Da ist ein Menschenkind, klein und angewiesen, hineingeboren in eine unfassbar komplexe Welt voller Wunder. Wird es staunen und neugierig sein und entdecken? Wird es erschrecken und ängstlich sein und sich zurückziehen? Wie wird es damit umgehen, was mit ihm gemacht wird in seiner Angewiesenheit? Ja, was wird mit ihm gemacht?
Da sind die großen Menschenkinder, die um das kleine herum sind. Einiges dieser unfassbar komplexen Welt voller Wunder haben sich die Großen angeeignet. Sie haben ihren Platz gefunden, sichere Nischen. Dabei haben sie selbst Erfahrungen gemacht, haben gestaunt und sind erschrocken - in unterschiedlichem Maß. Da ist vor ihnen das kleine Menschenkind in seiner Angewiesenheit, und für dieses Kind entstehen Bilder im Kopf. Es soll es besser haben, z.B. einen großartigen Beruf ergreifen, Achtung und Anerkennung bekommen, Steine aus dem Weg geräumt bekommen. Wenn es aber offensichtlich ist, dass das kleine Menschenkind, auch wenn es groß ist, angewiesen bleibt? Welches Bild kann dann im Kopf entstehen? Es soll nie so erschrecken müssen? Es soll ganz behütet sein? Oder: Es kann gar kein Bild geben. Denn es ist alles so unvorstellbar und unerklärbar inmitten der Bilder von einer Welt voller Traumkarrieren und Traumbilder. Die Welt bietet kein offensichtliches Zukunftsbild zur Orientierung an - außer dem, was wohl ausgeschlossen werden muss: größer, höher, weiter, besser.
Was fordern nun die allgemeinen Menschenrechte? Einen Platz für jeden Menschen jeglicher Voraussetzungen. Einen Platz, der diesem Menschen entspricht - und seinen Voraussetzungen. Einen Platz auch, sich mit seinen Möglichkeiten zu entwickeln, zu entfalten in dieser unfassbar komplexen Welt voller Wunder. Ist damit nun gemeint, dass ein bester Weg dazu schon gefunden wurde und zu dem alle eingeladen werden ihn doch gern mitzugehen? Im Angebot sind Assistenzen, sind vielerlei Hilfsmittel. Unterstützende Maßnahmen werden zur Verfügung gestellt, damit es gelingt, in diesen gefundenen Weg navigiert zu werden. Denn letztlich ist es ja klar, dass es ist wie es ist. Zu anders ist zu anders. Und das zu-anders-sein könnte die verunsichern oder aufhalten oder überfordern, die den besten Weg vorgeben.
Was wäre also, wenn wir uns trauen würden einzuräumen, dass es richtig viele Möglichkeiten gibt, die Welt zu entdecken, Spuren zu finden, Eindrücke einzuordnen, Schlüsse zu ziehen? Wenn es nicht ein Richtig gäbe? Sondern sich das Richtig viel besser finden ließe, wenn alle ihre Wege erforschen dürften und man voneinander profitieren möchte? Das hieße dann nicht mehr Inklusion (ihr anderen dürft alle beim Richtigen dabei sein), sondern Zusammenleben oder ...?
Nach diesen Anfangsüberlegungen kommen nun Erfahrungen mit Menschen, die auch im Kinder-, Jugend- und Erwachsenenalter noch sehr viel angewiesen sind. Angewiesen zum Beispiel in der Begleitung für Kontaktaufnahme, für Raum-Lage-Wechsel und für die Bewältigung von Wegen. Dazu gehört auch die Befriedigung von Grundbedürfnissen nach Versorgung mit Nahrung, nach Hygiene, nach Bekleidung, nach Orientierung in Zeit und Raum, nach Einordnen von sich in der Welt, von Dingen und Ereignissen - und auch nach Abwechslung.
