Die spielerischen Elemente kommen in meinem Alltag eindeutig zu kurz. Zwar erlaubt mir mein Beruf schon kreative Betätigung, aber als spielerisch würde ich das eher nicht bezeichnen, allenfalls bei gelegentlichen Moderationen kann ich im Berufsalltag meiner spielerischen Ader nachgehen, was ich dann auch sehr genieße. Zudem ist mein politisches Ehrenamt, das ich mit großer Leidenschaft betreibe, nicht unbedingt gut verträglich mit einer meiner weiteren Leidenschaften, dem Theaterspielen. Oftmals bin ich drei bis vier Abende pro Woche in Sachen Politik unterwegs, und das Wochenende lässt sich auch nicht immer aussparen, wenn es um Termine oder Veranstaltungen geht, die ich als Kommunalpolitiker besuchen sollte. Da bin ich - ehrlich gesagt -oft froh, wenn ich abends mal keine Termine, Sitzungen oder Veranstaltungen habe und gemütlich zuhause Zeit verbringen kann.

Trotzdem habe ich nicht lange gezögert, als Magdalena Kaim von "Theater Gegenstand" aus Marburg gefragt hat, ob ich bei der Wiederaufnahme von "Eine Weihnachtsgeschichte" nach dem Klassiker von Charles Dickens wieder mit von der Partie wäre. Das bedeutet Textlernen, Probentermine, die, je näher wir an die Premiere kommen, intensiver und häufiger werden, und insgesamt zehn Vorstellungen an zwei aufeinanderfolgenden Wochenenden. Also: Viel zu investierende Zeit, die bei mir ohnehin rar gesät ist. Weshalb habe ich dann mitgemacht, wo mir doch das ziellose Zuhause-Herumgammeln so oft zu kurz kommt? Ganz einfach! Weil Theaterspielen mich einfach glücklich macht. Wieso das so ist, davon möchte ich in diesem Beitrag erzählen.

Bei der "Weihnachtsgeschichte" habe ich die gleiche Rolle übernommen, die ich in den ersten Staffeln 2014 und 2015 bereits gespielt habe: den toten Kompagnon von Ebenezer Scrooge, der Hauptfigur, Jacob Marley. Diese Figur tritt recht zu Beginn des Stücks für nicht mehr als fünf Minuten auf, ist für den Fortgang der Geschichte aber wichtig. Das Besondere an meiner Figur ist, dass ich ziemlich aufwendig geschminkt und kostümiert bin. Ich sage es mal vorsichtig, man sieht meiner Figur schon an, dass sie seit sieben Jahren verstorben ist. Zerfetzte Klamotten, mit Eisenketten behangen und mit Mehl eingestäubt bin ich nicht gerade mit Liebreiz gesegnet. Dazu der Theaternebel, das grüne Licht und die unheimliche Musik, die meine Auftritte einleitet. Das alles kannte ich schon. Und, ja ich muss sagen, dass ich mich von Anfang an wieder darauf gefreut habe, diesen gruseligen Auftritt aufs Parkett legen zu dürfen.

Bevor es soweit war, ging es aber daran, den Text zu lernen und in den Proben "wieder rein" zu kommen. Der Text saß recht schnell wieder. Mein Gegenüber auf der Bühne, Ebenezer Scrooge, wurde dieses Mal von einem anderen Darsteller gespielt als bei den letzten Aufführungen. Daher war ich gespannt, wie das Zusammenspiel funktionieren würde und ob ich meine Gesten und Bewegungen wiederfinden würde, die ich als Jacob Marley damals mit Magdalena zusammen entwickelt hatte. Ich war ehrlich gesagt überrascht. Sobald der Text saß und ich ihn mit donnernder, mahnend-bedrohlicher Stimmlage schmetterte, kamen die alten Bewegungsabläufe und Gestiken, ja sogar die Betonungen wie von Zauberhand wieder aus dem Orkus der Erinnerung hervor.

