für alle - Türen öffnen für Menschen mit Behinderung". Durch eine Kooperation mit der Deutschen Blindenstudienanstalt e. V. (blista) konnten weitere finanzielle und technische Mittel sowie an Personen gebundenes Know-How bereitgestellt werden. Auch im Interesse des schulischen Kunstunterrichts hat die blista das Projekt "Museum für alle" so von Beginn an begleitet und mitgestaltet.

Bis zur ersten Realisierung eines sich an eine weite Öffentlichkeit richtenden Vermittlungsgesprächs, das als Spaziergang zur Kunst verstanden wird, vergingen über fünf Jahre. Zunächst formulierte eine Gruppe von Sachverständigen in eigener Sache inhaltliche und formale Wünsche an das Vorhaben einer inklusiven Kunstpädagogik. Dem Austausch von Erfahrungen mit Angeboten anderer Kunst-Museen/Ausstellungen, die sich an seheingeschränkte und blinde Besucher richten, wurde viel Raum gegeben, dadurch konnte sich die Entwicklungsgruppe gemeinsam auf zentrale Merkmale, den wesentlichen Charakter der zukünftigen Angebote einigen:

Es soll nicht genügen, lediglich taktile Medien interessierten Besuchern bereitzustellen. Im Kunstmuseum Marburg sollen dialogische Annäherungen an einzelne Exponate stattfinden. Geeignete taktile Modelle, die die Vorstellungsbildung unterstützen, sollen von einer Projektgruppe erstellt werden. Mit diesen kann eine erste Perzeption zur Struktur des Objektes entwickelt werden. Die Museumspädagogik trägt weitere die Sinne vielfältig ansprechende, möglichst authentische Materialien zusammen. Sie dienen als Impulse in den sog. Spaziergängen und betten, im Sinne guter Multimedialität, die am abstrahierenden Modell gewonnene Tasterfahrung in ein reichhaltiges Erfahrungsangebot ein. Unterschiedliche Kanäle ermöglichen so eine Vielfalt von Wegen zum Exponat. Im Dialog aller "Spaziergänger" findet der Austausch und die Annäherung an das Werk statt. Die Gesprächsteilnehmer können gemeinsam ihre Vorstellungsbildung überprüfen und sich fundiert über den individuellen Zugang zum künstlerischen Objekt austauschen.

Die Entwicklung der taktilen Modelle durch die Projektgruppe

Lebendige Museumspädagogik lebt von der aktiven Beteiligung aller Besucher eines Angebots. Mit möglichst gleichen Erfahrungschancen zur gleichen Zeit lassen sich spontane Äußerungen von den Beteiligten gewinnbringend verwerten. Erreichbar ist diese Qualität u.a. durch eine gute Ausstattung mit mehreren identischen Modellen und Materialien. Lange, den Fluss des Gesprächs störende Pausen, in denen nach und nach ein Modell in die Hände jedes Besuchers gelangt, stören enorm. Daher muss es ein Ziel sein, in mehrfacher Ausfertigung die notwendigen Modelle bereitzustellen. Die Möglichkeiten der Bearbeitung und Vervielfältigung von Objekten durch moderne 3D-Druckverfahren sind hier das Mittel der Wahl.

Mit großem Engagement und Freude an kreativen Lösungen arbeitet seit vier Jahren eine Expertengruppe "3D-Druck in der Kunstpädagogik" zusammen. In einzelnen Projekten entwickeln die Mitglieder dieser Gruppe Modelle, die die Spaziergänge zur Kunst für blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen am Kunstmuseum Marburg unterstützen.(2)

Ihre gemeinsame Arbeit geht weit über das Institutionelle hinaus, findet in der Freizeit, auch schon mal unter halsbrecherischen Bedingungen statt, wenn im Winterregen auf sechs Metern Höhe ein markantes Teil der Gebäudedekoration eingescannt werden muss.

Die Arbeit der Expertengruppe bestimmt folgende Fragestellungen:

  • Was ist ein geeigneter Gegenstand für die Spaziergänge?
  • Mit welchen Objekten führt sich das Universitätsmuseum als Museum für alle am besten ein?
  • An welches Thema kann mit dem Angebot angeknüpft werden?

