"Wenn Blicke töten könnten ...", so beginnt ein im Sprachgebrauch gern genutzter Satz, wonach ein Mensch offensichtlich einen mörderischen Gesichtsausdruck auf einen oder mehrere andere Leute richten kann. Wenn also Blicke wirklich töten könnten, wären blinde Menschen wohl sehr sicher, denn wir würden den "tödlichen" Blick nicht empfangen und nicht entsprechend interpretieren, da uns dazu die Antenne fehlt. Der tötende Blick würde sinnlos an uns abprallen. Augen empfangen nicht nur optische Eindrücke, sie senden auch etwas aus, wodurch sie sich von den anderen Sinnesorganen erheblich unterscheiden.

Als ich während der Lektüre des letzten "horus" auf das jetzige Schwerpunktthema "Kontakte und Beziehungen" gestoßen wurde, fiel mir direkt die einleitende Frage auf: Beziehung herstellen ohne Blickkontakt, können wir das überhaupt? Diese Frage wirkt provokativ, weshalb ich diesen Artikel schreibe. Ja, wir können, weil wir müssen, denn Blickkontakte sind für mich und viele von uns nicht möglich. Für mich, dessen Augen nichts sehen und auch nur bedingt so tun können, als würden sie jemanden oder irgendetwas anschauen, und für die vielen blinden Menschen, die gar keine Augen mehr haben, sondern Prothesen oder nicht einmal solche, bleibt keine Wahl: Beziehungen knüpfen ohne Blickkontakt, das muss möglich sein.

Ich selbst bin geburtsblind, weshalb es mir bestenfalls möglich ist, meine "Blickrichtung" nach der Stimme meines Gesprächspartners auszurichten; zur Kontaktaufnahme taugen die Augen nicht, da sie selbst nicht aktiv mit anderen Augen interagieren können. Aber wie entstehen dann Beziehungen? Nach meiner Erfahrung zumeist doch mittels Sprache.

Wenn ich mich an den Übergang erinnere, als die Schulzeit in einem doch meist "geschützten Raum" vorüberging und ich über die Brücke in das "normale Leben" gehen musste, fühlte ich mich häufig überfordert als Einzelschwimmer im großen Becken der sehenden Menschen. Deshalb empfand ich es immer als vorteilhaft, wenn wenigstens noch ein anderer "blinder Kollege" dabei war. Aktiv Kontakt aufzunehmen war nicht leicht, gezielt mit ausgewählten Personen, wie es die sehenden Menschen aufgrund ihrer optischen Eindrücke und den damit verbundenen Erwartungen tun oder nicht tun, ist mir nicht möglich. "Guck mal da, die Blonde am Tisch dahinten", "Schau mal, der riesige Typ mit den großen braunen Augen", "Oh guck mal, der Dicke, der kriegt bestimmt keine ab", "Die Kleine da drüben, was isst die denn da?", "Der junge Mann dort in der Ecke, ist der wohl Japaner oder doch Koreaner?". All diese Beispiele sind reine Fiktionen und funktionieren real bei vollblinden Menschen gar nicht; deshalb spielen derlei Merkmale für eine Kontaktaufnahme auch keine Rolle. Ich bevorzuge keine blonden, schwarzen oder braunen; keine dünnen oder dicken; keine weißen oder irgendwie andersfarbigen Menschen, genauso wenig wie ich sie ausschließe.

Oft hoffe ich darauf, innerhalb großer anonymer Gruppen angesprochen zu werden; dass ich öfter selbst die Initiative ergreifen muss, das habe ich im Laufe meines Ausbildungs- und Berufslebens gelernt. "Hallo, Entschuldigung, bin ich hier richtig im Seminarraum 107?", "Ist hier noch ein Platz frei?" - solche oder ähnliche Fragen irgendjemandem zu stellen, den ich nicht kenne, fiel mir wirklich schwer. Hatten wir in Schulzeiten überschaubare Lerngruppengrößen, so war ich plötzlich in der Uni zwischen ca. 80 bis 90 sehenden Menschen, die sämtlich noch nie mit der Thematik Blindheit zu tun hatten. Und das bringt mich zum nächsten Punkt:

