Ein Erfahrungsbericht über die Basisfortbildung zur Orientierung und Mobilität blinder Menschen in Jordanien

Kurz vor den Sommerferien 2023 richtete Dr. Werner Hecker, Leiter der Rehabilitationseinrichtung (RES) der blista, eine überraschende Frage an mich. Ob ich mir vorstellen könne, für zwei Wochen nach Jordanien zu reisen, um dort einen "Crash-Kurs" zur Orientierung und Mobilität (O&M) blinder Menschen durchzuführen. Da musste ich erstmal schlucken. Doch nach wenigen Sekunden sagte ich spontan zu und wollte wissen, wie viel Zeit ich hätte, um mich vorzubereiten. Dr. Hecker antwortete mit verschmitztem Lächeln: "Nicht viel! Der Kurs in der Hauptstadt Amman beginnt am 24. September. Also in ca. zwei Monaten. Ist das zu kurz?" Ich antwortete mit: "Nein, aber ich würde am 22. September fliegen, um mich einen Tag zu akklimatisieren und dort Vorbereitungen treffen zu können". "Das klärst du alles online mit Frau Maisaa Masoud, einer sehr kompetenten und freundlichen Mitarbeiterin des VRC, des Vision-Rehabilitation-Center der 'German-Jordanian-University' (GJU)."

Nach sieben 18-monatigen Lehrgängen für O&M/LPF als Ausbilder in der Rehabilitations-Einrichtung für Sehbehinderte (RES) und einer mehrtägigen Fortbildung für Sabriye Tenberken und ihre tibetischen Mitarbeiter*innen war ich mir zunächst sicher, ein gutes Ausbildungskonzept für nur 10 Arbeitstage entwickeln zu können. "Dann aber, aber, aber!" Ich, als skeptischer Protestant, in einem arabischen Land, mit vom islamischen Glauben geprägten Menschen, die mich gar nicht kennen, die ich gar nicht kenne? Und das alles auch noch auf Englisch?

Neben den sprachlichen wie auch kulturellen Unwägbarkeiten stellte sich mir die Grundsatzfrage: Wie soll ich einen auf nur 10 Tage komprimierten Grundkurs zur O&M sehgeschädigter Menschen mit vier bis sechs Teilnehmer*innen sinnvoll realisieren, wenn in der blista diese Ausbildung neun Monate dauert? Wie soll das gehen, ohne die Kursteilnehmer*innen, ohne mich zu enttäuschen?

Doch nach den ersten beiden Online-Meetings wurde mir klar, was Dr. Hecker meinte, als er von der "sehr kompetenten und freundlichen Mitarbeiterin" vom VCR sprach. In nur fünf Meetings à 60 bis 90 Minuten mit der sehr gut Englisch sprechenden Maisaa Masoud einigten wir uns auf die folgenden inhaltlichen Schwerpunkte für die Praxis und Theorie:

  1. Einführung in die Techniken der Sehenden Begleitung (die Führung Hand und Arm),
  2. Einführung in die Raum- und Gebäudeorientierung,
  3. Demonstration verschiedener Langstocktechniken und mehrfache intensive Übungseinheiten zur Pendelrolltechnik im Hof der GJU,
  4. Einführung in die Orientierung und Mobilität mit dem Langstock in Gebäuden mit mehreren Stockwerken und im Gelände der GJU sowie
  5. Einführung in die Orientierung & Mobilität im weniger sowie im stark vom Verkehr frequentierten Straßenbereich mit dem Ziel der Lokalisierung einer Bushaltestelle.

Kurz vor Abreise stand fest, dass Frau Masoud und vier weitere Teilnehmerinnen den Basiskurs absolvieren werden. Ein männlicher Kollege konnte aus zeitlichen Gründen leider nicht teilnehmen. Aber wie sollte das gehen? Ich, Sehende Begleitung, mit Frauen, die in ihrem Glauben an Allah fest verwurzelt sind? Die keinem fremden Mann auch nur zur Begrüßung kurz die Hand reichen würden. Sehende Begleitung ohne jeglichen "Körperkontakt", nur mit verbaler Vermittlung, in englischer Sprache? Wie sollte das in so kurzer Zeit funktionieren? Für mich undenkbar!

Nachdem am Vormittag des ersten Kurstages die inhaltlichen Schwerpunkte sowie die räumliche und zeitliche Organisation mit je vierstündigen Zeitblöcken am Vor- und Nachmittag besprochen waren, erläuterte ich den fünf den Hijab tragenden Frauen vier Fundamente unserer Zusammenarbeit:

Erstens: wir sollten offen diskutieren, d.h. alle fünf Teilnehmerinnen sollten mich als Lehrer nicht nur fragen, sondern auch hinterfragen und gegensätzliche Auffassungen äußern können, um gegebenenfalls Missverständnisse, aber auch um insbesondere ihre eigenen Erfahrungen und Ansichten erörtern zu können. Hauptziel ist: dass sie sich nach dem Lehrgang im Verbund mit ihren zukünftigen Erfahrungen als O&M-Lehrerinnen weiter entwickeln können.

