Teil II: Systembedingte Ausnahmen im Rahmen der Schulbildung
Von Dr. Michael Richter
Zur Erinnerung: Teil I dieser kleinen Artikelserie (siehe horus 1/2023) befasste sich - kurz gesagt - mit dem 2020 durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) neu eingeführten Leistungsrecht der "Teilhabe an Bildung" (gem. § 112 i.V.m. § 75 SGB IX). Leistungen zu behinderungsbedingt notwendigen Unterstützungsbedarfen im Rahmen der schulischen Bildung (von der Vor- bis zur Hochschule) wurden bereits vor 2020 im Rahmen der Eingliederungshilfe erbracht. Vor der Reform durch das BTHG handelte es sich bei diesen Leistungen jedoch noch um einen Unterfall der Leistungen zur "Teilhabe zum Leben in der Gesellschaft" und war gesetzlich nicht so klarstellend geregelt. Die Erkenntnis, dass Bildung nicht nur schulisch erfolgt, dürfte nicht völlig überraschend sein, und man könnte jetzt meinen, gut, wir beschäftigen uns in diesem zweiten Artikel einfach mit dem Rest, d.h. der nichtschulischen Bildung. Guter Gedanke - aber dann hätten wir uns nicht mit sehr praxisrelevanten Ausnahmen des Sozialrechts und Grenzfällen beschäftigt, was wir aber natürlich nicht versäumen wollen, und deshalb vermutlich auch noch einen III. Teil zum Leistungsrecht in Sachen Bildung in dieser kleinen Serie anfügen müssen.
Befassen wir uns also mit den Ausnahmen, d.h. mit anderen denkbaren Kostenträgern für behinderungsbedingte Bedarfe im Rahmen der Teilhabe an der schulischen Bildung.
1. Gesetzliche Krankenversicherung
An erster Stelle ist hier die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) zu nennen. Hier heißt es in einer richtungsweisenden Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 22.07.2004 (Az.: B 3 KR 13/03 R) im Leitsatz "Eine Krankenkasse hat einen behinderten Schüler einer Sonderschule oder Regelschule nur dann mit einem der Herstellung oder Sicherung seiner Schulfähigkeit dienenden Hilfsmittel auszustatten, wenn er noch der Schulpflicht unterliegt."
Weiterhin führt das BSG dann aus: "Zu den von der höchstrichterlichen Rechtsprechung seit langer Zeit anerkannten Aufgaben der GKV gehört allerdings die Herstellung und die Sicherung der Schulfähigkeit eines Schülers bzw. der Erwerb einer elementaren Schulausbildung (BSGE 30, 151, 154; BSG SozR 2200 § 182 Nr. 73; BSG SozR 2200 § 182b Nr. 28; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 22 und 40)." Dies ergäbe sich aus der historischen Entwicklung der Hilfsmittelversorgung in der Krankenversicherung, denn die Schulfähigkeit bzw. der Erwerb einer elementaren Schulausbildung seien als allgemeines Grundbedürfnis eines Schülers anerkannt (BSGE 30, 151, 154; 33, 263, 265; BSG SozR 2200 § 182 Nr. 73; BSG SozR 2200 § 182b Nr. 28). Die Schulfähigkeit sei aber nur insoweit als allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens i. S. des § 33 SGB V anzusehen, als es um die Vermittlung von grundlegendem schulischem Allgemeinwissen an Schüler im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht ginge. Die Landesgesetzgeber hätten den Erwerb eines alltagsrelevanten Grundwissens und der für das tägliche Leben notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten mit der bindenden Verpflichtung aller Kinder, die im jeweiligen Bundesland leben, zum Besuch einer Schule angeordnet und gingen davon aus, dass dieses "Grundwissen" in neun, maximal aber zehn Jahren (am Erreichen des Hauptschulabschlusses orientierte Dauer der Schulpflicht) vermittelt wird und erlernbar ist. Wenn die Krankenversicherung dafür einzustehen habe, Behinderten im Wege der medizinischen Rehabilitation die notwendige Kompetenz zur Bewältigung des Alltags zu vermitteln, so müsste sie zwar die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Behinderte das staatlicherseits als Minimum angesehene Maß an Bildung erwerben und die ihnen insoweit auferlegten staatsbürgerlichen Pflichten erfüllen können müssten; darüberhinausgehende Bildungsziele habe sie aber nicht mehr zu fördern. Im Ergebnis ergibt sich also eine Zuständigkeit der gesetzlichen Krankenkassen für Hilfsmittel im Sinne des § 33 SGB V, d.h. für solche Dinge, die speziell zum Ausgleich der Behinderung hergestellt wurden (Herstellerhorizont) und für die Schule gebraucht werden.