Warum ist so oft die Behinderung Thema bei einer Kontaktaufnahme? Da bin nicht ich, der aufgrund meiner Augen- oder Haarfarbe, mehr oder weniger schicken Kleidung oder meiner Mimik angesprochen wird, nein, da bin ich der Blinde, und dem muss man ja vielleicht helfen. Dabei werde ich nicht selten gefragt, seit wann ich denn blind wäre und ob ich nicht doch wenigstens noch ein kleines bisschen sehen könnte, und manchmal auch - Kinder tun das in ihrer Hoffnung ausdrückenden Naivität - "Wann wirst du denn wieder gesund?" Natürlich gebe ich Antworten auf vernünftige Fragen, die ich von vielleicht ja wirklich wissbegierigen Personen gestellt bekomme. Dennoch verspüre ich innerlich auch immer wieder eine Abneigung, schon wieder über meine Blindheit sprechen zu sollen; ja es stimmt, ich bin blind, aber ich bin auch noch mehr!

Entweder besteht tatsächlich ein Interesse an meiner Person, die diese Behinderung hat, woraus dann auch eine nachhaltige Beziehung erwachsen kann - in einigen Fällen habe ich das so erlebt, dass mich sehende Menschen intensiver kennengelernt haben bzw. ich sie - oder der Kontakt bleibt temporär und man geht auseinander, vergisst sich wieder, wenn der Anlass zur Kontaktaufnahme vorüber ist.

In großen Gruppen

Wie wirke ich innerhalb großer Gruppen? Diese Frage stelle ich mir schon lange und finde häufig die eine Antwort: Ich weiß es nicht. Tatsache ist, dass ich in größeren Gruppen immer unter Anspannung stehe und Hemmungen habe, mich zu Wort zu melden, auch wenn ich den Wunsch habe, jetzt, genau jetzt in eine Diskussion einsteigen zu müssen, aber ich traue mich nicht; bis ich Luft geholt und meinen Wunsch, etwas beizutragen, geäußert habe, ist der Moment verflogen. Damit entziehe ich mich einer Wirkungsweise, es sei denn, meine Passivität wird als wirkungslos wahrgenommen. Doch natürlich hatte ich mich auch gelegentlich meinen Ängsten zu stellen: Fachreferat während des Studiums, Erläuterung meiner beruflichen Tätigkeiten, Mitwirken an öffentlichen Veranstaltungen; und dabei weiß ich nicht, wie intensiv der Kontakt zwischen mir und meiner Zuhörerschaft ist. Sehen die mich an oder gucken sie weg, hören die mir überhaupt zu? Gucke ich richtig zu ihnen? Bin ich interessant oder wenigstens das, was ich zu sagen habe? Nicht selten korrespondiert ja die Wahrnehmung eines Vortragenden mit dem Interesse am Inhalt seines Vortrages. Ein psychologisches Phänomen, wonach die Bewertung des Sprechers großen Einfluss hat auf die Glaubwürdigkeit des von ihm Gesagten. Wenn ich also eher uninteressant wirke, ist der Kontakt weniger intensiv und man misst meinen Worten weniger Bedeutung bei, als wenn ich äußerlich interessant wirke. Aber woher weiß ich, wie ich ankomme? Natürlich wende ich meinem Publikum das Gesicht zu, das ist das Mindeste; mich können aber keine optischen Rückmeldungen aus dem Plenum erreichen und ich kann nur theoretisch hinschauen. Die kurze Beziehung muss von meiner Seite her mit der Stimme aufgebaut und über möglichst sinnvollen Inhalt so lange erhalten werden, bis mein Redebeitrag vorbei ist.