Im Stadtbild markant, aber wenig im Bewusstsein vieler Marburger verankert, ist das Gebäude des Kunstmuseums. Prominent für den u.a. regionalen Charakter der Sammlung befindet sich in der Sammlung ein Gemälde - das zentrale Werk der Willingshäuser Künstlerkolonie - Carl Bantzers "Schwälmer Tanz".

Die ersten Spaziergänge haben damit ihr Ziel gefunden. Das kunstpädagogische und technische Experten-Team konnte vor etwa vier Jahren mit der Erarbeitung der Materialien beginnen.

Bei der Entwicklung der bislang erstellten Modelle sind verschiedene Wege beschritten worden:

  • Das Objekt kann direkt eingescannt werden: 
    Dies war möglich bei der erzählerischen Gebäudedekoration, die jedoch nur mithilfe einer Hebebühne s.o. erreicht werden konnte.  Für die Vorbereitung eines weiteren Projektes zu Frauenfiguren der zwanziger Jahre konnten drei weibliche Figurinen der 20er Jahre direkt eingescannt werden. Diese mussten lediglich mithilfe der Restauratorin an einen zum Scan geeigneten Ort verbracht werden.
  • Das Objekt muss am PC modelliert werden: 
    Größere architektonische Objekte, hier handelte es sich um das Gebäude des Kunstmuseums, konnten z.B. nach Plänen am Rechner modelliert werden. In der darauffolgenden Bearbeitung wurden sie den taktilen Anforderungen angepasst und für den 3D-Druck vorbereitet.
  • Das Objekt muss vom Zweidimensionalen ins Dreidimensionale überführt werden: 
    Von dem komplexen Gemälde zum "Schwälmer Tanz" wurden wesentliche Bildelemente der Komposition entsprechend ausgewählt. Mit Hilfe einer plastischen Masse wurden diese auf einem Bildträger von Hand modelliert. Die Bearbeitung erfolgte maßstabsgerecht, aber Details wurden reduziert. Taktile Strukturen verweisen auf unterschiedliche, bedeutungstragende Bildelemente. Zur weiteren Bearbeitung wurde das Relief eingescannt. Alle so entstandenen Scans mussten am Bildschirm weiterbearbeitet werden. Im Hinblick auf eine gute Tastqualität waren die Konturen von Formen zu schärfen, mussten Oberflächen zugunsten einer deutlich differenzierbaren Struktur definiert werden, waren räumliche Vorstellungen der Nutzer durch höhendifferenzierte Ebenen des taktilen Reliefs anzuregen.

Grundsätzlich wurde bei der Erstellung der Tastmodelle beachtet:

  • die Größe des zukünftigen Modells wird im Sinne einer guten Handhabbarkeit gewählt, Vergleiche der Dimensionen sollen möglich sein.
  • Orientierende Kontraste durch unterschiedlich farbige Ligamente berücksichtigen die besonderen Bedürfnisse der Nutzer.
  • Erste Modelle des 3D-Drucks werden von den zukünftigen Nutzern im Hinblick auf taktile und optische Qualität überprüft und gegebenenfalls weiter bearbeitet.

Die Praxis der Spaziergänge im inklusiven Format

Seit etwa zwei Jahren finden regelmäßig die inklusiven Vermittlungen mit verschiedensten Besuchergruppen statt. Dialogische Annäherung an das Werk, multimedialer Einsatz, Barrierefreiheit im weitesten Sinne zeichnen diese "Führungen" aus. Zur Unterstützung wurde ein spezieller Materialwagen entwickelt, angepasst an das Design des "Marburger Zackenstils", der als eine Hands-on-Station fungiert. Die jeweils in Frage kommenden Materialien sind so leicht vor dem Objekt im authentischen Museumsraum an die Besucher zu reichen. Im Interesse einer möglichst parallelen Tast-Erkundung sind die Modelle in ausreichender Stückzahl, meist fünf bis sechs, vorhanden. Die sehenden Besucher unterstützen bei Bedarf die übrigen Teilnehmer, z.B. beim Raumwechsel, dem differenzierten Erarbeiten des Tastmodells, dem Umgang mit den weiteren Materialien. Die Gruppengröße ist auf 12 Teilnehmer begrenzt.