Zweitens: die Praxis mit Augenbinde ist mindestens so relevant wie die Theorie - die Reflexionen und Diskussionen zur Praxis. Ungefähr die Hälfte der Kurszeit wird mit praktischen Übungen unter der Augenbinde realisiert. Dies sei notwendig, um nicht nur die blindenspezifischen Techniken der O&M zu erfahren, zu erlernen und zu verstehen. In erster Linie geht es darum, bei jeder Teilnehmerin eine nachhaltige Sensibilisierung zu erzeugen, welche die Basis dafür sein wird, im Unterricht mit hinreichender Empathie und Kreativität auf die individuellen Bedürfnisse blinder Menschen adäquat und intuitiv angemessen reagieren zu können.

Drittens: bei fünf Gebeten pro Tag war es mir wichtig festzustellen: in den vierstündigen Zeitfenstern hat jede Teilnehmerin die Möglichkeit, dann zu beten, wenn es für sie erforderlich ist - ihr Glaube ist wichtiger als der Kurs, betonte ich. Alle Teilnehmerinnen freuten sich über dieses Angebot und teilten mir zugleich mit, dass dies in Amman mit den fünf Gebetszeiten nicht so streng gehandhabt wird und dass sie nicht immer dann, wenn der Muezzin zum Gebet ruft, den Kurs verlassen müssten, um in gesonderten Gebetsräumen ihrer religiösen Pflicht nachzukommen. Sie könnten auch ohne "dem Gesang des Muezzin" zu folgen fünfmal täglich beten.

Viertens erläuterte ich zunächst die Relevanz von verschiedenen Techniken der "Sehenden Begleitung" und wie umständlich bzw. zeitaufwändig es wäre, wenn ich diese Themen nur sprachlich, aber nicht praktisch unterrichten würde - zumal eine Teilnehmerin gar kein und eine weitere nur teilweise Englisch sprach. Die Übersetzungen vom Englischen ins Arabische würden uns in den wenigen Tagen Zeit kosten. Es wäre zeitsparend, viel einfacher und auch eindeutiger, wenn ich die Techniken mit einer Teilnehmerin unter der Augenbinde praktizieren und die anderen zusehen könnten. Dazu müssten wir uns aber mit der Hand und am Oberarm berühren - was wahrscheinlich ein Problem sei. Um jenes zu lösen, hatte ich dünne Baumwollhandschuhe in verschiedenen Größen mitgebracht. Ich vermutete, damit könnte es ausnahmsweise doch gestattet sein, sich in der Sehenden Begleitung zu berühren.

Einerseits freuten sich alle Teilnehmerinnen und einige lobten mich, dass ich an diese Problematik überhaupt gedacht habe und nun diese Lösung vorschlage. Andererseits teilten sie mir lapidar mit, dass sie doch an den Armen bekleidet sind und ich bei der Sehenden Begleitung ein Hemd mit langen Ärmeln trage. Sie betonten, dass es bei der angesprochenen religiösen Konvention lediglich um die Vermeidung des direkten Hautkontaktes von Hand zu Hand ginge. Auf die Handschuhe könnten wir also beim Thema Sehende Begleitung verzichten.

Erleichtert stimmte ich zu, gab aber zu bedenken, dass wir die Sehende Begleitung nicht nur im geschlossenen Kursraum, sondern vor allem draußen, im großen Hof der GJU praktizieren werden und garantiert einige Männer uns argwöhnisch visuell fixieren würden. Ob es da nicht besser sei, dass wenigstens ich an meiner "Führhand" den Handschuh trage? Mit "Yes, yes!" befürworteten alle Frauen diesen Vorschlag und wir starteten den Kurs mit der Praxiseinheit Sehende Begleitung.

So kam es, dass ich zum ersten Mal am Arm einer Frau ging, die ihr Kopftuch derart akkurat trug, dass auch nicht nur ein einziges Härchen zu sehen war. Getoppt wurde diese besondere Situation schließlich dadurch, dass ich unter der Augenbinde leicht erschrocken, weil gänzlich unerwartet, den ca. vierminütigen "Gesang des Muezzin" vernahm. Jedoch mit Augenbinde und Handschuh konnte ich dieses außergewöhnliche, in der ganzen Stadt zu hörende musikalische Großereignis genießen.

Ebenso lernten einige Teilnehmerinnen bei Orientierungsübungen im Hof der GJU den für sie alltäglichen "Gesang des Muezzin" unter der Augenbinde zu schätzen. Er ermöglichte ihnen - wie auch die Verkehrsgeräusche der Hauptstraße - die einfache, akustische Wahrnehmung von Gebäudelücken und somit den schnellen Aufbau einer Groborientierung mit und ohne Langstocknutzung. Wie wichtig Augenbindenerfahrungen den Teilnehmerinnen waren, zeigen die folgenden Bilder, da schon bald nach Kursende die ersten Studierenden und Angehörige der GJU Übungen zur Sehenden Begleitung mit Augenbinden absolvierten - weitere Früchte des Basiskurses zur O&M blinder Menschen. Wie fruchtbar die blista - nicht nur in Marburg - doch sein kann!

Ich danke Dr. Werner Hecker und insbesondere den Kurszeilnehmerinnen - Ayat, Dania, Maisaa, Sanaa und Yosur - für die vielen, außergewöhnlichen Erfahrungen mit ihnen; für ihr Vertrauen, ihre vielen wichtigen und bisweilen kritischen Fragen, ihre unermüdliche Motivation und Konzentration, ohne die die erfolgreiche Verwirklichung jenes sehr intensiven O&M-Basiskurses nicht gelungen wäre.

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