Vorweg: Ich definiere mich gerne über meine Stärken und Fähigkeiten. Opfermentalität und Selbstmitleid mag ich weder an mir noch bei anderen. Ich bevorzuge Optimismus, Humor und eine positive Lebenseinstellung. Und ich bin ein Fan von Eigenverantwortung. Dies möge man beim Lesen der folgenden Zeilen im Hinterkopf behalten. 

Ich habe Tinnitus. Seit 1999. Seit einigen Jahren chronisch. Heißt: Ich gehe mit permanentem Ohrenklingeln ins Bett und wache morgens damit auf. Links lauter als rechts. Ein Hörtest ergab linksseitig 15 Dezibel, rechts fünf. Stress und laute Umgebungsgeräusche verstärken ihn. Und jede Geräuschquelle in Trommelfellnähe. MP3-Player und Telefon-Headset sind - abgesehen von Knochenleitungs-Kopfhörern - schon lange passé. Ebenso größere Menschenmengen. Jedenfalls ohne Gehörschutz. Dieser ermöglicht mir zumindest Kino- und Konzertbesuche ohne größere Einschränkungen. Die Geräuschfilter unterdrücken laute und hochtonreiche Frequenzen. Das Hören ist damit stark eingeschränkt, aber geschützt. Für Unterhaltungen jedoch nicht empfehlenswert.

Ich habe viel gegen den Tinnitus unternommen: Cortison, Homöopathie, Heilungsgebet, Entspannungsübungen. Vieles hat geholfen. Zwischenzeitlich war er einige Jahre verschwunden. Seit vier Jahren ist er chronisch. Bedeutet: Ich kriege ihn nicht mehr weg. Ich kann nur versuchen, ihn nicht noch lauter werden zu lassen. Was eine gute Selbstfürsorge voraussetzt.

Multiple Einschränkungen

Zumal ich diese auch für andere Einschränkungen benötige. Neben meinem Gehör sind auch mein Herz und mein Nervensystem beeinträchtigt. Die Folgen eines Bandscheibenvorfalls vor einigen Jahren runden das Ganze ab.

Mein Herz neigt zu Rhythmusstörungen und - unter Stress - zu Vorhofflimmern, also Arrhythmie. Gerät es aus dem Takt, helfen meist Medikamente wie Betablocker und Herzrhythmisierer. Manchmal geht es aber nicht ohne Besuch beim Kardiologen. Außerdem hilft Sport zur Vorbeugung. Ich mache zwei- bis dreimal wöchentlich Ausdauertraining. Die Symptome sind dennoch chronisch.

Mit meinen Gehör- und Herzbeschwerden geht eine vegetative Belastungsstörung einher. Heißt: Ich habe ein angeschlagenes Nervensystem. Was sich in einer sehr überschaubaren Belastbarkeit und Stresstoleranz äußert. Schon Alltagssituationen können bei mir eine Reizüberflutung auslösen, die schnell zur Erschöpfung führt. Das zeigt sich unter anderem in leichter Reizbarkeit und Ermüdung. Dann sind Entspannungsübungen, viel Bewegung und frische Luft angesagt.

Anpassungen am Arbeitsplatz

Man sieht mir meine Einschränkungen nicht an. Jedenfalls nicht sofort. Im Gegensatz zu meinem Blindenstock, der anderen auf Anhieb meine Sehbeeinträchtigung signalisiert. Im Unterschied dazu muss ich alles, was Gehör, Herz und Nerven betrifft, erklären. Was ein hohes Maß an Empathie beim Gegenüber erfordert. Erst recht in der oft ruppigen Arbeitswelt. Zumal ich mir mit der Öffentlichkeitsarbeit ein Berufsfeld ausgesucht hatte, in dem Belastbarkeit und Flexibilität Grundvoraussetzungen sind. Beides bringe ich nur in geringem Maße mit.

