Bundesministerium für Gesundheit
Herrn Prof. Lauterbach
11055 Berlin
Berlin, den 22.09.2023
Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Lauterbach,
Leider musste ich kürzlich erleben, dass blinden und sehbehinderten Menschen bei schwerwiegenden, neurologischen Erkrankungen eine neurologische Behandlung und Rehabilitation in wesentlichen Kernstücken nicht möglich ist, weder stationär, noch ambulant. Es geht dabei vor allem um neuropsychologische Behandlungen von Störungen des Gehirns, etwa des Gedächtnisses, der Konzentration und anderer mentaler Grundfunktionen, weil die verwendete Computersoftware nicht barrierefrei programmiert ist, eine notwendige Einzelbetreuung aber personell nicht möglich ist.
Meine persönliche Erfahrung: Am 28.7.2023 fiel ich nach einem Tag mit starken Kopfschmerzen und fast 39 Fieber in Ohnmacht. Meine Frau war in der Nähe und verständigte den Notarzt, so dass ich in 20 Minuten in der Charité war, wo man eine HSV1-Enzephalitis diagnostizierte und mich 14 Tage stationär mit einer iv-Medikation behandelte. Durch die schnelle und erstklassige medizinische Versorgung gehöre ich zu den 40%, bei denen die Erkrankung vermutlich vollständig ausheilen wird. Die Ärzte empfahlen mir eine Rehabilitation und kümmerten sich auch um einen Platz in der Rehaklinik in Wandlitz, die am 15.8.2023 hätte beginnen können und die ich gern gemacht hätte. Da ich blind bin, erkundigte ich mich in einem längeren Gespräch mit dem leitenden Psychologen der Reha- Klinik, Herrn Homann, ob ich das Hauptziel der Reha bei ihnen überhaupt nutzen könnte, nämlich ein neuropsychologisches Training beschädigter Hirnfunktionen, v.a. Aktualgedächtnis und Konzentration. Er verneinte das mit großem Bedauern, weil die Software, die sie nutzen, für blinde und sehbehinderte Menschen nicht zugänglich sei und eine Einzelbetreuung aus personellen Gründen nicht möglich wäre. Ich erkundigte mich nach anderen Reha-Einrichtungen und nach ambulanten Möglichkeiten, überall mit demselben Ergebnis. Nach meiner Klinikentlassung installierte ich eine Reihe von neuropsychologischen Trainingsprogrammen in meiner Praxis auf dem Computer, der mit einer Sprachausgabe und Blindenschriftausgabe für den Bildschirminhalt verbunden ist und mit dem ich die große Mehrheit aller Computerprogramme vollständig und ohne jede Einschränkung bedienen kann. Bei den neuropsychologischen Trainingsprogrammen war es völlig problemlos möglich, sie zu installieren, zu bezahlen und die Übersicht der Aufgabengruppen zu lesen. Sobald ich jedoch eine Aufgabe startete, wurde in einen rein grafischen Modus umgeschaltet, so dass ich nicht einmal mehr die Überschrift lesen konnte, geschweige denn die Aufgaben. Das war auch bei Aufgabengruppen so, bei denen man eigentlich eine Stimme hören und selbst mit seiner Stimme antworten sollte. Ebenso bei Aufgaben, wo Buchstaben, Wörter oder Zahlen vorgegeben und per Tastatur reagiert werden sollte. Ich konnte die Aufgaben nicht starten, weil der Start-Button für mich nicht erkennbar war. Selbst Hilfetexte waren nicht lesbar, weil sie rein grafisch ausgegeben wurden, ohne alternativen Text dahinter, den Screenreader für Blinde sonst nutzen.