Die Forschung ahnt immer mehr, dass es sehr viele noch ungeahnte Möglichkeiten der Wahrnehmung gibt, auch der Kommunikation und der Anpassungen je nach Umgebung und Einflüssen. Diese Forschung gibt es in Bezug auf Pflanzen - bekannt wurde besonders das Kommunizieren von Bäumen. Diese Forschung gibt es sehr breit für das Tierreich. Es gibt sie im Grunde auch für Menschen. Aber da wir selbst Menschen sind, können wir hier oft nicht so leicht von uns selbst absehen und offen forschen, wie viele Möglichkeiten im Menschen stecken. Es ist klar, dass der Mensch sehr anpassungsfähig ist und auch unter extremen Bedingungen zurechtkommen kann. Für sehende Menschen ist Blindheit extrem und nicht wirklich vorstellbar. Genauso ist es mit einer starken körperlichen und mit einer geistigen sogenannten Behinderung - anders ausgedrückt: einer anderen Ausgangslage bei vergleichbaren Bedürfnissen.
Hier also ein paar Beispiele:
Kontaktaufnahme und Kontakt haben und halten: Der Fernsinn Sehen hilft, jemanden schon von weitem wahrzunehmen. Dann kann die Entscheidung fallen, ob Kontakt erwünscht ist und man in Verbindung tritt oder nicht. Der Fernsinn Hören kann auch dazu genutzt werden. Ich hatte eine Schülerin, die mit Vorliebe lange vor dem Klassenzimmer an der Garderobe saß um zu lauschen, wer da vorbeikam. Sie erkannte die Menschen am Schritt und an den Schuhen. Eine andere Schülerin verbrachte ihre Pausen vorzugsweise auf dem Flur, weil sie die Stimmen schon von weitem erkannte und je nach dem lächelte oder einfach mit großen Lauschohren dabei war. Nicht für jeden Menschen steht ein Fernsinn für die Wahrnehmung im Vordergrund. Dann sehe ich es als meine Aufgabe, den Kontakt zu ermöglichen. Ich gehe nah in das Gesichtsfeld und lasse Zeit, bis ich den Eindruck habe, dass das Sehen eingeordnet werden konnte. Ich biete weitere Möglichkeiten an durch meine Stimme, durch Berührung wie Händedruck, Hand auf die Schulter legen - je nach Vertrautheit. Je selbstverständlicher ich diese Zeit für mich selbst nutze, desto mehr lerne ich mein Gegenüber und diese Vorlieben kennen. Es wird zu einem schönen Geben und Nehmen, wie es in Beziehungen ja sein soll. Wird mehr daraus? Haben wir beide gerade Zeit und Lust auf mehr? Je offener ich mich dafür zeige, desto offener werde ich für die Äußerungen und Kontaktwege des Gegenübers.
Raum-Lage-Wechsel, Wege, also Ortswechsel, und Orientierung in Raum und Zeit sind Themen, die mich als Rehalehrerin natürlich besonders bewegen. Es ist wirklich spannend für mich, über die große Wirkung von ganz kleinen Bewegungen nachzudenken. Eine Person, die im Liegen eine Drehung vollzieht, hat sofort ganz andere Verhältnisse: die Akustik ist anders, die Druckverhältnisse des Körpers auf der Unterlage ändern sich, die Blickrichtung, die Möglichkeiten der Extremitäten in Kontakte zu kommen ebenso. Und was eben noch vorne war, ist nun auf einer der Seiten oder hinten. Ich überlege, wie ich beitragen kann, die verschiedenen Richtungen interessant zu gestalten, damit es neugierig macht, hier und da zu forschen und sich zu drehen, auch wenn es mühsam sein mag. Und wie ist das mit dem Wechsel vom Liegen zum Sitzen? Die Selbstverständlichkeiten meines Alltags plötzlich so genau zu betrachten und eben nicht selbstverständlich zu nehmen, macht mich neugierig. Was passiert bei mir? Was passiert beim Gegenüber? Das Gleichgewicht muss neu sortiert werden. Manche Bewegungen gehen jetzt leichter, andere schwerer oder gar nicht mehr. Die Aufrichtung ändert komplett die Blickrichtung. Ich würdige diesen Wechsel neu. Zeit lassen tut auch mir gut! Mir fällt auf, wie ständig im Alltag diese Positionswechsel vorkommen. Jetzt beim Schreiben habe ich schon wieder Stand- und Spielbein gewechselt, wenn ich am Stehschreibtisch stehe. Ich habe mich meiner Kollegin zugewendet, die mich von der Seite ansprach. Was ich unbewusst tun kann, dazu braucht jemand anderes Unterstützung. Gelegenheiten gibt es ununterbrochen. Die Pflegesituation bietet ganz viel an: z.B. das Vorbereiten auf die Situation durch ein gleichbleibendes, erkennbares Symbol, da ja nicht der eigene Harndrang Auslöser ist, sondern eine Einschätzung von außen. Das Innehalten an der Tür durch Kontakt mit dem Fußbrett und Mitgehen beim Öffnungsprozess - eine spezielle Beleuchtung, ein spezieller Geruch, eine spezielle Akustik fordert Zeit zur Wahrnehmung. Der Wechsel vom Rollstuhl auf die Pflegeliege - in möglichst kinästhetischer Weise mit Genuss all die kleinen Bewegungsschritte zu vollziehen und die passenden Raum-Lage-Veränderungen zu erleben.