Da meine Rolle, wie gesagt, nicht länger als fünf Minuten Bühnenpräsenz bedarf, hielt sich der Probenaufwand für mich auch in Grenzen. Bis zu dem Zeitpunkt, wo wir in die heiße Phase der Endproben einstiegen. Was zeitlich schon herausfordernd ist, aber genau immer der Zeitpunkt ist, an dem mir wieder und wieder klar wird, weshalb ich Theaterspielen so liebe. Ab dem Moment, wo die Premiere vor der Tür steht und die intensiven Probenphasen beginnen, steigt das Bühnenfieber, das ganze Ensemble spürt, dass die gesammelte Energie bald komplett ins gemeinsame Spiel fließen wird. Man ist wie in einem Tunnel, es dreht sich alles nur noch um Theaterspielen.

In der Woche der ersten Aufführungen waren jeden Abend Endproben, inklusive aufwendigen Schminkens und Kostümierens. Wir spielen das komplette Stück mehrfach durch, die eine oder andere Szene funktioniert noch nicht so wie gewünscht, die Technik wie Beleuchtung und Musik muss sich erst noch einruckeln, weil wir jetzt erstmals im Theatersaal mit dem kompletten Bühnenbild spielen können. Alle Ensemblemitglieder kommen direkt nach ihrer Arbeit ins Theater und legen neben ihren regulären Alltagsklamotten auch ihren Alltag ab und tauchen mit den Theaterkostümen komplett in eine andere Welt ab.

Das ist jedes Mal fast magisch, wenn man spürt, dass es jetzt beginnt, das Theaterspielen, das gemeinsame Spiel auf der Bühne. Füreinander und - vor allem - für das Publikum.

Und dann ist es soweit. Die Premiere steht vor der Tür. Ausverkauftes Haus, wie alle zehn Vorstellungen der "Weihnachtsgeschichte" im vergangenen Dezember. Kurz bevor es losgeht, sind alle doch irgendwie aufgeregt, ein mulmiges Gefühl beschleicht mich, obwohl ich eigentlich nicht sonderlich nervös bin vor Auftritten. Wir befinden uns während des Stücks hinter der Bühne, nicht direkt im Theatersaal, und können somit nur hören, was auf der Bühne geschieht. Das Stimmengemurmel der Zuschauer*innen, der weihnachtliche Gesang von Teilen unseres Ensembles als Opener fürs Publikum. Und dann gehts los. Man spürt recht schnell, wie die Vorstellung läuft. Aha! An dieser Stelle wurde heute nicht gelacht, an dieser aber schon. Das Publikum ist aber still heute.... Oh, es gibt ja jetzt schon Szenenapplaus.

Das gesamte Ensemble verfolgt hinter der Bühne das Geschehen auf der Bühne, diejenigen, die mit ihrer Szene erstmal durch sind, kommen nach hinten und berichten flüsternd von ihren Erlebnissen oder kleinen Pannen, die aber außer ihnen niemand bemerkt hat. Andere müssen sich binnen Sekunden in atemberaubender Geschwindigkeit abschminken und umziehen, weil sie in drei Minuten in eine andere Rolle schlüpfen müssen. Und wir frieren zusammen, da es im Backstagebereich, wo wir während der Aufführungen auf unseren Einsatz warten, passend zum winterlichen Ambiente des Stücks, bitterkalt und fröstelig zugeht.

Dann ist mein Auftritt an der Reihe. Ich bewege mich mit meinem unkenntlich gemachten und als Stützstock verwendeten Blindenstock und betrete unter Kettenrasseln die Bühne, lasse mir Zeit mit meinen Worten und beginne damit, die Läuterung von Scrooge einzuleiten. Während ich so auf der Bühne stehe, bin ich hochkonzentriert, achte vor allen Dingen auf das, was mein Gegenüber tut und sagt, konzentriere mich auf meinen Text, auf meinen Auftritt. Gelegentlich kann ich aber auch Reaktionen des Publikums wahrnehmen... Dieses Mal habe ich keine weinenden Kinder gehört, die sich aufgrund meines Aussehens erschrecken, nur einmal rief jemand, als ich die Bühne betrat: "Ach du Scheiße!"