Fazit: Ich habe trotz vielen Suchens keine Möglichkeit gefunden, ein neuropsychologisches Training zu finden, das ich hätte machen können, und das, obwohl ich als psychologischer Psychotherapeut mit eigener Praxis nicht ohne Vorwissen über dieses Thema und über Strukturen im Gesundheitswesen bin. Ein (sehender) Kollege, der lange in einer Reha-Klinik tätig war, sagte mir, dass sie dort für blinde und sehbehinderte Patient:innen mit mentalen Ausfällen nichts hätten tun können. Es gibt in Deutschland 80 blinde und sehbehinderte Psychotherapeut:innen, die sich z.T. in einer Mailingliste austauschen. Dort ist die Nichtzugänglichkeit dieser Software seit Jahren immer wieder Thema, sowie Versuche, Firmen zu bitten, daran etwas zu ändern, die alle vergeblich waren. Beim Hogrefe-Verlag war die Software HBS bis zur Version 3.2 vollständig nutzbar, so dass ich sie in meiner Praxis einsetzte. Ab Version 3.4 wurde es schon schwierig, ab 4.0 war die Software weder für mich als Psychologen noch für blinde oder sehbehinderte Nutzer zugänglich. Den leitenden Entwickler kannte ich persönlich von der Humboldt-Universität. Er war aber in Gesprächen nicht bereit, etwas zu ändern, weil er meinte, es gäbe zu wenig Blinde und Sehbehinderte, die die Software bräuchten, das lohne sich finanziell nicht. Diese Haltung scheint mir typisch zu sein. Bei meinem aktuellen Zugänglichkeitsproblem habe ich verschiedene Firmen angerufen oder angemailt, um die fehlende Barrierefreiheit anzusprechen. Die wenigen, die mir überhaupt antworteten, wollten es sich mal anschauen, hätten aber hunderte Anfragen von (nichtbehinderten) Nutzern, so dass sie nicht wüssten, ob und wann sie etwas ändern könnten. Meine Schlussfolgerung: jedenfalls nicht mehr zu Zeiten, wo ich es bräuchte.
Bei mir selbst sind die mentalen Einschränkungen durch den guten Verlauf und die schnelle Behandlung glücklicherweise auf Probleme beim Akutgedächtnis, der Konzentration, Erinnern von Namen u.ä. begrenzt und ich hoffe, dass sie sich in einigen Monaten von selbst auflösen. Vielleicht wird aber durch die mangelnde Therapie auch etwas übrig bleiben. Die meisten, die an Enzephalitis erkranken, haben jedoch deutlich schwerere Verläufe und viel stärkere mentale und körperliche Einschränkungen. Darüber hinaus sind die meisten neurologischen Erkrankungen mit Hirnfunktionsstörungen unterschiedlicher Art verbunden, wie etwa Meningitis, Schlaganfälle, Demenz u.v.m. Blinde und sehbehinderte Menschen sind dazu verurteilt, keine Chance auf Linderung oder gar Heilung dieser mentalen Einschränkungen zu haben, sondern müssen den Rest ihres Lebens damit verbringen, was oft genug auch den Verlust des Berufes bedeutet. Bei Menschen über 60 steigt der Prozentsatz derjenigen von Jahrzehnt zu Jahrzehnt dramatisch von 1/3 auf 2/3, die von Demenz, Alzheimer oder anderen Krankheiten mit Hirnbeteiligung betroffen sind. Die meisten Blinden und Sehbehinderten sind in dieser Altersgruppe. Beginnende Demenz lässt sich bei ihnen weder diagnostizieren, noch eine Zeitlang aufhalten, da sie neuropsychologische Software nicht nutzen können, Paper-Pencil-Tests, falls von früher noch vorhanden, auch nicht.
Kassenfinanzierte Gesundheits-Apps: Da ich eine Praxis habe, werden mir von verschiedenen Firmen öfter Gesundheits-Apps zur Probe zugeschickt, die ich meinen Patient:innen empfehlen soll, etwa zur Schlafaufzeichnung, Depressions- oder Angstminderung o.ä. Ich probiere diese Apps aus, die meisten sind jedoch nur eingeschränkt oder gar nicht barrierefrei nutzbar. Das sollte aber eine Voraussetzung dafür sein, dass die Kassen sie finanzieren, so dass die Firmen daran arbeiten.
Leicht vermeidbare Gründe: Man kann nicht alle Formen von Diskriminierung sofort aus der Welt schaffen, aber bei einigen wäre es leicht möglich und sehr existentiell für die Betroffenen, besonders wenn sie sonst unter eigentlich leicht vermeidbaren, schweren gesundheitlichen Folgen leiden müssen.