Ein ganz anderes Beispiel von Kontaktaufnahme ist ein Stadionbesuch ohne sehende Begleitung. Ich habe das dreimal zusammen mit einem Freund, einmal auch ganz für mich allein gemacht. Hier ist die Gruppe, zu der ich zwangsläufig irgendwann gehöre, noch viel größer, aber ich brauche auch nicht die Beziehung zur kompletten Gruppe, sondern lediglich zu einigen wenigen Personen, die ebenfalls dazugehören. Beim Weg zum Stadion und dessen Einrichtungen wie Wurststand, Bierausschank, WCs, Eingang zum Block B entstehen sehr freundliche Kontakte, bei denen man sich über Fußball und die heute mal wieder schwierige Anreise mit den "Öffis" unterhält, keinesfalls aber über meine Blindheit. So komme ich fast genauso schnell zu meiner Stadionbratwurst, zu meinem Altbier und auch zu meinem Platz auf der Tribüne. Hier entstehen zweifellos keine nachhaltigen Beziehungen, aber sie entstehen und sind für den Augenblick hilfreich und nicht selten sogar schön. Einen Meinungsaustausch mit Fans erreiche ich hingegen nicht, wenn ich mit einem sehenden Begleiter ein Fußballspiel besuche, der dann mal eben 'ne Wurst holt oder sich in die Getränkeschlange einreiht, während ich am Rande warte.

Auf "Ohrhöhe"

Zufallskontakte im Bus, in der Bahn, beim Einkaufen sind meist auch nicht nachhaltig, aber ebenso wichtig, um einen Platz oder die richtige Ware zu finden. Das alles geht über Verbalisierung, meine Augen spielen dabei keine Rolle.

Mit den Ohren agieren, das geht, wenn auch nur einseitig. Zwei Menschen, die Blickkontakt miteinander aufnehmen, können sich gegenseitiges Interesse signalisieren, das Gehör empfängt Eindrücke, sendet aber nicht zurück. Anstatt eines optischen Eindrucks, der nicht selten zu Stigmatisierungen führt, vermittelt mein Hörsinn mir, ob mir eine Stimme gefällt, nicht gefällt oder egal ist; feinere Abstufungen können während einer Intensivierung des Kontakts entstehen. So habe ich tatsächlich auf dem Markt die Obst- und Gemüseverkäuferin meines Vertrauens kennengelernt, weil sie mit einer mich ansprechenden Stimme ihren Spargel und ihre süßen Beeren ausgesungen hat. Und da wir gerade bei den Ohren sind - es gibt zahlreiche Chatforen, auch mit Kontaktbörsen, bei denen man sich nicht sieht, wo man sich auf "Ohrenhöhe" begegnen kann. Auch hier heraus entstehen Beziehungen, wenn verschiedene Personen anhand des Sprechens merken, dass sie sich sympathisch sind, dass sie auf einer Wellenlänge schwimmen.

Blindheit als Makel?

Wenn ein Kontakt zwischen zwei blinden Menschen entsteht, ist das "sich sehen wollen" eher im übertragenen, nicht im wörtlichen Sinn zu verstehen; "man sieht sich", sagen auch blinde Menschen, wenn sie sich verabreden. Für Späterblindete Personen ist die Alltagssprache hingegen oft belastend, da reicht manchmal schon ein "Auf Wiedersehen", um Irritationen auszulösen; "Wir sehen uns doch gar nicht, wir hören uns nur", bekomme ich eventuell zur Antwort. Ist einer der Kontaktpartner sehend, kann es sein, dass er von der Blindheit des Anderen gar nichts weiß, da sehen können oder nicht in einem auditiven Chatroom keine Rolle spielt. Was dann leider auch passiert: Eine blinde Frau sucht eine Beziehung, gibt eine telefonische Anzeige auf, lernt jemanden kennen, man spricht einige Male miteinander und empfindet Sympathie, bis es Zeit ist, sich mal persönlich zu treffen. Doch kaum wird der sehende Mann auf die Blindheit der doch zuvor so sympathisch klingenden Frau aufmerksam, haut er ab. Ein anderer Fall, als ein Mann auf die Zeitungsannonce einer blinden Frau reagiert, sie anruft und sich vergewissert: "Und du bist blond?" "Nein", sagt die Frau, "nicht blond, ich bin blind." - "Was? Blind? Nee dann ...", und er legt auf.

