Was mich angeht, ich bin geburtsblind und seit früher Kindheit hörbehindert. Meine Sehbeeinträchtigung ist durch den Langstock weithin sichtbar, meine Hörbehinderung hingegen wird nicht sogleich bemerkt.

Wenn mich Menschen in der Öffentlichkeit auf meine Blindheit ansprechen, fällt meist schnell eine Bemerkung wie "Aber dafür hören Sie viel besser als sehende Leute." Mein Gegenüber wirkt oftmals damit überfordert, dass in meinem Fall die einfache Gleichung, dass der Ausfall eines Sinnesorgans durch außergewöhnliche Leistung eines anderen kompensiert wird, nicht stimmt.

Besonderheiten einer doppelten Sinnesbeeinträchtigung

Wenn man das Nichtsehen nicht durch Gut-Hören kompensieren kann, sind andere Strategien vonnöten, um am beruflichen und gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Einige meiner persönlichen Strategien möchte ich hier kurz vorstellen:

Training der auditiven Wahrnehmung

Es gibt professionelle Hörtrainings, bei denen das verbleibende Hörvermögen mit Hilfe besonderer Übungen trainiert wird: Man muss beispielsweise Geräusche einem Gegenstand zuordnen, die Anzahl von Füllwörtern in einer vorgelesenen Geschichte zählen und sich dabei gleichzeitig auf den Inhalt konzentrieren oder die Häufigkeit des Spiels einer Triangel in einem Orchesterstück wahrnehmen.

Ich habe innerhalb der letzten zehn Jahre zwei derartige Trainings von jeweils zwei Wochen mit mehreren täglichen Übungen durchgeführt. Die Ergebnisse sind für mich verblüffend: Mein auditives Verstehen hat sich jedes Mal merklich verbessert.

Auch das Hören von Hörspielen fördert meine Fähigkeit, mich im Straßenverkehr und in Gebäuden auditiv zu orientieren. Damit auch mein Sprachverständnis im Training bleibt, stelle ich die Lautstärke der Sprachausgabe von PC und Smartphone möglichst niedrig und die Sprechgeschwindigkeit möglichst hoch ein.

Hören ist keine Nebensache!

Wenn ich Musik, Podcasts, Hörspiele oder dergleichen anhöre, konzentriere ich mich darauf, höre hin, ohne mich nebenbei anderen Tätigkeiten zu widmen. So ermögliche ich es meinen Ohren, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und sich in geräuscharmen Situationen zu erholen.

Bei Gesprächen verzichte ich am liebsten auf Hintergrundmusik, damit ich mitbekomme, wann welcher der Anwesenden spricht.

Taktil statt akustisch

Der Radius der taktilen Wahrnehmung ist leider viel kleiner als der der akustischen. Eine taktile Armbanduhr ist ein guter Ersatz für eine gesprochene Zeitansage; bei Durchsagen über Lautsprecher am Bahnhof gibt es hingegen genau so wenig eine taktile Alternative wie beim Straßenüberqueren an einem Zebrastreifen. In solchen Situationen sind diejenigen im Vorteil, deren Hörverlust zumindest teilweise durch Hörgeräte ausgeglichen werden kann: Die Entwicklung geht beispielsweise dahin, dass Lautsprecheransagen über den Bluetooth-Standard Auracast direkt im Hörgerät empfangen werden, so dass praktisch keine Störgeräusche das Sprachverständnis beeinträchtigen.

Technische Hörhilfen

Die Wahl des richtigen Hörsystems ist entscheidend: Hörgeräte für blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen müssen nicht nur das Sprachverstehen unterstützen, sondern auch Richtungshören und differenziertes Geräuscherkennen ermöglichen. Damit ich mit dem Echo-Schall der Keramikspitze meines Langstocks Hauseingänge hören und die Höhe von Wänden einschätzen kann, musste die Impulsgeräuschunterdrückung deaktiviert und die Kompression angepasst werden.

Entscheidung zwischen Audiodeskription und Hörverstärkung

Man kann bei einem Kinobesuch nicht alles haben: Entweder folgt man als hör-sehbehinderter Mensch der Audiodeskription, wobei in der Regel die gesprochenen Inhalte nicht mehr verstanden werden - oder man genießt die Hörfassung ohne Bildbeschreibung.

Fazit

Ich finde es faszinierend, wie es dank der technischen Hilfsmittel und persönlichen Engagements möglich ist, mit zwei Sinnesbehinderungen am gesellschaftlichen und beruflichen Leben teilzuhaben. Darüber hinaus halte ich es für wichtig, die gesamtgesellschaftliche Wahrnehmung von Menschen mit mehreren Handicaps zu schärfen und das Bewusstsein für Anforderungen an Barrierefreiheit für diesen Personenkreis zu stärken. Um diese Ziele gemeinsam mit anderen Betroffenen zu verfolgen, gründete ich mit Mitstreitern die DVBS-Interessengruppe LowVisionPlus.

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