Von Sabriye Tenberken
Durch unsere internationalen Kontakte haben wir die Möglichkeit, Debatten zum Thema Integration und Inklusion in den sog. Entwicklungsländern und in Europa zu verfolgen. Wir wundern uns, dass es immer wieder um die folgenden "Gegensätze" zu gehen scheint: Regelschule = Inklusion und Förderschule = Exklusion. Dabei würden wir uns vielmehr eine kritische Auseinandersetzung über die Diskrepanz von "wohlgemeinter Theorie" und oft undurchdachter Praxis wünschen.
Ich selbst bin blind und daher werde ich mich hauptsächlich auf die Situation der Blinden und Sehbehinderten beziehen. Ich war auf einer Förderschule und bin in der Lage, mein Leben in die Hand zu nehmen, eben weil ich entsprechend gefördert wurde. Mit 12 Jahren entschloss ich mich, einen Integrationsversuch in einer Regelschule abzubrechen und auf das Marburger Gymnasium für Blinde und Sehbehinderte (kurz: blista) zu wechseln. Für mich war das ein Glücksfall.
Was macht die blista zu einer hervorragenden Förderschule?
- Kleine übersichtliche Klassen
- Hoch motivierte Lehrkräfte, die durch kreative und interdisziplinäre Unterrichtsansätze die Schüler zum kritischen Denken anregen
- Unterricht, der die Schüler zu Problemlösungen anregt, der fordert und nicht zu geringe Ansprüche stellt.
- Ein Medienzentrum, das den Lehrern hilft, naturwissenschaftliche und mathematische Konzepte taktil und akustisch aufzuarbeiten.
- Ein umfassender Sportunterricht mit den mannigfaltigsten Angeboten (von Ballspielen über "Risiko-Sport", wie Reiten, Voltigieren, Kayak-fahren, Skifahren, Windsurfen und Trampolinspringen)
- Intensives Training in lebenspraktischen Fertigkeiten, Lesen und Schreiben in Brailleschrift, Mobilität und Orientierung.
Die Mutter eines blinden Kindes kam mal zu mir und sagte: "Mein Sohn ist so begabt, der braucht nicht nach Marburg, er kann auf eine Regelschule." Ich habe dann mal nachgefragt, wie das denn im Sportunterricht oder in naturwissenschaftlichen Fächern liefe. Und da wurde sie ein wenig nachdenklich. Der blinde Sohn aber, der bis dahin nicht viel gesagt hatte, wurde lebendig und meinte, dass Sport langweilig sei und Mathe und Naturwissenschaften nicht so sein Ding seien. Das mag sein. Viele sehende Kinder mögen das ähnlich sehen. Die Frage ist nur, ist es ihm vielleicht langweilig, weil er nicht entsprechend darin gefördert werden kann?
Wir treffen auf unseren Vortragsreisen in Deutschland oft auf Lehrer und Sonderpädagogen, die der Inklusion aus eigener Erfahrung kritisch gegenüberstehen und auf blinde Schülerinnen und Schüler, die sich von der Inklusions-Euphorie ihrer Eltern nicht haben anstecken lassen. Warum nicht? Vielleicht weil es bei vielen Inklusions-Versuchen zwar um wohlgemeinte karitative Maßnahmen, aber nicht um wirkliche Förderung geht?
Was bedeutet "Inklusion" eigentlich?
Man kann zwischen der ursprünglichen lateinischen Wortbedeutung und einer gesellschaftlichen Definition unterscheiden. Gibt man in eine Suchmaschine "Inklusion Bedeutung" ein, stolpert man schnell über eine soziologische Definition. Ich zitiere:
"Als soziologischer Begriff beschreibt das Konzept der Inklusion eine Gesellschaft, in der jeder Mensch akzeptiert wird und gleichberechtigt und selbstbestimmt an dieser teilhaben kann - unabhängig von Geschlecht, Alter oder Herkunft, von Religionszugehörigkeit oder Bildung, von eventuellen Behinderungen oder sonstigen individuellen Merkmalen. ... So auch im Bereich der Bildung. Die inklusive Pädagogik beschreibt einen Ansatz, der im Wesentlichen auf der Wertschätzung der Vielfalt beruht. In einem inklusiven Bildungssystem lernen Menschen mit und ohne Behinderungen von Anfang an gemeinsam. Homogene und damit separierende Lerngruppen werden nicht gebildet. Von der Kindertagesstätte über die Schulen und Hochschulen bis hin zu Einrichtungen der Weiterbildung wird niemand aufgrund einer Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen. Vielmehr ist es die Aufgabe des Bildungssystems, durch Bereitstellen von speziellen Mitteln und Methoden einzelne Lernende besonders zu unterstützen und zu fördern. Nicht das Individuum muss sich also an ein bestimmtes System anpassen, sondern das System muss umgekehrt die Bedürfnisse aller Lernenden berücksichtigen und sich gegebenenfalls anpassen." (Autorin: Andrea Schöb, Juli 2013)
Dies ist eine sehr gute umfassende Beschreibung des Sollzustandes. Betrachten wir aber den Istzustand der Inklusion, so hilft es vielleicht, der ursprünglichen lateinischen Bedeutung "includere" auf den Grund zu gehen:
"Includere" heißt wörtlich übersetzt "einschließen"
Ich kenne diesen Begriff aus der Mineralogie (Einschluss von Fremdsubstanzen) und ich stelle mir jedes Mal, wenn ich das Wort "Inklusion" höre, einen Bernstein mit einem eingeschlossenen Insekt vor; sieht hübsch aus, aber das Insekt ist gefangen und kann sich nicht wirklich einbringen.
