Ein Grundschulkind hört, dass es zum Mittagessen Karotten geben soll. In erstklassig schauspielerischer Leistung windet es sich in vielen Kurven und als müsse es sich schon bei der Nachricht allein fast übergeben zu seinem Essplatz. Ein Mitschüler sagt aufmunternd: Aber hör mal, Karotten sind wirklich ganz gut für die Augen. Der blinde Junge stampft auf und sagt vollkommen überzeugt: Ich möchte aber gar nicht sehen können!

Ein Schüler der beruflichen Orientierung wird an der Bushaltestelle von einer Dame mit Rollator angesprochen. Das sei aber schlimm, dass er nicht sehen könne! Locker verneint er, dass er das gar nicht schlimm fände. Das käme bestimmt davon, dass er es nicht anders kennen würde, hakt die Dame nach. Er antwortet, dass er wirklich gar nicht sehen können wolle. Das sei sicher auch nicht anders, wenn er mal gesehen habe. Aber er könne es sich tatsächlich nicht vorstellen, im Rollstuhl zu sitzen. Das sei ja schrecklich und nicht mehr lebenswert. Da erzählt die ältere Dame, dass sie einen Rollator habe und damit sehr gut zurechtkäme. Er ist sehr erstaunt.

Eine Gruppe sitzt im Kreis und bekommt Steine ausgeteilt. Sie sollen die Steine im Kreis herumgeben, bis sie ihren eigenen wieder in der Hand halten. Schwierig. Sie sehen alle so gleich aus! Ok, Augen zu! Ach, da spüren die Finger plötzlich so deutlich hier eine winzige Unebenheit, die beim Tasten so deutlich auffällt. Ein anderer Stein hat eine kleine Rinne und der nächste fühlt sich deutlich gedrungener an. Am Ende öffnen alle die Augen und wundern sich, welche mächtigen Eindrücke über den Tastsinn vermittelt werden, die für die Augen nur mit Mühe überhaupt erkannt werden.

Die Augen sind im Alltag sehr prägend, dominant, ja, von scheinbarer "Richtigkeit". Wer schon mal einen Gegenstand oder Raum mit geschlossenen Augen erkundet und danach die Augen geöffnet hat, hat meist ein Aha-Erlebnis: Ach so sieht das in Wirklichkeit aus! Erst der Sehsinn urteilt also über die Richtigkeit. Ganz schnell werden die vielen Eindrücke, die vorher gesammelt wurden, abgeglichen mit der Sehwirklichkeit und häufig als weniger richtig beurteilt. "Das kam mir viel größer vor als in Wirklichkeit!" "Das hat ganz anders geklungen als in echt." "Ach, das ist ein Pinguin!" Dabei ist es ein Plüschknäuel, der mit einem echten Pinguin sehr wenig bis gar nichts zu tun hat.

Das hat zum einen zur Folge, dass Sehende Nichtsehen als schrecklich oder bedauernswert bezeichnen. Weshalb Nichtsehende sich als unvollständig und bemitleidenswert betrachtet wahrnehmen und entweder einstimmen oder sich wehren müssen. Oder sie versuchen so sehend wie möglich zu wirken, denn das ist ja das Richtige und Komplette und Erstrebenswerte.

Eine weitere Folge ist, dass Sehende sich kaum auf eine andere Wahrnehmungswelt einstellen können. Schnee muss weiß und am besten mit Watte dargestellt werden, weil das doch optisch der Sache am nächsten kommt. Dass Schnee auch als hauptsächlich kalt und feucht erlebt werden kann und Watte dazu gar nicht passt, die warm und weich daherkommt, hm... Sehende, die aus dem Überblick heraus denken und schon den übernächsten Schritt im Fokus haben, haben häufig unfassbare Schwierigkeiten, sich auf das Hier und Jetzt zu fokussieren. Genau da ist aber die Stärke derer, die genau dort mit ihrer Wahrnehmung sind: Beim Knirschen des Sandes unter der Schuhsohle, das beim Hin- und Herbewegen immer neu erzeugt werden kann. Aber zack, zack, weiter geht's. Beim von der Schulter rutschenden Jackenteil, das kitzelt. Aber zack, zack, weiter geht's. Beim Einatmen des besonderen Geruchs der Sporthalle. Aber zack, zack, weiter geht's. Die Sehenden haben ihr Programm und hören nicht, spüren nicht, riechen nicht.