Das Gebäude als erstes Exponat eines inklusiven Spaziergangs

Für einen Einstieg in das Format der inklusiven Spaziergänge bietet sich das Gebäude des Universitätsmuseums für Kunst an. Es ist ein markantes Beispiel der Zwanziger-Jahre-Architektur, in der sich Regionales mit reduzierten neoklassizistischen und modernen, z.B. Art déco-Elementen trifft. In der architektonischen Gestalt, der Gebäudedekoration und in allen Elementen der Innendekoration zeigt sich eine Handschrift. Hubert Lütcke, in seiner Funktion als Leiter des Universitätsbauamtes, entwickelte von der äußeren Baudekoration bis zum Handgriff der Toilettenräume alle gestalterischen Details des 2020 mit dem hessischen Denkmalschutz-Preis geehrten, behutsam sanierten Gebäudes.

Eingeladen unter dem Titel: "Das Kunstgebäude - ein Spaziergang zum Sehen, Tasten und Diskutieren" finden sich regelmäßig Besucher zum Angebot einer inklusiven Kunstvermittlung.

Im Sinne des multimedialen Zugangs stehen die o.g. Modelle des Gebäudes(3), der äußeren, nicht erreichbaren Gebäudedekoration, taktile Pläne zur Raumfunktion des Vier-Flügel-Gebäudes und erzählende Erläuterungen, z.B. zur Konzeption, Gründungsgeschichte, Finanzierung, zur Verfügung.

"Spaziergang", das ist im Rahmen dieser Führung wörtlich zu nehmen. Die Besuchergruppe sucht verschiedene Stationen im Gebäude auf.

Die unterschiedliche Haptik und Gestaltung des Lahnmarmors der Eingangshalle, die markanten Zacken der schmiedeeisernen Außentüren und des Fenstergitters, die erzählerischen Bronze-Figurinen des zentralen Portals, bieten reichhaltigen Anlass zum Austausch über die besonderen Merkmale des Gebäudes. Im Gebäudeinneren, im repräsentativ gestalteten Treppenhaus, lassen sich anhand von Stuckaturen, der Gestaltung der Leuchten und des Handlaufes die dekorativen Elemente wiedererkennen. Im zeitlichen Rahmen des anderthalbstündigen Angebots ist die mögliche Fülle authentischer Tasterfahrungen nur in Ansätzen zu realisieren. Anhand des 3D-Gebäudemodells können die Besucher die Einzelheiten im komplexen Baukörper verorten und das in der Gebäudestruktur erkennbare, ursprüngliche Konzept gemeinsam erarbeiten. Die sich anschließenden Gespräche zeigen, dass mit diesem multimedialen Angebot die Besucher eine gute Vorstellung zum Gesamtkomplex der architektonischen und konzeptionellen Besonderheit des Universitätsmuseums entwickeln.

Herausforderung Malerei

Anderen multimedialen Zugang erleben die Besucher im inklusiven Vermittlungs-Angebot zum "Schwälmer Tanz" von Carl Bantzer. Die Erarbeitung eines Gemäldes stellt alle Beteiligten im Interesse einer gelingenden Inklusion vor besondere Herausforderungen. Neben Informationen zu Bildgegenstand und Komposition gilt es auch Atmosphärisches einzufangen. Multimedialität bedeutet hier ein Ansprechen verschiedener Sinneseindrücke. Über die Vielfalt der Kanäle kann die Imaginationskraft besonders geweckt werden.

Entsprechend sucht die Museumspädagogik den Zugang auch über innere Bilder.

In die Atmosphäre des fern liegenden Geschehens werden die Besucher durch eine Erzählung zum Ereignis "Kirmes in einem Schwälmer Dorf" geführt. Die Imagination der dörflichen Festvorbereitung, zu der das langwierige Anlegen der vielteiligen Bekleidung gehört, eröffnet den Zugang zum Bild mit seinem dynamischen Geschehen. Ergänzend werden den Besuchern einige der im Gemälde erkennbaren Trachtenelemente in die Hand gegeben. Die Haptik des schweren, gewalkten Stoffes, das Gewicht und die Anzahl der Unterröcke, die kostbare Stickerei des Betzels (eines kleinen Trachtenhäubchens) und weitere Materialien, die aus dem Fundus eines Heimatmuseums entnommen sein könnten, sind Teil der konkreteren Annäherung. Die Kleidungsstücke werden herumgereicht, der Rock kann angezogen, in Drehbewegung erfahren werden, der Betzel mit seiner üppigen Schleife aufprobiert. Eine Annäherung an die Positionen der tanzenden Paare im Gemälde ermöglicht ein im 3D-Druck entstandenes Avatar-Paar, das die typische Tanzhaltung zeigt. Mit Schwung haben einzelne Besucher diese vor dem Bild ausprobiert. Die Musik des Schwälmer Tanzes wird eingespielt und die wesentlichen Tanzschritte erläutert. Vorsichtig können die Besucher die drehenden und hüpfenden Schritte nachvollziehen. Es gelingt, die Dynamik des Bildes, die soziale Nähe des Festes erfahrbar zu machen.

