Von Christian Axnick
Die agnes@work-Fachtagung am 25. April 2023 in Berlin diskutierte Chancen und Probleme der Berufstätigkeit von Menschen mit Behinderung in der modernen, sich verändernden Arbeitswelt. Die Schwerpunkte lassen sich in den drei Schlagworten benennen: Digitalisierung, neue Arbeitsformen, Weiterbildung.
Hintergrund und Ziel der Tagung
Die Grundlagen für die Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Arbeitsleben sind in § 164 SGB IX formuliert: "Die Arbeitgeber stellen durch geeignete Maßnahmen sicher, dass in ihren Betrieben und Dienststellen wenigstens die vorgeschriebene Zahl schwerbehinderter Menschen eine möglichst dauerhafte behinderungsgerechte Beschäftigung finden kann."
Aber was sind die geeigneten Maßnahmen? Die Selbsthilfe macht immer wieder die Erfahrung: Obwohl der gesetzliche Rahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben viele Möglichkeiten eröffnet, funktioniert die Umsetzung nicht. So ist der Weg zu Unterstützungsleistungen oft sehr bürokratisch; gesetzliche Vorgaben zur Barrierefreiheit werden vielfach nicht eingehalten.
Aber die Selbsthilfe erhebt hier nicht nur Forderungen, sie bietet Expertise und Hilfestellung. So hat das DVBS-Projekt agnes@work ein Vorgehensmodell für umfassende Unterstützung von sehbeeinträchtigten Beschäftigten am Arbeitsplatz entwickelt und erprobt. Dabei wird nicht ein einzelner Unterstützungsbedarf isoliert betrachtet - etwa die Erfordernisse an digitaler Barrierefreiheit oder die Hilfsmittelnutzung -, sondern die Gesamtsituation an einem konkreten Arbeitsplatz. Das betrifft technische Anpassungen ebenso wie Fragen der Arbeitsorganisation, die Teamstrukturen, Fragen der Weiterbildung, die Bedarfe des Betroffenen und die Anforderungen des Betriebs.
Nachhaltig wirksam werden können die Ergebnisse solcher Projekte aber nur, wenn der politische Wille gegeben ist, die Inklusion im Arbeitsleben voranzubringen. Die Fachtagung sollte daher auch die Politik ansprechen und einbinden - wir hatten Kerstin Griese, Staatssekretärin beim Bundesminister für Arbeit und Soziales, und Jürgen Dusel, den Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, eingeladen.
Statements aus der Politik
Kerstin Griese ging in ihrem Grußwort ausführlich auf den aktuell vorliegenden Gesetzentwurf der Regierungskoalition zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts ein. Ziel sei es, durch zielgenauere Unterstützung mehr schwerbehinderten Menschen den Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt zu öffnen. Kernstück sei die Einführung einer vierten Staffel der Ausgleichsabgabe, mit der auf die 45.000 Unternehmen in der Bundesrepublik eingewirkt werden soll, die bisher keinen einzigen schwerbehinderten Menschen beschäftigen.
Jürgen Dusel ging auf einige Kritikpunkte an dem Entwurf ein: Zwar könne aus der Einführung einer vierten Staffel der Ausgleichsabgabe eine Motivation entstehen, schwerbehinderte Menschen einzustellen. Es sei aber ein falsches Signal, den Tatbestand der Ordnungswidrigkeit, aufgrund dessen Bußgelder bei schuldhafter Nichterfüllung der Beschäftigungspflicht verhängt werden können, zu streichen. Besser sei es, mit der Durchführung der Bußgeldverfahren nicht wie bisher die Bundesagentur für Arbeit (BA), sondern den Zoll zu betrauen.
Vorträge, Diskussionen, Arbeitsgruppen
Auch Professor Jan Paul Heisig vom Wissenschaftszentrum Berlin warf in seinem einleitenden Vortrag zu Beschäftigungsperspektiven von Menschen mit Behinderungen die Frage auf, ob allein der Markt für Lösungen sorgen könne oder ob Regelungsbedarf bestehe. Er betonte die Notwendigkeit der Evaluation von Maßnahmen zur Förderung der Teilhabe. Hintergrund seiner Ausführungen waren die repräsentativen Ergebnisse der Erhebungen zur Lebens- und Beschäftigungssituation von Menschen mit Behinderungen (1). Sie zeigten zum einen, welche Chancen auf gesellschaftliche und berufliche Teilhabe für Menschen mit Behinderungen aufgrund veränderter Arbeitsweisen und der Digitalisierung bestehen, aber auch welche Nachteile gegenüber der Gruppe der Nichtbehinderten in Kauf genommen werden müssen, etwa bei der Beschäftigungssituation oder der Weiterbildungsbeteiligung. Darüber hinaus erlauben die Daten auch spezifische Einblicke bezogen auf die gesellschaftliche und berufliche Teilhabe nach Art der Behinderung, etwa im Hinblick auf den Personenkreis in Einrichtungen.
