Winni Thiessen ist seit 36 Jahren pädagogischer Mitarbeiter im Internat der blista. Für die blista-News liest und rezensiert er seit über 20 Jahren Literatur - ob Sachbuch, Roman, Jugendbuch oder Krimi -, in denen das Thema Blindheit und Sehbehinderung eine wichtige Rolle spielt oder Bücher, die von blinden und sehbehinderten Autor*innen geschrieben wurden. Im horus-Interview mit Thorsten Büchner berichtet er von seinen Leseerfahrungen.

horus: Wie kam dein Interesse zustande, sich mit Büchern rund ums Thema Blindheit und Sehbehinderung zu beschäftigen, jenseits von pädagogischer Fachliteratur?

Thiessen: Mein erstes Buch, das ich zum Thema Sehbehinderung gelesen habe, war "Im Dunkeln sehen" von John M. Hull, 1995 auf Deutsch erschienen - heute ein Klassiker, den man immer noch mit Mehrwert lesen kann. Das Buch habe ich damals zufällig im Regal einer Kollegin entdeckt und mir gleich gekauft. In diesem Buch beschreibt Hull detailliert den Prozess seiner langsamen Erblindung und wie sich dieser Prozess auf seine Persönlichkeit und Identität auswirkte. Ich muss gestehen, vorher habe ich mir über die massiven Auswirkungen einer schleichenden Erblindung eher weniger Gedanken gemacht. Einige Zeit später zog ich aus privaten Gründen von Marburg nach Frankfurt, wurde Bahnfahrer - zur Bahn erspare ich mir jetzt jeglichen Kommentar -, und da suchte ich nach einem Zeitvertreib für die laut Fahrplan einstündige Fahrt. Ich hatte schon damals die beiden Hobbies Lesen und Schreiben, sprich keine Freunde. Dann bin ich zufällig auf "Ich fühlte den Himmel" von Erik Weihenmayer gestoßen, der sich als Blinder dem Bergsteigen verschrieben hatte - wahrscheinlich war ihm sein Job als Lehrer zu mühselig -, und dann kam eins zum anderen. Mittlerweile habe ich die Marke von 150 Büchern geknackt - und bin auch etwas stolz darauf.

Bewegen wir uns zunächst erst einmal im Bereich Belletristik. Gibt es da in den unzähligen Romanen, Jugendbüchern oder Krimis, die du gelesen hast, Gemeinsamkeiten in der Darstellung von Personen mit Blindheit und Sehbehinderung?

Hier muss ich mit einem deutlichen Jain antworten. Belletristik ist ja nicht Belletristik. Romane, Jugendbücher und Krimis darf man nicht in einen Topf werfen. Bei Krimis und Thrillern geht es um Spannung und Unterhaltung, da ist der Blinde reines Mittel für eben diese beiden Zwecke. Viele Autor*innen haben blinde Berater*innen gehabt, die ihnen beim Zeichnen ihrer blinden Figuren in den Krimis und Thrillern Tipps mitgegeben haben, andere haben einfach Biografien von Blinden gelesen. Ich bemerke manchmal, wie Autor*innen diese Tipps mit dem Holzhammer ungeduldig eingearbeitet haben, denn um den blinden Protagonisten geht es ihnen ja im Krimi gar nicht so wirklich, sondern er soll die Geschichte vorantreiben, die erzählt wird. Einer der Hauptprotagonisten in der Krimireihe um die Journalistin Milla Nova ist ein "Alltagsblinder". In jedem ihrer Krimis wird seine Rolle etwas dürftiger, dann verschwindet er in einem Band ganz, um dann im letzten Band der Reihe wie Phönix aus der Asche wieder in einer tragenden Rolle aufzutauchen. Damit will ich sagen, einen Otto Normalblinden ohne besondere Eigenschaften in eine Krimi- oder Thrillerreihe sinnvoll einzubinden, da muss man sich schon so seinen Kopf machen. Neben dem Normalo gibt es dann noch das blinde Opfer, aber immer seltener, weil Opfer ist man meist nur einmal und darauf kann man keine Krimi- oder Thrillerreihe aufbauen. Aber mit dem Gegenteil, der blinden Heldenfigur, geht das schon. Bei Letzterer wird dann ordentlich in die Zauber- und Klischeekiste gegriffen, oft mit einem leichten Augenzwinkern der Autoren, wie zum Beispiel in den beiden Thrillern von Lukas Erler oder der Trilogie von Andreas Pflüger. Beide erschaffen blinde Kampfmaschinen und spielen mit den (positiven) Vorurteilen, die Leser*innen mit Blindheit verbinden, zum Beispiel das absolute Gehör, ein super Gedächtnis, der siebte Sinn oder das dritte Auge, wie man es auch immer nennen mag. Also zusammengefasst: Normalo, Opfer, Held - Mittel zum Zweck!