Um diese Fülle an realen Einzel-Erfahrungen in die Komposition des Gemäldes einzuordnen, stehen den Besuchern auch hier taktile Modelle zur Verfügung. Die Projektgruppe hat in Rückkopplung mit blinden Probanden eine Form entwickelt, die in der Reduktion auf Wesentliches die Komposition und Textur unterschiedlicher Bildelemente fokussiert. Die Vielfalt der bisher gewonnenen Eindrücke wird in das tastende Erarbeiten des 3D-Druckes eingebunden. Dieser bietet eine gut differenzierende Oberfläche, entstanden durch die digitale Bearbeitung. Angenehme taktile Qualität ermöglicht auch das benutzte Material des gewählten Filaments. Im Gespräch lassen sich die vielfältigen Eindrücke der Besucher sammeln und erlauben eine Imagination der Bildelemente, der Atmosphäre und Dynamik des Gemäldes. Ein Austausch über das Werk, seinen dokumentarischen, sozialen und künstlerischen Charakter gelingt jetzt.

Der zeitliche Rahmen wird meist gesprengt, da sich schnell das Interesse der Teilnehmer an den Unterschieden der Wahrnehmung entwickelt und zu einer vertieften Auseinandersetzung mit der Gestaltung des Bildes, der historischen Einbettung etc. führt.

Ausblick

Die Fördermittel der Aktion Mensch haben die bisherige Arbeit ermöglicht. Anfang des Jahres 2025 läuft das bislang damit finanzierte Projekt zur Entwicklung eines inklusiven Museums in Marburg aus. Noch ist die Weiterfinanzierung ungeklärt.

Die bisherige Erfahrung hat aber gezeigt: Inklusion im Museum wendet sich erfolgreich an alle interessierten Besucherinnen und Besucher und schafft einen Raum für vielfältigen Austausch.

Eine Weiterführung des Projektes im Sinne einer festen Etablierung ist unbedingt wünschenswert.

Zur Autorin

Ulrike Schönhagen unterrichtete 34 Jahre lang Kunst und Deutsch an der Carl-Strehl-Schule in Marburg. Für das Kunstmuseum Marburg engagiert sie sich im Projekt "Inklusion im Museum", unter anderem im Rahmen der Spaziergänge zur Kunst. E-Mail: u.schoenhagen@posteo.de

Bild: Ulrike Schönhagen hat braune Augen und schulterlanges, hellbraun-graues Haar. Sie trägt eine Brille, ein gestreiftes Shirt und eine dunkle Jacke. Foto: privat

Bild: Modell-Relief aus dem Ölgemälde "Schwälmer Tanz" von Carl Bantzer. Rosa getönte plastizierte Figuren bilden die vier tanzenden Paare ab. Das Relief ist auf eine helle Sperrholzplatte aufgezogen und dient als Grundlage für die Weiterbearbeitung im Scan. Foto: Michael Weitzel

Bild: Knut Büttner, Projektmitarbeiter blista, steht hinter der Figurine "Adagio" von Georg Kolbe und scannt sie von oben ein. Violettes Scannerlicht fällt auf das Kunstwerk aus Bronze. Foto: Imogen Grönninger

Anmerkungen

(1) Dr. Christoph Otterbeck; siehe auch: https://www.uni-marburg.de/de/museum/kunstmuseum/museum-fuer-alle (zurück zum Text)

(2) Expertenteam: Kunstvermittlung im Museum (Samira Idrisu), Kunstdidaktik und -Methodik/Schwerpunkt blind-sehbehindert (Ulrike Schönhagen), Entwicklung des Modells (Michael Weitzel, Heekyung Reimann), Programmierung und Durchführung des 3D-Druckes (Knut Büttner; Carsten Reimann)(zurück zum Text)

(3) Da in der Regel blinde Besucher in Begleitung zum Museum kommen, sind zunächst sechs Modelle gedruckt worden. (zurück zum Text)

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