Zwar verändern sich Wortbedeutungen durch den Zeitgeist. Aber ich glaube, dass die ursprüngliche Bedeutung eines Wortes eine gewisse Gravitationskraft behält. Das würde in unserem Zusammenhang bedeuten: Einschluss eines blinden Kindes in eine Klassengemeinschaft von Sehenden. Wie wirkt sich das aus?
Unter Leistungsgesichtspunkten scheint Einschluss zu funktionieren. Viele blinde Schüler haben gute Noten, und nicht selten machen sie ihr Abitur an Regelschulen.
Sind aber gute Noten die einzigen Erfolgskriterien? Wie wäre es, wenn man zu den gängigen Erfolgskriterien auch Bildung eines guten Selbstbewusstseins, Fähigkeit Probleme zu lösen, eigenständig Freundschaften zu schließen, mobil zu sein und damit sein Leben selbstständig in die Hand nehmen zu können zählt? Ist es nicht für jeden wichtig, das Gefühl zu haben, gleich unter Gleichen zu sein und sich aktiv einbringen zu können?
Wir stellen uns zurzeit die Frage, ob sich blinde Kinder unter den jetzt gegebenen Bedingungen eigenständig am Integrationsprozess beteiligen können. Wir haben unsere Zweifel. Blinde Schüler aus Regelschulen erzählen uns, dass sie zwar in den meisten Unterrichtsfächern mithalten können, aber oft nicht einbezogen werden, wenn es den Lehrern oder auch Mitschülern zu kompliziert wird. Besonders im Sport, bei sozialen Aktivitäten und im naturwissenschaftlich technischen Bereich werden sie oft außenvor gelassen.
Das führt mich zu einem weiteren Punkt: Education light - "Ausbildung ja, aber bitte ohne Mathe, Technik und Naturwissenschaften."
Es gibt in den Inklusionsschulen sowohl in Deutschland als auch in den sogenannten Entwicklungsländern eine berechtigte Scheu davor, Blinde in Mathematik und natürlich auch in den Naturwissenschaften zu unterrichten.
In unserer Wahlheimat Indien diskutieren wir immer wieder mit blinden Schülern und Pädagogen ein Gesetz, das Blinde und Sehgeschädigte von der achten Klasse an nach Wunsch vom Mathematikunterricht befreit. Übrigens ein Gesetz, das bei den Betroffenen großen Zuspruch erhält. Denn Mathematik, von solchen Lehrern nahegebracht, die niemals gelernt haben, wie man Graphiken taktil aufarbeitet, kann sich nicht inspirierend auf den Schüler auswirken. Und so wird natürlich Mathematik zu einem Fach, das man lieber nicht haben möchte. Dass damit Blinde später nur Sprachen studieren können, sonst aber nichts, nicht einmal Jura, Psychologie oder Informatik, das wird sowohl von den Betroffenen selbst wie auch von den Pädagogen ausgeblendet.
Zugunsten einer scheinbar funktionierenden Inklusion werden schwierige Hürden umschifft, Einschränkungen ignoriert, mit der Folge, dass sie später niemals wirklich kompensiert werden können.
Das, was das Blindengymnasium in Marburg schafft, nämlich durch eigens entwickelte Medien die Schüler umfassend, auch in Mathematik und Naturwissenschaften, auf eine höhere Bildung vorzubereiten, kann man von Regelschulen nicht verlangen. Also konzentriert man sich auch in Deutschland überwiegend auf die "machbaren" Fächer, Sprachen, Sozialwissenschaften, Geschichte usw. Sport für Inklusionsschüler wird in vielen Regelschulen zum unauflösbaren Problem.
