Unsere Tochter Finja, 6 Jahre alt, ist mit einer Hirnfehlbildung aufgrund eines Gendefekts auf die Welt gekommen. Mit ca. vier Monaten ist bei ihr ein Pendelnystagmus festgestellt worden und der Ärztemarathon begann. Irgendwie war für uns alles normal und doch alles anders. Sie war unser erstes Kind und was soll schon sein - dachten wir anfangs noch. Mit acht Monaten haben wir die Diagnose bekommen - Hirnfehlbildung, Sehbehinderung, globale Entwicklungsverzögerung. Die Diagnose zog uns zunächst den Boden unter den Füßen weg und dennoch verspürte man eine Erleichterung - endlich eine Antwort auf die Frage "Was stimmt nicht?" bekommen zu haben. Die vermutliche Blindheit war jedoch nur ein Teil und rückte immer mehr in den Hintergrund. Anfang 2019 bekamen wir zusätzlich die Diagnose Epilepsie. Wir haben über ein halbes Jahr gebraucht, um diese in den Griff zu bekommen. Ihre Entwicklung erfuhr in dieser Zeit einen Stillstand. Das Sozialpädiatrische Zentrum (SPZ) in der Kinderklinik Gießen unterstützt uns bei allen Fragen und Problemen.
Bis heute ist jedoch der Kontrolltermin in der Augenklinik der unangenehmste Termin für uns. Da Finja nicht wie normal entwickelte Kinder an den Untersuchungen mitwirken kann, ist es für die Ärzte sehr schwer, eine Diagnose zu stellen. Und so ist es auch im normalen Alltag. Finja kann sich nicht im Detail äußern. Mittlerweile können wir erahnen, ob ihr etwas gefällt oder nicht, ob sie etwas wahrnimmt oder nicht. Aber sie kann uns einfach nicht sagen, was sie denkt, möchte oder beschäftigt. Und das ist sehr schwer und gerade mit jedem neuen Lebensjahr wird es schwerer.
Auch die Lücke zwischen ihr und den Kindern ohne Behinderung wird größer. Wir versuchen unser bestmögliches, Finja am normalen Leben teilhaben zu lassen. Gemeinsam mit ihrem kleinen Bruder versuchen wir Ausflüge zu machen und in den Urlaub zu fahren. Aber jedes Mal müssen wir auch überlegen, ist das Ausflugsziel barrierefrei, können wir dort mit einem Buggy fahren. Einfach mal wandern oder spazieren gehen ist nicht möglich, sondern muss geplant werden. Bei Schwimmbadbesuchen erfragen wir vorab telefonisch, wie die Umkleidemöglichkeiten für Menschen mit Behinderung sind und ob wir mit dem Rehabuggy in die Schwimmhalle dürfen. Finja kann nicht alleine sitzen und somit kann sie auch nicht die meist vor Ort zur Verfügung gestellten Rollstühle nutzen. Ein Erlebnis ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Wir wollten mit Finja ein Weihnachtskonzert unseres Patenkindes in einer Kirche besuchen. Der Kirchenraum ist jedoch nicht ebenerdig, sondern nur über mehrere Treppen zu erreichen. Es gibt einen Treppenlift zum Sitzen, aber diesen kann sie nicht nutzen. Ich habe meine Tochter mit 20 kg die Treppen hochgetragen. Und daran sieht man, banale Besuche und Veranstaltungen stellen uns jedes Mal vor organisatorische Probleme. Und einfach mal ins Auto setzen und irgendwohin fahren ist nicht möglich. Auch die Urlaubsorte werden mit Bedacht ausgewählt und auch schon mal die mögliche medizinische Versorgung rausgesucht. Die Behinderung hat Auswirkungen auf unser gesamtes Leben und Alltag - oftmals wird auch nicht erkannt, welcher organisatorischer und körperlicher Aufwand dahinter steckt. Freundschaften können nicht so gepflegt werden, wie man gerne möchte. Arbeiten geht nur, wenn man flexibel sein kann. Therapien, Arzttermin, Besuche der Reha-Techniker - alles muss geplant und organisiert werden.
Wir nutzen heute ein breites Netzwerk aus Ärzten, Therapeuten, Eltern und Institutionen und haben einiges an Erfahrungen gesammelt. Man steht ständig in einem engen Austausch und muss sich absprechen. Jeder hat einen besonderen Blick auf Finja, damit mögliche gesundheitliche und verhaltensauffällige Aspekte rechtzeitig erkannt werden. Bereits mit sechs Monaten hat sie Frühförderung - zunächst durch die Johann-Peter-Schäfer-Schule, seit April 2023 durch die blista - und Physiotherapie bekommen. Besuche in der Kinderklinik - planmäßig oder außerplanmäßig - sind selbstverständlich geworden und man kennt alles. In den letzten Jahren sind außerdem Logopädie und Musiktherapie hinzugekommen, zudem fahren wir zweimal im Jahr nach Baiersbronn zur Intensivtherapie und nehmen am Konzept "Auf die Beine" in Köln teil. Dabei handelt es sich um ein interdisziplinäres Behandlungskonzept für Kinder und Jugendliche mit eingeschränkter Bewegungsfähigkeit. Wir informieren uns immer wieder über neue Therapiemöglichkeiten und beabsichtigen, eine Reha für Finja zu machen. Es kann niemand eine Prognose für Finja geben, und somit versuchen wir, das bestmögliche zu erreichen, und kämpfen auch dafür. Hilfsmittel durch die Krankenkassen sind nicht selbstverständlich und mit viel Schreibarbeit verbunden. Und manche muss man aus eigener Tasche zahlen oder auch bei Stiftungen anfragen. Da wir im zweiten Stock im Elternhaus wohnen und wir auch hier bleiben möchten, wurden jetzt Umbaumaßnahmen erforderlich; da normale Treppenlifte uns nicht ausreichend unterstützen können, werden wir einen Außenlift installieren lassen. All diese das Wohnumfeld verbessernden Maßnahmen werden oftmals nur durch einen geringen Anteil bezuschusst.
Bisher besucht unsere Tochter den heimischen Kindergarten. Im Sommer soll sie jedoch in der Johann-Peter-Schäfer-Schule in Friedberg eingeschult werden. Ein weiterer großer Meilenstein, den sie erreichen wird und der bereits vorab enormen Organisationsaufwand erfordert - Beförderung, Teilhabe, Therapien. Hinzu kommen die eigenen Emotionen und die des Kindes, die die Einschulung mit sich bringt und sicher jeder kennen wird. Es wird auch schwer, da sie uns nicht erzählen kann, wie es in der Schule war und was ihr gefällt oder nicht. Gerade das ist für uns als Eltern eine enorme emotionale Belastung. Das finde ich eines der wesentlichen Punkte, denn Finja kann nicht ihre Bedürfnisse und Gefühle in Sprache ausdrücken. Es ist immer ein Vermuten und Überlegen.
Das Leben und der Alltag mit einem mehrfachbehinderten Kind bedeuten Planungen und Organisieren, Abwägen und Hoffen sowie Bürokratie. Und dennoch haben wir auch vieles erlebt, was uns sonst verschlossen geblieben wäre, und man lernt das Leben anders wertzuschätzen. Vieles bekommt eine neue Bedeutung. Es gibt viele Höhen und Tiefen, und man muss leider auch viele Abstriche machen.