Und beim Ortswechsel fällt mir auf, wie sehr auch ich erst mal wissen möchte, von wo ich überhaupt starte und wohin es gehen soll, damit ich mich sicher fühle und einordnen kann, worum es überhaupt geht. Ich bevorzuge für meinen Alltag den selbstbestimmten und orientierten Weg mit dem Fahrrad vor dem komplett anvertrauten Watteweg über den Wolken. Ich freu mich auf bestimmte Wegmarken wie das Stückchen bergab, den naturnahen Garten im Wechsel der Jahreszeiten, die Hecke mit den Spatzen. Das will ich auch Menschen ermöglichen, die Unterstützung brauchen, aber auch Vorlieben haben oder entwickeln dürfen. Sie werden eine Erwartungshaltung aufbauen, wenn sie beteiligt werden. Ich freue mich mit an dem jungen Mann, der es liebt, wenn der Start an der Garderobe einen Weg verheißt, erst mal durch die schwergängige Gebäudetür. Dann ist die Vorfreude sichtbar, gleich an der Kettenabsperrung vorbei zu kommen. Dort muss angehalten werden, um die Kette ordentlich in Schwung zu bringen - so ideenreich, wie ich nicht darauf gekommen wäre. Auf den Mülleimer muss klangvoll geklopft werden. Dann kommt das schnelle Stück bergab und dann sind wir mit einem deutlichen "Rums" an der Tür unseres Zieles angekommen. Wie ist es, nie die Schritte dieses Weges gegangen, sondern immer passiv geschoben worden zu sein? Ich weiß es nicht. Aber die immer wieder erfreulichen Punkte, die erwartbar in gleicher Reihenfolge kommen, klare Richtungswechsel und ein Unterwegssein in Kontakt zueinander, bereichern uns gegenseitig. Wir nehmen gegenseitig teil an der Wahrnehmung, wie dieser Weg angenehm vertraut wird und ist.
Ein blindes Mädchen hat noch einen unsicheren Gang. Unterstützung sollen Orthesen bringen. Ein Langstock soll ihr ermöglichen, viel von ihrer Umgebung wahrzunehmen. Stock werfen ist toll. Mal trifft der Stock den Handlauf, mal die Heizung, mal die Tür. Alles klingt unterschiedlich. Das Bücken nach dem Stock scheint die logische Folge zu sein. Was geworfen wird, landet offensichtlich auf dem Boden. Und was es am Boden alles Interessantes gibt, das merke ich wieder, wenn ich mit ihr zusammen bin. Auf dem Boden kniend bewegt sie ihren Stock mal mit großer Kraft, mal zart und feinfühlig, um die Effekte auszukosten: ein Bodengitter, Noppenpflaster, Fliesen, Wandsockel... und die Finger tasten hinterher, über was der Stock eigentlich gerade Auskunft gegeben hat. Da findet sie Fugen, Streusplit, Gitterspalten. "Was ist das?" will sie x-mal wissen und antwortet x-mal "Nein, das ist nicht...". Manchmal erfindet sie eigene Wörter. Spannend.