Wie könnte es anders und besser laufen? Muss es immer entweder "Exklusion", also "Förderschule", oder "Inklusion", also "Regelschule", sein? Gibt es nicht einen Mittelweg?
Selbstintegration - ein dritter Weg
Während wir im Ausland unsere eigenen Wege suchten, etablierte sich in Amerika und in Europa der Begriff "Inklusion" als Ersatz für "Integration". Wir sind in diesem Punkt traditionell und bleiben bei dem Wort "Integration". Denn bedenkt man die lateinische Wortbedeutung "integrare", kommen wir schnell auf die Begriffe: "einbeziehen", "ergänzen".
Die Wahl zwischen "einschließen" oder "ergänzen" fällt leicht. Denn beim Ergänzen kann ich mich aktiv daran beteiligen, dass meine Integration für alle Beteiligten ergänzend wirkt.
In Tibet haben wir daher das Konzept der "Selbstintegration" entwickelt. Es beruht auf der Annahme, dass wirkliche Integration niemals von außen erzwungen werden kann, sondern von der Person selbst geleistet werden muss.
Die Selbstintegration funktioniert jedoch nur durch eine gute und intensive Förderung. Dazu gehört Training in Kommunikation, selbstständigem Denken, Problemlösen und in Blinden- und Mobilitätstechniken.
Vor wenigen Jahren wurde in der tibetischen Autonomen Region ein Gesetz verabschiedet, für das wir mehr als zehn Jahre gekämpft hatten. Es besagt, dass körperlich behinderte und blinde Kinder nach Wunsch der Betroffenen in Regelschulen aufgenommen werden müssen. Ein Grund zum Feiern, denn bisher wurden Kinder sogar mit jeder Art körperlicher Behinderung vom Unterricht ausgeschlossen. Eigentlich absurd, denn warum soll ein Kind mit einer Körperbehinderung - wir hatten z.B. den Fall eines kleinwüchsigen Mädchens - nicht gleichwertig am Unterricht teilnehmen können? Die einzigen Kinder mit Behinderungen, die bis dahin in Tibet in Regelschulen gesichtet wurden, waren unsere blinden Schüler, die wir ohne Gesetz, zunächst auf Probe, den Regelschulen nahezu aufgeschwätzt hatten.
Der Erfolg dieser "gesetzlosen" Integration war mit ausschlaggebend für den neuen Entscheid. Die Leichtigkeit, mit der sich unsere blinden Kinder im Unterricht einbrachten, gute Noten erzielten und Freundschaften schlossen, überzeugte die Lehrkräfte und Schulleiter davon, dass sich ein blindes Kind ohne Spezialbetreuung in den Schulalltag selbst integrieren und darüber hinaus den Unterricht und das soziale Miteinander erheblich bereichern kann.
Ist nun ein Gesetz, das auf diesen positiven Erfahrungen beruht, ein Grund zum Feiern? Für körperlich Behinderte ja, für Blinde nein. Denn ein solches Gesetz gibt nicht darüber Auskunft, wie es bei den Blinden zu diesem Erfolg kommen kann. Es verschleiert den Hindernis-Parcours, der genommen werden muss, wenn eine gelungene Integration von blinden und sehgeschädigten Kindern erzielt werden soll.
Was ist aber eine gelungene Integration?
Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass es nur ein entsprechendes Gesetz braucht, um die Integration des blinden Kindes einzuleiten. Denn ein blindes Kind ist in einer Klasse mit sehenden Kindern nicht ohne weiteres integriert, es erzielt nicht automatisch gute Noten und verbreitet auch nicht naturgemäß nur Freude.
Der Mangel eines so wichtigen Sinnes, wie der des Sehens, kann durchaus eine erhebliche Einschränkung in vielen Lebenslagen darstellen. In folgenden Bereichen müssen große Hindernisse überwunden werden:
Ausgrenzung im sozialen Miteinander:
Blindheit gilt in Tibet als Strafe für eine schlechte Tat in einem vergangenen Leben. Menschen schämen sich oft für ihre blinden Familien-Angehörigen. Wir hatten Schüler, die viele Jahre vor der Gesellschaft versteckt wurden und erst in unserer Einrichtung mühsam Sprechen, Laufen oder Treppensteigen lernen mussten. Viele unserer Kinder wurden von sehenden Gleichaltrigen mit Steinen beworfen oder sogar von Erwachsenen mit "Shargo" beschimpft. "Shargo" bedeutet "Blinder Tölpel", und dieses Wort sagt eine ganze Menge über die Einstellung der Bevölkerung zu Blinden aus.