Bei Jugendbüchern geht es langsamer und bedächtiger zu - da passt auch ein blinder Protagonist gut rein. In diesen Büchern werden ja in erster Linie Liebe, Sexualität, Freundschaft, Abnabelung vom Elternhaus, also der Start in ein eigenständiges Leben und die Entdeckung der Erwachsenenwelt, verhandelt. Ich bin ein absoluter Fan von Jugendbüchern, die Geschichten sind so was von positiv - Kraftfutter für jede melancholische Seele. Für jedes Problem wird dort eine Lösung gefunden. Also wenn ich einmal blind werden sollte, dann als Figur in einem Jugendbuch. Hier darf man als Blinder halbwegs normal sein, kommt meist gut an beim anderen Geschlecht und die Leserschaft bekommt meist umfängliche Informationen über den Alltag von Blinden mitgeliefert - Jugendbücher haben ja oft den unausgesprochenen pädagogischen Auftrag: Alles wird gut!

Hat sich die Darstellung in den letzten Jahren von blinden Protagonist*innen verändert?

Das muss ich mit einem definitiven Ja beantworten. Die Gesellschaft und das gesellschaftliche Bewusstsein haben sich verändert, das Bildungsniveau ist insgesamt gestiegen, die gesellschaftliche Teilhabe von blinden Menschen hat sich verbessert, technischer Fortschritt, der neue Möglichkeiten auch für blinde Menschen eröffnet hat, die Individualisierung, das schlägt sich natürlich auch in der Darstellung von Blinden in der Literatur nieder. Der blinde Protagonist ist weiter in die Mitte der Gesellschaft gerückt. Die Zeiten, wo er als Jahrmarktattraktion vorgeführt, als Bettler, als gesellschaftliche Randfigur dargestellt wurde und/oder als Verkörperung des Bösen und der Sünde, wie es u.a. bei Edgar Wallace oder in "Stadt der Blinden" von José Saramago der Fall ist, diese Zeiten sind vorbei. Die Darstellung ist facettenreicher geworden, bunter, Blinde sind Menschen mit ganz alltäglichen Problemen und alltäglichen Gedanken, man bekommt als Leser nicht mehr nur ein stereotypes Abziehbild geliefert.

Bei Filmen, in denen blinde oder sehbehinderte Protagonist*innen auftauchen, wird oft vom fehlenden Realismus in der Darstellung gesprochen. Wie stehst du dazu in Bezug auf belletristische Bücher?