Dementsprechend waren an meine Bedürfnisse und Einschränkungen angepasste Arbeitsbedingungen unerlässlich. Wohlgemerkt nicht nur bezogen auf meine Seheinschränkung, sondern auf meine gesamte gesundheitliche Situation. Was sicher nicht den Voraussetzungen des ersten Arbeitsmarktes entsprach. Mir aber die Entfaltung meiner Kompetenzen und Fähigkeiten ermöglichte. Wenn auch unter besonderen Rahmenbedingungen.

Dazu gehörten: Die Einhaltung der täglichen Sollarbeitszeit mit wenigen Überstunden, eine gute gemeinsame Planung der Arbeitsschritte und des Arbeitsaufwands, ein von Außengeräuschen abschirmbarer Arbeitsplatz sowie ein Tinnitus-freundliches Headset mit Knochenleitungs-Kopfhörern.

Gleichzeitig war ich während der letzten Jahre meiner Erwerbstätigkeit teilberentet. Die Teilerwerbsminderungsrente diente mir und anderen nicht zuletzt als Nachweis meiner angeschlagenen Gesundheit. Hatte ich doch schon die Erfahrung gemacht, dass man mir erst nach einem Krankenhausaufenthalt glaubte. Also als das Kind schon in den Brunnen gefallen war.

Potenzialentwicklung dank Rente

Zum Jahreswechsel 2024 wurde meine Teilrente in eine Rente wegen voller Erwerbsminderung umgewandelt. Auf meinen Wunsch hin. Meine Gesundheit dankt es mir seitdem. Der Tinnitus ist oft leiser, die Herzrhythmusstörungen sind weniger geworden. Das unterstütze ich durch Sport und Bewegung. Hinzu kommt: Ich verfüge über ein Netz aus guten sozialen Beziehungen. Diese dienen mir auch als Resilienzquelle. Im Endeffekt ist es ein gegenseitiges Geben und Nehmen. Denn viele meiner Freundinnen und Freunde leben mit ähnlichen Einschränkungen wie ich. Gleich und Gleich gesellt sich eben gerne.

Gleichzeitig ist die Frühverrentung für mich eine Möglichkeit des persönlichen Wachstums und der Potenzialentwicklung. Was auf den ersten Blick paradox klingt, ist bei näherer Betrachtung nur logisch und konsequent. Ich musste sowohl meinen einstigen Vorgesetzten als auch mir selbst gegenüber eingestehen: Meine eigentlichen Stärken liegen gar nicht im akademisch-intellektuellen Bereich. Abgesehen vom Schreiben. Ich verfüge vielmehr über ein ausgeprägtes Gespür für Menschen und die Fähigkeit, andere für Ideen oder Ziele zu gewinnen und sie dabei mitzunehmen. Wohl auch eine Folge meiner einschränkungsbedingten Hochsensibilität. Gemäß Psychologie geht damit nämlich häufig eine "hohe seelische Begabung" einher, beispielsweise Feingefühl, Wahrnehmung, Empathie, Kreativität, Intuition oder Gespür für Menschen und Situationen. Was mir auch schon Vorgesetzte bestätigten.

Meine durchaus beträchtlichen Einschränkungen bringen also eine Menge Begabungen, Ressourcen und Potenziale mit sich. Die ich ausgiebig nutze und weiterentwickle. Meine ehrenamtliche kirchliche Arbeit mit Freunden aus der Schweiz und Deutschland bildet einen optimalen Rahmen dafür. Unter anderem leite ich zusammen mit einer Co-Leiterin eine zurzeit neunköpfige Gruppe von Personen, die sich mit weiteren Gruppen wöchentlich via Zoom zum Austausch über Grundfragen zu Gott und dem Leben trifft. Auch bekannt als Alphakurs. Dazu schreibe ich einen wöchentlich erscheinenden Gebetsbrief oder unterstütze bei der Seelsorge. Das alles bietet mir neben Sinnstiftung ein überaus erfülltes Leben - allen Begrenzungen zum Trotz.

Zum Autor

Savo Ivanic war bis Dezember 2023 Mitarbeiter des Bereichs Öffentlichkeitsarbeit und Angebotsmarketing der DVBS-Projekte agnes@work - Agiles Netzwerk für sehbeeinträchtigte Berufstätige - und iBoB - inklusive berufliche Bildung ohne Barrieren.

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