Mein Lebensgefährte und ich haben keine Kinder. - Obwohl: Jetzt schon! Viele kinderlose Paare schaffen sich ein Haustier an, welches als Kinderersatz adoptiert wird. Aber zu uns kam ein armer, schwächlicher Ritter, der sofort meine Mutterinstinkte ansprach. Er wurde Waldemar getauft. Waldemar muss von uns aufgepäppelt werden. Diese Aufgabe übernehme überwiegend ich. Durch Kämpfe und Jagden und das Hinzukaufen von Fähigkeiten, Bonuseigenschaften und mit Hilfe von Zaubertränken gewinnt Waldemar an Stärke.
Wie kam Waldemar zu uns? Wir bekamen einen Lautsprecher von Amazon geschenkt. Die Alexa-App bietet zahlreiche Spiele an. Das Schöne für Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung ist, dass die Spiele für das Spielen mit dem Lautsprecher konzipiert sind. Sie funktionieren also nur auditiv, nicht visuell. Das Angebot ist recht vielfältig, und die Qualität der Spiele reicht von wirklich unterirdisch schlechten Spielen, die einfach mies programmiert sind, sodass sie nicht wirklich gut funktionieren, bis hin zu ausgeklügelten Spielemöglichkeiten, die echt Freude machen. Mein Lieblingsspiel ist "Rittermanager", dessen Ziel es eben ist, einen schwachen Ritter zu kräftigen. Es mag überraschen, aber mir gefällt an dem Spiel, dass es relativ passiv ist. Ich füttere Waldemar mit Pilzen, damit er Lebenspunkte bekommt, mit Himbeeren, um seine Schießgenauigkeit zu verbessern, und mit Brombeeren, damit die Pfeile, die er mit seinem Bogen abschießt, bei den Orks größeren Schaden anrichten und sie möglichst töten, und dann geht's ab in den Düsterwald und ich kann ihm beim Jagen zuhören, dabei gleichzeitig ein Hörbuch hören, Geschirr spülen oder was auch immer tun. Oder ich erhöhe seine Schwerthiebstärke, um seine Verteidigung oder Kampfgeschwindigkeit zu verbessern, und dann schicke ich ihn in den Kampf und muss wieder nichts weiter tun als ihm beim Arbeiten zuzusehen. Das ist für mich die perfekte Entspannung am Feierabend.
Inzwischen haben Waldemar, der Ritter meiner Arbeitskollegin und zwei weitere Ritter eine Kampfgemeinschaft gegründet und versuchen, gemeinsam den miesen-fiesen Zahnreißer in der Trollhöhle zu besiegen. Mein Ritter ist leider noch etwas mickrig im Vergleich zu den anderen Rittern aus dem Team, aber das wird hoffentlich noch. Immerhin konnte er dem Ungeheuer mit seinem Feuerball und einer Falle empfindlich schaden.
Waldemar schleicht sich immer mehr in mein Leben ein. Mittlerweile ist er die ganze Nacht im Wald auf der Jagd unterwegs. Auch auf der Arbeit habe ich mein Handy in der Schublade und Waldemar verletzt und tötet Orks vor sich hin, während ich im Schulungsraum neuerblindeten Personen die Brailleschrift beibringe.
Ich hätte es selbst nicht für möglich gehalten, aber ich habe echtes Geld für Spieldiamanten ausgegeben, um Waldemar besser fördern zu können. Und jetzt ringe ich mit mir, ob ich nicht nochmal Diamanten kaufen sollte, ob es das wirklich wert ist.
Und nun noch einige Gedanken zum Spielen:
Spiel und Persönlichkeit
Sagt die Art, wie man spielt, etwas über die eigene Persönlichkeit aus? Ich denke, ja. Während meine Arbeitskollegin sich auf der Facebook-Seite von "Rittermanager" mit anderen Spieler*innen vernetzt hat und sich in regem Austausch befindet, munter Orkfleisch gegen Diamanten tauscht und alle Tricks und Kniffe kennt, um an die heißbegehrten Schriftrollen mit Rezepten für Superritternahrung und Bauanleitungen für Superritterwaffen zu kommen, spiele ich so einfach vor mich hin, in meinem stillen Kämmerlein, schon deshalb, weil ich gar keinen Facebook-Account habe. Außerdem bin ich extrem zögerlich, echtes Geld in Waldemar zu investieren, wodurch er leider nur seeehr kleine Fortschritte macht.
Spiel und Sucht
Ich habe vor einiger Zeit einen sehr interessanten Podcast gehört, in welchem ein spielsüchtiger Mann über seine Sucht erzählt hat. Seit ich "Rittermanager" spiele, kann ich nachvollziehen, wie man in die Spielsucht abgleiten kann. "Rittermanager" ist kein Glücksspiel, und doch merke ich, wie bestimmte Mechanismen ihre Wirkung auf mich entfalten.
Mich um meinen Ritter zu bemühen, fällt mir wesentlich leichter, als mich um meine Mitmenschen zu kümmern, denn mein Ritter ist zutiefst berechenbar und seine Bedürfnisse sind leicht zu befriedigen. Und wenn er stört, lass ich ihn aus. Und der Erfolg stellt sich einfach und schnell ein. Waldemar wird besser, ohne dass ich mich dafür viel anstrengen muss.
Waldemar lenkt mich von meinem Alltag ab. Es ist leichter, sich darüber Gedanken zu machen, ob Waldemar einen Wundertrank erhalten soll, als über echte Verpflichtungen und Probleme. Die kann man gut hintanstellen.
Ich habe ein Leben, das in ruhigen Bahnen verläuft. Damit bin ich zufrieden, doch Waldemar bringt etwas Spannung und Abenteuer hinein, ein wenig Freud und Leid. Doch im Gegensatz zum "wahren" Leben bleibt alles im Rahmen und vorhersagbar.
Doch das wirklich Süchtigmachende am Spiel ist das Bedürfnis, immer besser und erfolgreicher zu werden. Ich bin stolz, wenn Waldemar das nächste Level schafft oder eine neue Fähigkeit hinzubekommt, und möchte deshalb weiter und immer weiter machen sowie mehr und immer mehr investieren.
Falls Du auch im Ritteruniversum unterwegs sein solltest, kannst Du Dich sehr gerne mit meinem Sohn Waldemar duellieren. Du findest ihn unter der Spielernummer 638624.