2004 habe ich das Buch "Die künstlichen Blinden - blinde Figuren in Texten sehender Autoren" von Harry Merkle besprochen. Es gab in dieser Zeit und davor eine aufgeregte Debatte, ob es überhaupt möglich ist, Blinde in Romanen, also in der Belletristik, realistisch, also irgendwie naturgetreu, darzustellen - und es wurde diskutiert, ob alles andere nicht verboten gehört. Dazu kann ich nur sagen: Erstens ist es nicht Aufgabe der Belletristik, Blinde naturgetreu darzustellen. Zweitens gibt es nicht den Blinden oder die Blinde. Und drittens kommen die Blinden in den modernen Romanen und Krimis ab den 1990er meist wirklich sehr gut weg, da hat sich was getan. Da geben sich die Autor*innen schon etwas Mühe. Aber klar, wenn man die Mission hat, mit den gesellschaftlichen Vorurteilen gegenüber Blinden aufzuräumen, dann kann einem die Literatur schon mal einen Strich durch die Rechnung machen. Aber wie gesagt, die Darstellung von Blinden in der Belletristik ist positiver und realistischer geworden - aber Blinde in Krimis, in Jugendbüchern, das sind nun mal fiktive Figuren, die für das Erzählen einer Geschichte benutzt werden, und wenn zu viel Realismus die Geschichte ausbremsen würde - da picken sich dann die Autor*innen eben nur die Elemente heraus, die sie gebrauchen können. Wer es realistischer haben will, sollte zu einer Biografie greifen, aber auch da gibt es einen Haken. Wer schreibt denn Biografien, die eine größere Leserschaft erreichen? Das sind oft Leistungssportler*innen wie Läufer, Bergsteiger - eben Blinde, die etwas außer der Reihe geleistet haben. Folglich sorgen Blinde nicht selten selbst für ein unrealistisches Bild von blinden Menschen, ihren Fähigkeiten, Grenzen und ihrem Alltag in den Köpfen der Sehenden. Oder, wie ein ehemaliger Schüler von mir einmal fluchte: Diese scheiß Superblinden. Was wiederum so ziemlich ungerecht gegenüber Pamela Pabst ist, die in ihrem Buch "Ich sehe das, was ihr nicht seht" ein realistisches Bild ihres beschwerlichen Alltags zeichnet. Ich finde, da muss man mehr Gelassenheit in die Diskussion bringen oder einfach Jennifer Sonntag "Verführung zu einem Blind Date" lesen, da bekommt man den Alltag einer blinden Frau literarisch-realistisch dargereicht - ein Beinahe-Sachbuch. Und überhaupt Realismus in Unterhaltungsfilmen und -büchern! Woher kennen wir die Arbeit der Polizei - aus Krimis! Ist das realistisch? Seit der Verfilmung von Winnetou meinen ja auch viele, dass der Häuptling der Apachen so aussieht wie ein Franzose, und dass es im Wilden Westen so ausschaut wie im ehemaligen Jugoslawien. Meine Leseempfehlung zum Thema Realität/Realismus: der Thriller "Blindband" von Gilbert Adair.

Neben Romanen hast du auch viele Erfahrungsberichte, Autobiografien oder Biografien von und über blinde Personen gelesen. Was fasziniert dich daran?

Bisher hat hoffentlich noch niemand bemerkt, dass ich mich um die Romane herumgedrückt habe. Das liegt daran, dass Krimis einer bestimmten Dramaturgie folgen, Biografien auch und ebenso Jugendbücher, die einen bestimmten Lebensabschnitt behandeln und somit auch immer ähnliche Themen verhandeln, während Romane historisch oder politisch sein können oder eine Familiengeschichte erzählen mit einem blinden Protagonisten mitten drin - das macht es schwierig, über die Darstellung und Funktion von Blinden in Romanen zu reden, also nur mal so kurz  en passant. Deshalb an dieser Stelle lieber gar nicht. 

Jetzt zu deiner Frage. Nach über 150 Büchern ist die Faszination einer gewissen Routine gewichen, würde ich sagen. Bei den Autobiografien war für mich der Erkenntnismehrwert ziemlich groß, da hatte ich anfangs so einige Aha-Erlebnisse. Dann entdeckt man aber, dass es bei uns Menschen ziemlich ähnliche Muster im Umgang mit einer Erblindung gibt - es wiederholt sich einfach vieles. Deshalb genieße ich es jetzt umso mehr, wenn die Autobiografen gut schreiben können, wenn sie es schaffen, diesen harten und bedrohlichen Prozess der langsamen Erblindung, der dann fast unvermeidlich zu Vermeidungs- und Verleugnungsstrategien führt, in eine gute Geschichte mit vielen skurrilen, lustigen oder auch traurigen Episoden zu packen. Gerade die US-Amerikaner haben es am ehesten drauf, pointiert und mit leichter Feder zu schreiben, weil viele auf dem College Schreibseminare besucht haben.