Keine oder geringe Erwartungen an ein blindes Kind in schulischer Ausbildung:
Blinde galten in Tibet nicht als förderungswürdig, denn wie soll ein Mensch ohne Sehsinn Sinnvolles zur Gesellschaftsentwicklung beitragen können? Wir wurden auch schon von internationalen Entwicklungshelfern angesprochen, warum wir auf die Alphabetisierung und auf eine akademische Ausbildung bei Blinden so viel Wert legten, wenn noch nicht einmal alle Sehenden in Tibet lesen und schreiben können. Die Antwort darauf erübrigt sich.
Mangel an Mobilität und lebenspraktischen Fertigkeiten:
Die Welt ist für Sehende gemacht. Für Blinde ist deshalb nichts offensichtlich oder unmittelbar einsehbar. Daher sind sie zunächst einmal ausschließlich auf fremde Hilfe angewiesen. Sie müssen geführt werden und sie brauchen zum Beispiel auch beim Einkaufen eine Begleitung.
All dies sind klare Hindernisse auf dem Weg zur Integration. Was muss also getan werden, um sie erfolgreich zu überwinden? Man kann natürlich alle Hindernisse umgehen und mit entsprechenden Hilfestellungen freie Fahrt für den blinden Schüler schaffen.
Wir setzen dagegen eine praktische Vorbereitung, die sie instand setzt, eigenständig Hindernisse zu überwinden, also "Selbstintegration".
Dahinter steht die Auffassung, dass Integration nicht von außen, also von Lehrern oder Familienangehörigen gesteuert werden kann, sondern dass wirkliche Integration vom blinden Kind selbst in Angriff genommen werden muss. Somit fokussieren wir uns nicht auf das Umfeld, auf Eltern und Lehrer, sondern ausschließlich auf die Befähigung (Empowerment) des blinden Kindes. In Tibet nahmen wir dafür die Kinder für 1 bis 3 Jahre aus den Familien und bereiteten sie intensiv in allen nötigen Fertigkeiten auf ein Leben in der Regelschule vor.
Was sind die wichtigen Fertigkeiten, die unsere blinden Kinder beherrschen müssen?
- Zunächst natürlich Blindentechniken: Lesen und Schreiben der Braille-Schrift-Systeme. Da sie in den Regelschulen in drei Sprachen, in Tibetisch, Chinesisch und Englisch, unterrichtet werden, müssen sie mindestens drei unterschiedliche Braille-Schrift-Ssysteme beherrschen.
- Und sie müssen in der Lage sein, sich selbstständig, weitgehend ohne fremde Hilfe zu orientieren. Daher bekommen sie ein umfassendes Mobilitätstraining.
Wenn ein blindes Kind fließend lesen und schreiben und sich weitgehend ohne fremde Hilfe orientieren kann, ist schon viel gewonnen. Und doch fehlt etwas Entscheidendes: Es muss den Mut und das Selbstvertrauen haben, auf seine sehenden Mitmenschen zuzugehen und sich nicht kleinkriegen zu lassen.
"Blinder Dummkopf", "Bettler", "Parasit", das sind nur einige der Schimpfworte, denen sich die tibetischen Kinder täglich ausgesetzt sehen. Das blinde Kind muss mehr als alles andere genau darauf vorbereitet werden. Es darf Blindheit nicht mehr als Mangel empfinden, es sollte Blindheit sogar als Chance betrachten können. Es muss sich seiner Fähigkeiten bewusstwerden und darf sich nicht mehr dafür schämen, blind zu sein. Es muss mit Spaß sagen können: "Ja, ich bin blind, na und? Aber ich bin nicht blöd! Ich kann mich konzentrieren, denn ich werde nicht so schnell abgelenkt, und ich kann etwas, was sich sehende Kinder niemals träumen lassen: Ich kann im Dunkeln lesen und schreiben."
Wenn erstmal die "Lästermäuler" gestopft sind, können die Kinder sich ungestört selbst organisieren.