Die junge Dame, die mit ihrem Stock zur Sporthalle spaziert, setzt kurze Schrittchen. Unterwegs macht sie ihre Späßchen und ruft lauthals "Ich falle!" und lächelt in sich hinein. Eine Steigung hier, ein Richtungswechsel da, ein Metalltor, ein Holzzaun, eine Mauer. "Bin ich an der Sporthalle?" ruft sie, ohne wirklich eine bestätigende Antwort zu erwarten, und zieht lächelnd an der Tür. Es ist ein Kraftaufwand, die Tür zu öffnen. Die Dame stöhnt lauthals und freudig und lässt die Tür wieder zufallen. So geht das 5 Minuten, bis jemand anderes auch das Haus betreten will, da öffnet sie freudig ganz, lässt die anderen herein und spaziert auch nach drinnen. Ich freu mich an der sportlichen Situation. Mit dem gleichen Lächeln und viel Zeit hängt die junge Frau ihre Sachen an die Garderobe, wozu sie sich schon sehr sportlich hoch strecken muss - die perfekte Dehnübung. Zum Wechsel der Straßen- zu Hallenschuhen braucht es sehr viel Fingerfertigkeit. "Ich kann das nicht!" ruft sie lächelnd und arbeitet mit allen möglichen Strategien weiter, bis die Schuhe sitzen und sie sich auf den Weg in die Halle macht - schon warm trainiert, was die anderen eben in der Halle erledigt haben.
Wenn Menschen sich emotional sicher fühlen und ausgeschlafen sind, dann haben sie gute Voraussetzungen offen zu sein, für Veränderungen um sie her. Ihr eigener Einfluss auf Veränderungen weckt ihr Interesse. Ich erzähle von einer Schülerin, deren Lieblingsplatz war auf dem Boden an der Türkante. Das Ein und Aus von anderen beim Betreten oder Verlassen des Raumes gefiel ihr gut - Luftzug, Geräusche, Informationen, die von draußen hinein wehten... Das beste aber war, dass sie herausgefunden hatte, wie sie durch verschiedene Bewegungen der Tür Impulse geben konnte, in die eine oder andere Richtung zu schwingen. Ihren eigenen Einfluss auf diesen Gegenstand genoss sie sehr. Und die anderen? Freuten sich am "Bodenpersonal" und am Service - das Achtsame Unterwegssein tut allen gut.
Ein Junge hat über das Wegklappen des Rollstuhl-Fußbretts Kontakt zum Boden bekommen - bevorzugt streifte er die Schuhe und Socken ab, um alles zu spüren. Mit den Füßen gelang es ihm, seinen festen Sitz zunächst am Platz in Bewegung zu bringen, vor - zurück - vor - zurück. Das Experimentieren führte zum Rückwärtsfahren durch Abstoßen. Die größte Freude ist es, wenn der Rollstuhl dann an einen Gegenstand oder an die Wand rumst. Als Rehalehrerin freue ich mich mit an der selbst entwickelten Strategie der Raumerkundung. Die unterschiedlichen Geräusche, Widerstände, Effekte führen ja zur Lust, das zu Wiederholen und Wiederzufinden. Und rückwärts ist eine richtig sichere Richtung, wenn der Sehsinn nicht beteiligt ist.
Für mich ist ein Fazit, dass ich in der Freiheit, die ich im Blick auf die Verschiedenheit des Menschseins bekomme, viele Konventionen überdenken darf. Was bestätigt sich und was kann ich beiseitelegen? Ein anderes Fazit ist, dass ich Einfluss darauf nehmen kann, welche Werte mir besonders wichtig sind und wie ich sie sichtbar für andere mache - als Brückenbauerin zur Welt, in der andere Werte dominieren. Ich liebe es also, erwartungsvoll zu beobachten, zu staunen, neue Möglichkeiten zu schaffen, wenn ich Interessen ausmache. Begabungen fördern ist ja eine Aufgabe von mir als Pädagogin. Aber sie ist auch ein gesamtgesellschaftlicher Wert. Räume dafür stehen überall zur Verfügung.
Und was ist Ihr Fazit?