2. Gesetzliche Unfallversicherung
Die gesetzliche Unfallversicherung ist ein Leistungsträger im Kontext der schulischen Bildung, der nur äußerst selten für Leistungen zuständig ist. Die Zuständigkeit der gesetzlichen Unfallversicherung ergibt sich immer aus der Regulierung eines bestimmten Unfallgeschehens (vgl. § 2 SGB VII), für Schüler z.B. durch einen Unfall auf dem direkten Weg zur, in oder von der Schule. Die Betroffenen kennen in der Regel über die Anerkennung eines solchen "Unfallgeschehens" diese "Sonderzuständigkeit" und es kommt selten zu Problemen in der Leistungsgewährung, so dass an dieser Stelle keine weiteren Ausführungen erfolgen.
3. BAföG
In der Regel besteht für Menschen mit einer Behinderung im Rahmen des Besuchs einer weiterführenden Schule inkl. Internatsunterbringung auch ein ergänzender Anspruch auf BAföG-Leistungen. Zum Verhältnis von BAföG und Eingliederungshilfe hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 02.12.2009 (Az.: 5 C 33.08) grundlegend festgestellt, dass die auswärtige Unterbringung und Betreuung einer behinderten Auszubildenden in einem Internat im Sinne des § 14a Satz 1 Nr. 1 Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) in einem "unmittelbaren Zusammenhang" mit der Ausbildung stehe, wenn erst sie den Besuch einer der Behinderung der Auszubildenden entsprechenden schulischen Ausbildungsstätte ermöglicht, weil eine solche von der Wohnung der Eltern aus nicht täglich erreichbar sei. Ein nach § 14a Satz 1 Nr. 1 BAföG hinreichender unmittelbarer Zusammenhang zwischen einer Ausbildung und der Internatsunterbringung bestehe dann, wenn ohne die auswärtige Unterbringung eine der Behinderung entsprechende Ausbildungsstätte nicht besucht werden könnte, weil sie vom Wohnort der Eltern aus nicht täglich erreichbar sei, und die Internatsbetreuung nicht ausschließlich oder vorrangig wegen der Art und Schwere einer Behinderung oder sonst zur Sicherung des Erfolges der Teilhabe notwendig wird. Bei einer derart aus Entfernungsgründen erforderlichen auswärtigen Unterbringung entfalle der unmittelbare Zusammenhang mit der Ausbildung nicht schon deswegen, weil die Behinderung für die Wahl der speziellen Ausbildungsstätte maßgebend sei und ohne die Behinderung eine wohnortnahe allgemeine Ausbildungsstätte (hier: gymnasiale Oberstufe an einem allgemeinen Gymnasium) besucht werden könnte. Dem sozialgestaltenden, leistenden Gesetz- oder Verordnungsgeber sei ein weiter Gestaltungsspielraum zuzubilligen, welchem Sozialleistungssystem er die bedarfsgerechte und bedarfsdeckende Hilfeleistung zuordne. Die Sicherung gleichberechtigter Teilhabe behinderter Menschen am Leben in der Gemeinschaft und insbesondere im Bereich der schulischen und beruflichen Bildung habe Bedeutung für alle Leistungsbereiche und sei nicht auf die Leistungen der Eingliederungshilfe im Rahmen der Sozialhilfe beschränkt. Soweit das Ausbildungsförderungsrecht Raum für eine Auslegung lasse, bei der durch die Gewährung von Zusatzleistungen der Ausbildungsförderung besondere Aufwendungen gedeckt werden könnten, die einem Menschen mit Behinderung als Folge der zufälligen - von seiner Behinderung unabhängigen - örtlichen Lage der behinderungsgerechten Ausbildungsstätten entstehen, spricht Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz (GG) dafür, dass dann auch Ausbildungsförderung zu gewähren sei. Damit werde zugleich am besten der in § 1 BAföG zum Ausdruck kommende Grundgedanke verwirklicht, allen jungen Menschen - in gleicher Weise und ohne Rücksicht auf eine Behinderung - den Zugang zu einer den individuellen Fähigkeiten und Neigungen entsprechenden Bildung zu ermöglichen.
Diese Entscheidung führt in der Praxis allerdings nur dazu, dass Schüler ab dem Besuch der Oberstufe für den Besuch einer speziellen Schule inkl. Internat auch BAföG-Leistungen beantragen müssen. In der Regel reichen die BAföG-Leistungen aber nicht aus, die vollständigen Schul- und Internatskosten zu decken, d.h. der Eingliederungshilfeträger vereinnahmt diese Leistungen nur, um seine eigene Belastung zu reduzieren. Da aber ein Anspruch auf diese Leistung besteht, resultiert durch das berechtigte Interesse des Eingliederungshilfeträgers an der möglichen Reduzierung seiner finanziellen Belastung eine Mitwirkungspflicht der Anspruchsberechtigten, d.h. der Aufforderung, einen entsprechenden Antrag auf BAföG-Leistungen zu stellen, sollte nachgekommen werden.