Dann ist mein kurzes Gastspiel auf der Bühne auch schon vorbei, und ich ziehe mich wieder in den frostigen Backstagebereich zurück. Trotzdem bin ich wie gebannt und lausche auf das Lachen der Zuschauer. Auch das Naseschnäuzen und ins Taschentuch schniefen kann man hören, wenn es traurig auf der Bühne wird. Zum Schluss des Stücks kommen wir alle nochmal auf die Bühne und singen ein Weihnachtslied. Dann bin ich jedes Mal gerührt, weil es so viel Applaus und positive Reaktionen des Publikums gibt. Alle Schauspieler*innen spüren das. Man spürt, dass etwas vom Publikum zurückkommt. Manchmal irren wir uns aber. So manches Publikum, das wir als eher zurückhaltend charakterisiert haben, kriegt sich beim Schlussapplaus gar nicht mehr ein und klatscht ohne Unterlass.

"Eine Weihnachtsgeschichte" ist wahrlich nicht mein erstes Theaterstück, bei dem ich beteiligt bin. Doch habe ich dieses Mal erstmals wirklich ganz unmittelbaren Kontakt zum Publikum aufgenommen. Eine Schauspielkollegin, die im Stück eine Dame der Heilsarmee spielt und auch nach dem Stück beim Publikum um Spenden bittet, kam zu mir und meinte, dass ich doch nach vorne kommen sollte, weil ein kleines Mädchen unbedingt ein Foto mit mir machen wollte, traute sich aber nicht, weil ich so gruselig aussehe. Das wiederholte sich dann bei manchen Aufführungen. Ich habe Selfies mit Kindern und deren Eltern gemacht. Einmal bemerkte ich nicht, weil ich ja nichts sehen kann, dass sich vor mir eine Traube von mehreren Kindern versammelt hatte, die mich ganz fasziniert anstarrten und sich nicht trauten mich anzusprechen. Bis dann eines von ihnen fragte: "Bist du wirklich echt?"

Die unmittelbare, unverstellte Reaktion des Publikums, ob klein oder groß, das gemeinsame Erlebnis vor und hinter der Bühne und das absolute Einlassen auf eine andere Welt als die des hektischen Alltagskleinklein ist das, was mich an Theaterspiel so fasziniert.

Nach den Stücken sitzen wir oft noch zusammen, essen gemeinsam, gehen nochmal die Szenen des Stücks durch und sind absolut erschöpft und platt, aber glücklich.

Weil es Freude bereitet, Freude zu bereiten. Es macht Spaß, sich mit Haut und Haaren voll und ganz einer Theaterproduktion hinzugeben. Und ist dann schon ein wenig schwer, das gebe ich zu, danach wieder den Bühnenmodus auszuschalten und sich mit kommunalpolitischem Alltag wie Bebauungsplänen oder einer Besuchsanfrage einer Schulklasse für den blistaCampus zu beschäftigen.

Ich brauche aber nicht allzu lange, um den Alltag wieder wertzuschätzen, und dann denke ich immer: Würde mich Theaterspielen auch so zufrieden und glücklich machen, wenn es meine Hauptbeschäftigung wäre? Vermutlich nicht.

Deswegen bin ich froh, dass es "nur" eine meiner Leidenschaften ist, dafür aber eine meiner liebsten. So gönne ich mir gelegentlich den Luxus, die heiß ersehnte Couch auszuschlagen und abzutauchen ins Theaterspielen.

Ich wäre auf jeden Fall wieder mit dabei, wenn sich auch im Dezember 2024 in der Marburger Waggonhalle wieder die Pforten für Ebenezer Scrooge, die drei Geister und "Eine Weihnachtsgeschichte" öffnen würden. Ganz sicher!

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