Deutschland gilt im Ausland als strukturiert und effizient. Auch bei Telefonhotlines stößt man längst auf Software, die alle eingehenden Anrufe vorsortiert. Da müssen die Anrufenden dann entweder deutlich sagen, was sie wollen, oder aber sie müssen per Knopfdruck wählen, welche der vorgegebenen Auswahlmöglichkeiten für sie passt. Oft muss das blitzschnell gehen, weil das elektronische Steuersystem die Anrufe sonst abbricht oder auf die Ausgangsposition zurücksetzt. Für mich mit meiner Zitterhand ist die eingeplante Reaktionszeit häufig zu kurz.

Für mich mit meiner neurologischen Erkrankung sind viele Hotlines zu stressig. Dabei hat der Arzt mir unnötigen Stress dringend verboten. Aber welche alltäglichen Verrichtungen sind in diesen rücksichtslosen Krisenzeiten überhaupt noch stressfrei zu bewältigen?

Wenn ich mit viel Geduld und noch mehr Glück irgendwann doch noch auf leibhaftige Menschen an der Hotline treffe, dann sind sie in aller Regel freundlich und hilfsbereit. Aber die Chance, bis zu ihnen durchzudringen, erfordert vorab die Überwindung vieler schwieriger und - zumindest für mich mitunter - unüberwindbarer Hürden.

Da werden 20-stellige Kundennummern oder Vorgangsverschlüsselungen abgefragt. Wer sie nicht schnell irgendwo ablesen kann oder im Kopf eingespeichert hat, der wird mitunter nach kurzer Zeit aus der Leitung geworfen. Wer sie nicht angeben kann, dem entgegnen manche Servicekräfte am Telefon, dem könnten sie auch nicht weiterhelfen. In vielen Fällen finden freundliche Mitarbeitende am anderen Ende der Leitung dann aber doch einen gangbaren Weg, sofern man überhaupt zu ihnen vorgedrungen ist.

Nicht gerade passend erscheint mir, dass Telefonansagen die wartende Kundschaft oft darauf hinweisen, sie könnten ihre Anliegen ja auch "einfach und bequem" online erledigen. Das jedoch ist mir meist noch weniger möglich als eine Klärung am Telefon. Für meine zittrigen Finger sind manche Onlineformulare nur schwer oder gar nicht ausfüllbar, wenn ich sie denn überhaupt in den - oft überladenen - Webseiten gefunden habe.

Wenn ich solche Probleme vorbringe, bekomme ich oft zu hören, die Webseiten seien doch "barrierefrei". Selbst andere Blinde akzeptieren meine Beschwerde oft nicht und meinen, das müsse "man als Blinder doch können" oder erklären mir, wie sie die Website bedienen. Auch solche gut gemeinten Unterstützungsversuche kann und will ich nicht mehr hören. Sie setzen mich unter Stress, meine Mehrfachbehinderung ausführlich zu erklären oder in anderer Weise auf die wohlmeinenden Ratschläge eingehen zu müssen, möchte ich nicht als der letzte Depp dastehen.

Klar ist, dass bei der Erstellung von Internetseiten bestimmte Vorgaben gelten sollten. Auch für Telefonhotlines sollte es solche Vorgaben geben. Dazu zählt die Durchstellung zu einem realen Menschen, wenn jemand die Tastatur bei einem Anruf gar nicht oder fehlerhaft bedient.

Das menschliche Gehirn neigt dazu, schematisch zu denken und alle Situationen in bestimmte Kategorien einzuteilen. Anhand von Vorerfahrungen erstellt es seine Denkmuster und legt sie allen weiteren Erfahrungen zugrunde. Solche "Schubladen" helfen, auftretende Situationen schnell zu durchschauen und rasch darauf zu reagieren. Zugleich aber bergen sie die Gefahr, neuartige Situationen vorschnell in vorgefasste Kategorien einzuordnen und falsche Schlüsse zu ziehen. Vorurteile führen dann zur Ausgrenzung von Menschen wie mir, die nicht in die bereits bestehenden Schubladen passen. Mehrfachbehinderungen potenzieren die Probleme der Betroffenen, da die jeweiligen Ausgleichsmöglichkeiten für eine Behinderung oft die Nutzung gerade derjenigen Sinne erfordern, die durch die zweite Behinderung eingeschränkt sind. Taubblinde können eben nicht auf Gebärdensprache zurückgreifen. Ich kann Hindernissen, die für meinen gelähmten Fuß eine Gefahr darstellen, nicht einfach ausweichen, weil ich sie nicht sehe. Mit meinen zittrigen Fingern kann ich die Tastatur schlecht bedienen, mit deren Hilfe Blinde die Maus umgehen.

Aber auch Mehrfachbehinderte haben ein Recht auf selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Vor allem aber haben sie das Recht auf Schutz vor übergriffiger Bevormundung. Bei 11 Millionen behinderter Menschen in Deutschland ist davon auszugehen, dass es bis zu einer Million mehrfachbehinderte gibt. Sie werden jedoch bei den Angeboten von Hotlines und im Internet kaum berücksichtigt.

Bevor die Leute ihre bevorzugten Schubladen aufziehen, könnten sie vielleicht auch einmal genauer hinhören oder hinsehen. Natürlich haben alle mitunter mal einen schlechten Tag, sodass Verständnis für unglückliche Reaktionen sicherlich sinnvoll und notwendig ist. Darum wünsche ich mir mehr Sensibilität und Rücksicht sowohl anderer behinderter Mitmenschen als auch der nichtbehinderten. Wenn alle Menschen alle anderen achten und ihnen mit Respekt begegnen, dann kann das was werden mit einem bereichernden Zusammenleben in einer gut gelaunten Gesellschaft. An meinen guten Tagen möchte ich freundlich auf die anderen zugehen, damit sie mich an den schlechteren vielleicht auch dann ertragen, wenn ich - meist durchaus mit gutem Grund - einmal schimpfe über Ausgrenzung und Arroganz anderer Menschen. Dafür bin ich ansonsten dankbar dafür, dass ich meine Behinderungen meist ziemlich gut wegstecken und durchaus fröhlich mit ihnen zusammenleben kann.

Zum Autor

Der Journalist Franz-Josef Hanke lebt in Marburg, wo er 1986 das fjh-Journalistenbüro gegründet hat und seit 2000 die kostenlose Online-Zeitung marburg.news verantwortet. Seit 2015 ist er regelmäßig im Podcast "Lagebesprech" zu hören, für den er zusammen mit dem Physiker Dr. Eckart Fuchs und dem Blogger Jens Bertrams zur Frühstückszeit über Politik, Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur mit geladenen Gästen plaudert. Der gebürtige Rheinländer engagiert sich auf vielfältigen Ebenen ehrenamtlich und hat 2005 das Verdienstkreuz am Bande des Bundesverdienstordens erhalten. Ausführlicheres zu Leben und Wirken gibt es auf http://www.hanke-marburg.de.

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