Der Widerspruch von Chancen und Problemen war ein durchgängiges Motiv der Tagung, das immer wieder in verschiedenen Zusammenhängen in den Themen der Arbeitsgruppen zu Barrierefreiheit, Neuen Arbeitsformen, Weiterbildung und Beschäftigungsperspektiven auftauchte.
Barrierefreiheit
Auf der einen Seite bietet die Digitalisierung gerade blinden und sehbehinderten Berufstätigen viele Möglichkeiten. Sinnvoll organisiert, kann sie dazu führen, dass fast alle Informationen in maschinenlesbarer Form vorliegen, wodurch sie mit geringem Aufwand barrierefrei aufbereitet werden können. Andererseits macht sie Hilfsmittelanpassungen in immer kürzeren Abständen erforderlich, und immer wieder schränkt mangelnde Barrierefreiheit die Eigenständigkeit von schwerbehinderten Beschäftigten ein. Aber auch dann, wenn Digitalisierung mit Barrierefreiheit einhergeht, schafft dies nicht zwangsläufig Autonomie, sondern erfordert auch Eigenverantwortung. Die eigene Hilfsmittelkompetenz muss entwickelt werden - das erfordert auch die Möglichkeit, sich adäquat fort- und weiterzubilden.
Die Herstellung von Barrierefreiheit verursacht Kosten; umso mehr, je später in der Entwicklung einer Software, einer Webseite oder eines Dokuments damit begonnen wird. Wie viel Barrierefreiheit kosten darf, ist dabei oft eine unternehmenspolitische Entscheidung. Teils wird ohne Rücksicht auf Barrierefreiheit immer die billigste Lösung eingekauft, teils wird nachgebessert, egal, was es kostet. Wichtig ist, nicht zu perfektionistisch an die Sache heranzugehen. Eine gute und offene Fehlerkultur führt weiter.
Digitalisierung kann den Assistenzbedarf reduzieren, macht Arbeitsassistenz aber nicht automatisch überflüssig. Durch barrierebehaftete Arbeitsmittel kann der Assistenzbedarf in einigen Fällen sogar steigen. Wenn Assistenz nicht geregelt ist, geht sie oft in die Verantwortlichkeit hilfsbereiter Kolleg*innen über. Die Tatsache, dass diese sich in der Pflicht sehen, technische Barrierefreiheitsmängel durch ihren persönlichen Einsatz auszugleichen, kann zu sozialen Spannungen führen. Darum müssen solche Konfliktsituationen offen angesprochen werden. Formell oder informell organisierte Assistenz darf für Vorgesetzte kein Argument sein, sich nicht um die Beseitigung technischer Barrieren zu kümmern.
Neue Arbeitsformen
Es ist keine neue Erfahrung, dass die technische Entwicklung die Arbeitsformen bestimmt und die Arbeitsschutzanforderungen im Nachgang durchgesetzt werden müssen. In den von der Digitalisierung geprägten neuen Arbeitsformen können Agilität und Flexibilisierung einerseits den Zugang zu Arbeit erleichtern und zu größerer Eigenständigkeit führen, andererseits vergrößert sich der Druck und es entsteht die Angst, von relevanter Arbeit ausgeschlossen zu werden, wenn man sich nicht permanent neue Arbeitstechniken aneignet und Hochleistung liefert.
Darüber hinaus wird von den Beschäftigten oft verlangt, in gleichem Maße in "alten" und "neuen" Strukturen arbeiten zu können, da keine Firma völlig agil arbeitet - es gibt immer wieder auch Tätigkeiten, die linear ablaufen und nicht dynamisch angelegt werden können.
Wie also können Chancen genutzt, Risiken und negative Folgen vermieden werden? Die Umgestaltung darf sich nicht an technisch-digitaler Logik orientieren. Sie muss unter Einbeziehung der Beschäftigten erfolgen; dabei müssen Mensch, Technik und Arbeitsorganisation im Zusammenhang betrachtet werden. Gerade für die Belange schwerbehinderter Menschen sind in den Betrieben Multiplikatoren nötig, und es müssen auch überbetriebliche Unterstützungsstrukturen aufgebaut werden. Es wurde auch auf die Notwendigkeit ordnungspolitischer Maßnahmen hingewiesen.