Da es in den Regelschulen keine Blindenpädagogen gibt, haben sie bei uns Methoden gelernt, eigene Probleme zu lösen. Dem ahnungslosen Lehrer erklärten sie, was sie gut alleine ausrichten konnten, und wo sie von Lehrern oder auch Mitschülern Hilfestellungen brauchten. Dabei war es wichtig, dass sie ihre Bedürfnisse, aber auch ihre Möglichkeiten klar kommunizierten. Weil sie natürlicherweise hier und da Hilfe brauchten, war es ausschlaggebend, dass sie nicht nur nehmen, sondern auch etwas zurückgeben können. Und so haben wir dafür gesorgt, dass die Kinder einen Wissensvorsprung in den Sprachen Englisch und Chinesisch bekamen, der ihnen gegenüber ihren Mitschülern eine Verhandlungsbasis verschafft hat, z.B. in der Art: "Du sagst mir, was auf der Tafel steht, und ich helfe dir später bei den Englisch-Hausaufgaben."
Englisch ist ihre Stärke, und manche tibetischen Lehrer nutzten diesen Vorsprung, um sich vor dem Unterricht selbst noch schnell einen Rat zu holen. Andere fühlten sich aber auch in ihrer Ehre gekränkt. So bekam eine Schülerin Punktabzüge, weil ihre Aussprache "zu englisch" sei. Ein anderer Lehrer stritt sich mit unseren Kindern über die Aussprache der westlichen Spezialität "Hambarjar". Als unsere Kinder anmerkten, der Lehrer meine wohl, "Hamburger", erklärte er mürrisch, "You can say either way."
In der Zwischenzeit haben sich mehr als dreihundert blinde und sehgeschädigte Schülerinnen und Schüler in Grundschulen, Mittelschulen und Oberschulen integriert. Viele gehen zur Universität. Einige werden Übersetzer, eine ehemalige Schülerin hat erfolgreich Journalismus studiert, eine andere studiert tibetische Medizin. Viele haben Auszeichnungen für gute Leistungen erhalten, zwei unserer Kinder zählten in ihrem Jahrgang offiziell zu den zehn besten Schülern der ganzen Tibetischen Autonomen Region.
Oft höre ich, das Selbstintegrationskonzept ohne sonderpädagogischen Begleitdienst möge ja vielleicht in Tibet funktionieren, aber in Deutschland sähe das ganz anders aus.
Warum? Eigentlich sind die Grundbedingungen in Tibet sehr viel schwieriger als hier in Deutschland. In deutschen Schulen wird viel mehr als in tibetischem Unterricht Wert auf mündliche Mitarbeit gelegt. Man baut auf Team-Arbeit und Solidarität. Auch die Klassenstärke mit 23 bis 30 Schülern ist überschaubarer als tibetische Klassen mit 40 bis 50 Schülern.
Dann wären doch die Bedingungen für die Selbst-Integration, also Inklusion mit entsprechender Vorbereitung, in deutschen Schulen viel günstiger!
Das Wichtigste sollte doch immer sein, dass die blinden Kinder den Mut haben, Blindheit nicht nur als Mangel, sondern immer auch als Chance für sich und alle Beteiligten wahrzunehmen und damit bereit zu sein, das Abenteuer der Integration einzugehen. Diese Vorbereitungen können gut ausgestattete Förderschulen wie zum Beispiel die blista in Marburg leisten. Wie Thomas Hill, ein selbst blinder Psychologe und ehemaliger blista-Schüler vorschlägt, könnte eine Einrichtung wie zum Beispiel die blista dann zu einem sonderpädagogischen Kompetenz-Zentrum werden. Ich stimme ihm zu: Das Blindengymnasium in Marburg ist nicht nur in Deutschland, sondern weltweit führend, wenn es um die blindengerechte Transformation komplexer Lerninhalte besonders in den Naturwissenschaften geht.
Die Frage ist nur, ob das deutsche Ausbildungssystem einer erfolgreichen Integration in diesem Sinne entgegenkommt oder ihr entgegensteht.
Kann der von den meisten gewollte Soll-Zustand der Inklusion erreicht werden, solange ausschließlich die Vermittlung des Fachwissens im Mittelpunkt steht und nicht die ganzheitliche Förderung jedes Kindes?
Wir brauchen eine qualitative Veränderung der Ausbildung in allen Bereichen, nur dann wird die Einbeziehung Behinderter als Bereicherung und nicht als karitative Maßnahme verstanden werden.
Zur Autorin
Sabriye Tenberken ist Mit-Gründerin von Braille Ohne Grenzen, Tibet, und des kanthari Instituts, Indien (www.kanthari.ch). Sie ist außerdem Autorin u. a. von "Mein Weg führt nach Tibet" (200), "Mein siebtes Jahr" (2006) und "Die Traumwerkstatt von Kerala: Die Welt verändern - das kann man lernen" (2015).