In deiner Arbeit in den blista-Wohngruppen hast du seit vielen Jahren mit blinden und sehbehinderten Heranwachsenden tagtäglich zu tun. Hat dir das Lesen der Erfahrungsberichte oder auch der Romane bei deiner Arbeit und dem Verständnis für die Situation deiner Schüler*innen vielleicht geholfen?

Ja, durchaus. Die Akzeptanz der eigenen Sehbehinderung ist ein langwieriger Prozess. Erfahrungen müssen gemacht werden. Wenn ein Schüler mal wieder mit dem Bus eine Stadtrundfahrt gemacht hat, weil er die Buslinie nicht erkennen konnte. Nein, da war kein Busfahrer, den er hätte fragen können. Wenn ein Schüler steif und fest behauptet, dass im Supermarkt die Milch ausverkauft war und er deshalb keine Milch mitbringen konnte. Nein, da war kein Verkäufer in der Nähe. Wenn der Blindenstock, den man zumindest zur Kennzeichnung mitnehmen soll, zufällig im Keller liegen gelassen wird, bevor man das Haus verlässt. Nur nicht öffentlich zu seiner Sehbehinderung stehen müssen - auch wenn man sich so zum Deppen macht.

Was stört dich eigentlich am meisten bei der Lektüre aus diesem Themenfeld?

Es gibt viele Bücher, die hätten einen guten Lektor vertragen können. Ich weigere mich auch immer öfter, einige dieser Bücher zum Thema zu lesen. Deshalb schreibe ich ja auch Kurzgeschichten. Wenn sie schlecht sind, dann haben die Leser*innen nur 10 Minuten ihres Lebens geopfert. Es müssen ja nicht immer gleich 400 Seiten im Selbstverlag sein.

Nachdem du schon so viele Titel gelesen hast: Wird dir das Thema nicht langweilig, und welches Buch würdest du gerne lesen, das erst noch geschrieben werden müsste?

Langweilig sind meist nur schlecht geschriebene Bücher - da muss ich eben durch. Dafür versuche ich mich dann in der Rezension etwas "zu rächen". Übrigens, je schlechter das Buch, umso mehr Spaß macht mir die Buchbesprechung. Bei wirklich guten, komplex geschriebenen Büchern muss ich mir viel mehr Gedanken machen, was ich schreibe, um ihnen auch gerecht zu werden - und mir stehen dazu nur 2910 Zeichen inklusive Leerzeichen zur Verfügung. 

Ich schreibe gerade an einem amerikanischen Gerichtskrimi. Hauptfigur ist ein blinder Boeing-Pilot. Er hat eine Bruchlandung hingelegt und will nun die Jury aus Geschworenen davon überzeugen, dass das Flugzeug auch ohne sein Blackout eine Bruchlandung hingelegt hätte. Er hat eine Gegenklage gegen den Hersteller eingereicht, um als Boeing-Pilot eine Gefahrenzulage zu erhalten. Bin selbst gespannt, wie die Geschichte ausgeht.

Zum Schluss unseres Gesprächs: Falls das überhaupt möglich ist - kannst du uns vielleicht deine ultimativen Tipps geben? Welchen Erfahrungsbericht, Autobiografie, Biografie sollten alle gelesen haben und welchen Roman?

Verflixt, ich wollte schon immer mal eine Best-of-Liste machen, habe dann aber aufgehört, weil mir zu viele gute Bücher eingefallen sind. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich Bücher, die ich mit vierzig gelesen habe, heute noch genauso empfehlen würde. Krimis und Thriller und einige andere habe ich ja bereits schon genannt. Sollte jemand Interesse an der barrierefreien Buchliste mit allen 150 Büchern haben, dann kann er sich bei mir melden, E-Mail: thiessen@blista.de.

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