Weiterbildung und berufliche Entwicklung
Lebenslanges Lernen kann zur beruflichen wie persönlichen Entwicklung beitragen - andererseits bauen ständige Qualifizierungsanforderungen Druck auf, und wiederum wird die Teilhabe von sehbeeinträchtigten Berufstätigen an Weiterbildungen durch vielfältige Barrieren erschwert. Dieses Thema muss in die Betriebe getragen werden, entsprechende Schulungen für Betriebs- und Personalräte sind nötig. Prüfstellen müssen für den Umgang mit behinderten Menschen qualifiziert werden - es geht um Sensibilisierung, nicht nur um Nachteilsausgleiche.
Wichtig ist die Möglichkeit, an allgemeinen, nicht behindertenspezifischen Weiterbildungen teilzunehmen - auch, um Kontakte zu knüpfen und Netzwerke aufzubauen.
Die Weiterbildung von Lehrenden im Hinblick auf eine inklusive Didaktik und Methodik ist ein unbedingtes Muss. Sie sollte gleichrangig neben der fachlichen Weiterbildung des Lehr- und Ausbildungspersonals stehen.
Wenn nachträglich versucht wird, vorhandene Angebote inklusiv umzugestalten, steigt der Organisationsaufwand. Deshalb sollte Inklusion von Anfang an mitbedacht werden.
Lebenslanges Lernen ist eine Möglichkeit für den Umgang mit Krisen, wie zum Beispiel der Erfahrung einer Beeinträchtigung. Neben dem rehabilitativen und beruflichen Lernen werden häufig allgemeine Weiterbildungsinteressen wenig beachtet, obwohl sie für die Selbstbestimmung essenzieller Bestandteil sind.
Neue Chancen für Beschäftigung
Eröffnet der absehbare Fachkräftebedarf auch schwerbehinderten Menschen Beschäftigungsperspektiven? Hierzu gab es unterschiedliche Ansichten: Für die einen zeigt die aktuelle Situation der schwerbehinderten Menschen auf dem Arbeitsmarkt, dass sie nicht oder nur wenig vom aktuell hohen Fachkräftebedarf profitieren. Andere sehen in der Digitalisierung und der Entwicklung mobiler und Online-gestützter Arbeit neue Chancen - vor allem, wenn eine hohe fachliche Kompetenz gegeben ist. Dennoch wird es auch unter "guten" Bedingungen besonderer Anstrengungen bedürfen, damit mehr Menschen mit Behinderungen dauerhaft in sinnstiftender Arbeit Beschäftigung finden. Dazu wurden u.a. folgende Erfordernisse herausgestellt:
- Entwicklung einer inklusiven Beschäftigungs- und Weiterbildungskultur in den Unternehmen durch Good Practice, Beratung, Weiterbildung und finanzielle Anreize
- Inklusives Coaching von Unternehmen und ihren Teams
- Barrierefreie Gestaltung des Arbeitsplatzes und -umfelds
- Abbau bürokratischer Hemmnisse und Zeitverzögerung bei den Nachteilsausgleichen
- Vernetzung der lokalen und regionalen Unterstützungsakteure, um die Leistungserbringung für die schwerbehinderten Beschäftigten und die Unternehmen zu optimieren.
Ausblick
Die Diskussionen der Tagung haben den umfassenden Ansatz von agnes@work bestätigt: Im Zentrum der Auseinandersetzung um berufliche Teilhabe müssen die Menschen stehen, nicht technische Aspekte - Barrierefreiheit ist eine notwendige, keinesfalls eine hinreichende Bedingung für berufliche Inklusion. Wichtig ist, die soziale Dimension der Barrierefreiheit zu berücksichtigen. Sie ist immer Teil eines komplexen Geflechts - am Arbeitsplatz oder in Bildungsveranstaltungen - und erschöpft sich nicht im Abarbeiten technischer Kriterien.
Alle Beteiligten brauchen Unterstützung durch Aufklärung und Beratung; es braucht Multiplikatoren in den Betrieben ebenso wie überbetriebliche Unterstützungsstrukturen. Dazu gehören allerdings auch Durchsetzungsmechanismen für die bestehenden gesetzlichen Vorgaben.
Es bleibt eine Frage, die uns noch länger beschäftigen wird: Wie überwinden wir den Widerspruch zwischen dem großen Engagement, das immer wieder einzelne Unternehmen oder Bildungsanbieter hinsichtlich der Inklusion zeigen, und dem gleichzeitigen strukturellen Stillstand bei der beruflichen Teilhabe schwerbehinderter Menschen?
Die Beiträge und Präsentationen der Tagung finden Sie auf der Projekt-Webseite (www.agnes-at-work.de) unter Aktuelles - Fachtagung 2023.
Anmerkung
(1) Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.): Abschlussbericht Repräsentativbefragung zur Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Bonn: März 2022. Internet: https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/Forschungsberichte/fb-598-abschlussbericht-repraesentativumfrage-teilhabe.pdf? [Letzter Zugriff: 16.6.2023] zurück zum Text