Was ist zu tun? Vor einigen Jahren wurden staatliche Behörden verpflichtet, ihre Software barrierefrei zu programmieren, private Firmen, wie Sie wissen, leider nicht. Seither kann ich z.B. die Software Elster wieder vollständig und ohne jede sehende Hilfe benutzen und damit meine Steuererklärung erstellen und einreichen. Steuerprogramme privater Unternehmen waren in den Jahren davor immer weniger barrierefrei für mich nutzbar. Auch dort nützten Bitten nichts, die Software doch barrierefrei zu gestalten. Vielleicht ist es momentan für Sie noch nicht möglich, die Gesetze so zu ändern, dass alle Software barrierefrei sein muss. Aber dort, wo es um existentielle, grundlegende, gesundheitliche Dinge geht, geht es wie hier um die Frage, ob man blinde und sehbehinderte Menschen den Rest ihres Lebens mit massiven Einschränkungen von Hirnfunktionen leben lässt, obwohl man sie mit geringem Aufwand hätte vermeiden können.
Geringer Aufwand: Dieser Punkt ist mir noch wichtig, damit Sie das Problem richtig einschätzen können und weil die Firmen sicher behaupten werden, das sei ein geradezu unzumutbarer Aufwand. Ich selbst habe neben meinem Beruf als Psychologe auch programmiert, früher auf den Computer ladbare exe-Programme, darunter 2 psychologische Tests, in den Programmiersprachen Pascal, Modula, C oder Delphi, später komplexe Internetanwendungen, etwa für ein psychologisches Institut, wo es um komplexe Planungen und Kommunikationsformen ging, etwa in der Sprache HTML oder PHP. Überall zog sich durch, dass die Beachtung von Barrierefreiheit nicht sehr kompliziert war. Ein einfaches Beispiel: Eine Überschrift auf einer Website kann man grafisch schön erstellen und als Bild oben auf der Seite einstellen mit der HTML-Anweisung: <img = "Ueberschrift.jpg">. Diese Überschrift ist eine Bilddatei, sie können Blinde mit ihrer Sprach- und Brailleausgabe nicht auslesen. Fügt man das Kommando hinzu: <alt = "Das hier ist die Überschrift"> könnten Blinde diesen Text problemlos lesen. Auf Websites von Bundesbehörden ist das durch die Gesetzesänderung verpflichtend und deshalb bereits umgesetzt und hat uns das Leben sehr, sehr erleichtert, bzw. die Nutzung dieser Seiten mit ihren Funktionen überhaupt ermöglicht. Bei privaten Firmen sind wir darauf angewiesen, dass sie bereit sind, sich darüber überhaupt zu informieren und es umzusetzen. Viele sind einfach zu faul dazu und behaupten, da wäre so ein großer finanzieller Aufwand nötig, dass sie es nicht täten für die paar Blinden. Bei den, wie Sie wissen, zwangsläufig sehr komplexen Praxisverwaltungsprogrammen kenne ich zwei, eine exe-Version zum Herunterladen, eine Onlineversion, die vollständig barrierefrei bedienbar sind. Die beiden Firmen Psyprax und Red Medical sind meinen wenigen Änderungswünschen schnell nachgekommen. Es geht also, auch bei sehr komplexen Programmen, wenn man will. Die anderen, die ich kontaktet habe, fanden es nicht lohnend, ihre Software für 80 potentielle Nutzer umzustellen.
Internationaler Vergleich: In den USA ist die Situation deutlich besser, unter anderem sicher wegen der Möglichkeit von Schadenersatzprozessen, bei denen die Firmen wegen mangelnder Barrierefreiheit ggf. zu millionenschweren Zahlungen verurteilt werden könnten. Die Websites von Amazon oder Google sind vollständig barrierefrei mit all ihren Funktionen, wie Flüge buchen bei Google. Von Apple habe ich sehr viele Produkte. Ohne irgendwas dazukaufen oder installieren zu müssen, sind sie alle sofort nach dem Kauf mit Sprachausgabe und Blindenschriftausgabemodul für jede Braillezeile ausgestattet, aber auch für Seheingeschränkte mit verschiedensten Lupen und Beleuchtungen, für Hörbehinderte mit Zusatzfunktionen, für Bewegungseingeschränkte, die keine kleinen Klicks machen können usw. Technisch ist Barrierefreiheit kein Problem! Das sollten unsere Vorbilder sein.