Könnten wir vielleicht viel mehr voneinander profitieren? Viele Menschen bekunden, dass sie mit kleinen Kindern wieder neu die Welt entdecken, an der sie im Alltag vorbeihuschen. Also: Neu Innehalten. Neu Wahrnehmen.

Ich bekunde, dass alle Menschen, die ihren Zugang zur Welt auf andere Art und Weise finden, mich bereichern, wenn ich meine Wahrnehmungszugänge zurückstelle und mich so gut ich kann einlasse, einfühle in diese anderen Zugänge.

Und da kommen mir doch auch meine Augen zu Hilfe. Ich übe mich in Beobachtung. Und am schönsten ist es, wenn ich das zusammen tue mit Eltern, mit einer Kollegin, mit einem Passanten. Wir bekommen Wertschätzung, Hochachtung, Freude geschenkt. Dazu ganz nebenbei bekommen wir auch Zeit geschenkt. Es muss nicht mehr zack, zack weiter gehen, sondern das angebliche Weniger wird mehr und reicher und intensiver und tiefer.

Der Junge, frisch erblindet und mit Hörgeräten, experimentiert zum ersten Mal mit dem Langstock. Seine Kreativität beeindruckt. Den Eltern und mir ist nicht aufgefallen, wie elastisch der von Nässe vollgesaugte Rasen ist. Die auf- und niedergedrückte Stockspitze schwingt mit. Die Hände fühlen nach. Ich mache mit und finde, dass es sich wunderbar anfühlt.

Am nächsten Tag darf ich teilhaben an einem für mich nicht ersichtlichen Forschungsprojekt einiger blinder Kinder: Ein Pfad hinterm Brückengeländer die Uferböschung runter. Den Weg hat der Stock gefunden und wir folgen ihm neugierig. Gemeinsam stellen wir den Zusammenhang her zwischen drüber und drunter, zwischen Hangschräge und Veränderung im Verhältnis zum Brückengeländer. Das fühlt sich tatsächlich sehr eindrücklich an.

Ein anderes Kind, blind, Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung, im Rollstuhl unterwegs, fährt am liebsten rückwärts und mag es, gegen etwas zu fahren. Je nach dem klingt das ja verschieden - Regal, Tisch, Tür, Sofa. Gemeinsam mit der Kollegin staune ich über die Orientierung im Raum, die auf diese Weise entsteht. Lieblingskollisionen werden gezielt angesteuert. Wir können das ja nutzen für wichtige Raumplätze und Einrichtung von attraktiven Arbeitsstationen. Und: rückwärts ist man ja auch viel besser geschützt als vorwärts. Clever!

Das Mädchen, blind, Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung, mit starken O-Beinen, bekommt einen Stock in die Hand. Gleich schwingt sie ihn gegen das Geländer und freut sich am Geräusch. Die Effekte der Rollspitze entdeckt sie sofort und lässt den Stock über den Boden sausen, hebt ihn an und lauscht dem Drehgeräusch. Da saust der Stock über eine Bodenleitlinie. Sie setzt sich auf den Boden und tastet nach. Wiederholt mit Stock und Hand. Das Ziel Klassenzimmer kommt auch irgendwann mal wieder...

Mein Beobachten und Mitgenießen haben Konsequenzen: Ich beobachte auch mich. Auch ich brauche Grenzen, Sehgrenzen, an denen ich mich entlanghangle. An welchen Begrenzungen darf sich der Mensch im Rollstuhl entlang bewegen? Ich spüre meine Bewegung und ich sehe die Veränderung der an mir vorbeiziehenden Umwelt. Wie erlebt ein Mensch im Rollstuhl das? Welche Wahrnehmung ermögliche ich ihm diesbezüglich?

Zur Autorin

Rehalehrerin und Montessoripädagogin Gisela Troost ist an der Schule und im überregionalen Beratungs- und Förderzentrum Sehen der Johann-Peter-Schäfer-Schule in Friedberg/Hessen tätig. Zuvor hat sie u. a. an der Schule für mehrfach beeinträchtigte Kinder und Jugendliche der Nikolauspflege Stuttgart die Bereiche Lebenspraktische Fähigkeiten (LPF) und Orientierung und Mobilität (O&M) aufgebaut und die Inhalte im Kollegium etabliert. Als Referentin zum Thema "Orientierung und Mobilität für alle" ist ihr u. a. die Sensibilisierung sehender Menschen ein großes Anliegen. Ehrenamtlich engagiert sich Gisela Troost im Verband für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik e. V., Landesverband Hessen.
Kontakt: gisela.troost@lwv-hessen.de

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