Solche Beispiele mögen zeigen, dass Blindheit als ein großer Makel angesehen wird, weshalb viele Betroffene bemüht sind, ihre Blindheit zu verstecken, solange es geht. Aber im Leben geht das nicht lange, wenn der blinde Mensch seine Selbstständigkeit aufrechterhalten oder wieder zurückgewinnen will, denn dann muss er offensiv er selbst sein und klar zu seiner Behinderung stehen.

Assistive Hilfstechnologien bringen uns in die Lage, unseren Alltag weitgehend zu meistern und auch im Beruf unsere Aufgaben zu erfüllen. Mithilfe von Screenreadern mailen und chatten wir und bleiben akustisch oder schriftlich in Verbindung, wobei die Behinderung irrelevant ist. Als ich vor fast 20 Jahren erstmals Beziehungen zu taubblinden Menschen herstellte, um sie im Umgang mit Screenreader und Braillezeile zu unterrichten, habe ich begriffen, dass man nicht nur ohne Blickkontakt, sondern sogar ohne akustische Verbalisierung miteinander interagieren kann. Von einer Teilnehmerin an einem Computerseminar im Jahr 2005 bekomme ich bis in die Gegenwart mindestens eine virtuelle Grußkarte in Form einer Mail und antworte ihr natürlich. Noch nie hat sie mich gesehen und gehört, noch nie habe ich sie gesehen, aber beim schriftlichen Austausch spielt das alles keine Rolle.

Den Augenblick nutzen, Kontakt knüpfen

Kontaktaufnahme zu Gleichgesinnten fällt häufig leichter als in einer schwierigen Situation, wenn man gerade um Hilfe bitten muss. Das obige Beispiel im Stadion weist bereits darauf hin. Aber besonders auch Menschen, die in Begleitung eines Hundes unterwegs sind, schließen schnell Kontakte, schon allein, weil der Hund interessant ist und wenigstens angeschaut, noch besser gestreichelt werden muss. Hunde sind also ein guter Grund, erst recht dann, wenn beide sich Begegnenden mit Hund unterwegs sind; und wenn man hier häufiger spazieren geht, dann sieht man sich eben wieder, und aus dem Kontakt kann eine sich vertiefende Beziehung werden.

Kontakte ohne direkten Blick, das geht schon. Manchmal mag es schwerfallen, in einer anonymen Menge um Hilfe zu bitten, manchmal braucht es Überwindung, eine Person anzusprechen, die man nicht richtig ansehen kann, manchmal werden leider solche Versuche auch ignoriert; das Gegenüber tut so, als hätte es nichts gehört. Aber das Wort "manchmal" sagt es schon, oft geht es auch anders und ein Kontakt kommt zu Stande. Ob dieser sich dann zu einer Beziehung weiterentwickeln kann, darauf haben beide Seiten ihren Einfluss. Und man kann immer wieder telefonieren und chatten, sich themenspezifisch austauschen oder sich einfach vergnügt unterhalten. Alles das sollte jedem so oft wie möglich passieren, denn eine soziale Isolation, keine Freunde, keine Partner, wie intensiv auch immer, zu haben, führt zu Einsamkeit, eventuell wachsender Antriebslosigkeit und birgt die Gefahr einer Depression. Nicht jeder wird abgeholt, weil nicht jeder dort steht; doch jeder blinde Mensch sollte seine Mittel, seine Fähigkeiten einsetzen, um den Augenblick nicht zu verpassen, um blicklos Kontakte zu schließen.

Zum Autor

Der Diplom-Pädagoge Michael Plarre, geboren 1964 in Bochum, ist als Reha-Ausbilder in den Bereichen "Vorbereitende Maßnahmen", Punktschrift, PC- und Hilfsmittelschulung spezialisiert. Er legte 1985 sein Abitur an der blista ab und studierte in Marburg. Seit 21 Jahren lebt er mit seiner Frau in Bonn.

Bild: Michael Plarre lächelt. Er hat dunkelblondes Haar, blaue Augen und trägt auf der Studiofotografie ein Hemd in dunklem Karomuster.

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