UNO verurteilt die Bundesrepublik: Am 2.9.2023 sagte Amalia Gamio, Vizepräsidentin des Ausschusses der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in einer mehrtägigen Anhörung in für sie sehr ungewohnt scharfem Ton, dass die Situation dieser Personengruppe bei uns ein Skandal sei. Die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung, die seit 2009 gilt, sei in Deutschland sehr schlecht umgesetzt, ganz ähnlich wie 2015, bei der ersten Überprüfung. Gegenwärtig ist das aber trotz vieler Vorsätze zur Barrierefreiheit im Koalitionsvertrag der Ampelregierung der Fall, weil an diesem Thema bisher fast nicht gearbeitet wurde. Ich möchte hier nur einen von vielen Punkten herausgreifen, nämlich, dass nur 10% der Arztpraxen barrierefrei sind. Da ich selbst sehr mobil bin und auch allein ins Ausland reise, zu Tagungen o.ä., gelange ich ohne Probleme mit Apple-Karte oder Google-Navi zu Arztpraxen. Gesundheitszentren, wie in Berlin am Stuttgarter Platz 1, die stufenfrei, mit Leitstreifen und Sprachausgabe im Fahrstuhl ausgestattet sind, gibt es, aber viel zu selten. Ein Rollstuhlfahrer bräuchte bei 90% der Praxen mindestens 4 sehr kräftige Menschen, die den Rollstuhl die Treppen hoch tragen, und müsste hoffen, oben durch die Türen bis zum Arzt zu kommen. Einige essen und trinken vorher nichts, damit sie nicht auf Toilette müssen, die meist nicht zugänglich ist. In diesem und anderen Punkten liegen wir erschreckend weit hinter anderen, weitaus ärmeren Ländern zurück. Ich denke, hier sollten die Vorsätze der Ampel bald in die Tat umgesetzt werden, etwa mit der Maßgabe für Arztpraxen, bei einem Umzug in neue Räume nur in barrierefreie Räume zu ziehen, ähnlich wie bei Bundesbehörden oder Ampeln, wo bei Neubau oder Renovierung Barrierefreiheit zu beachten ist. Es gibt viel zu tun, allein im Bereich der Zugänglichmachung des Gesundheitswesens für Menschen mit Behinderung.
Meine Bitte: Da mein Anliegen leicht und schnell umsetzbar ist, würde ich Sie darum bitten, es vor den komplexen Gesetzesänderungen umzusetzen, indem Sie kurzfristig die gesetzlichen Regelungen leicht verändern, die öffentliche Behörden verpflichten, barrierefreie Software und Websites anzubieten. Sie könnte durch die Pflicht ergänzt werden, dass dies auch Privatanbieter von Software und Websites tun müssen, die ihre Produkte im Gesundheitsbereich anbieten. Das würde Bund und Länder nichts kosten und wäre meines Erachtens bis 1.7.2024 für die Firmen umsetzbar. Dadurch hätten Sie für Menschen mit Behinderung eine gesundheitliche Versorgung in diesem Bereich verbessert bzw. überhaupt erst ermöglicht. Das Paket der vielen anderen notwendigen Änderungen wird viel länger dauern. Es sollte diese kleine, aber für viele Kranke wichtige Änderung nicht um Monate oder Jahre verzögern. Deshalb meine Bitte um Trennung vom großen Paket.
Kopien dieses Schreibens werde ich an die Bundesbehindertenbeauftragte, die Bundespsychotherapeutenkammer, Bundesärztekammer, die Berliner Ärzte- und Psychotherapeutenkammer, Berliner Senatoren, Blinden- und Sehbehindertenverbände, Abgeordnete und andere senden, in der Hoffnung, dass diese mit eigener Stellungnahme und Fachkompetenz mein Anliegen unterstützen.
Mit freundlichen Grüßen
Dipl.-Psych. Thomas Abel
Psychologischer Psychotherapeut
- tiefenpsych. fundierte Psychotherapie/Psychoanalyse -
Gervinusstr. 22
10629 Berlin
Tel.: 030 3138736
Nachtrag Thomas Abel, Januar 2024
Nachdem ich mich mit der Bitte um Unterstützung im September 2023 an den DVBS gewandt hatte, sandte auch der 1. Vorsitzende des Vereins, Werner Wörder, im Dezember ein Schreiben an das Bundesministerium für Gesundheit. Wir sind auf die Reaktion gespannt und dankbar für jeden, der die unhaltbare Situation verbessern hilft.