Wer einmal auf dem ehemaligen Schlachthofgelände am East River war, auf dem sich heute das Hauptquartier der Vereinten Nationen befindet, der kann sich der Magie kaum entziehen. Menschen aus bis zu 194 Staaten. Der Staatschef, mit dem man im vom Liftboy gesteuerten Aufzug fährt. Der Kollege aus einem fernen Land, der einem in der Lobby über den Weg läuft. Die zufälligen Bekanntschaften im Vienna Cafe. All das in einer Stadt, von der es heißt, nur 40 % derer, die hier leben, seien tatsächlich New Yorker. Internationaler geht es nicht.
1. Prall gefüllt sei Dein Terminkalender.
Diesmal hat es mich sehr kurzfristig erwischt. Zwei Partnerorganisationen baten um einen Vertreter meines Arbeitgebers auf ihren Side Events. Akkreditierung, Flugbuchung, Hotel und Einreiseformalitäten klappten so eben noch, unser Ältester wollte mich gerne begleiten, und also nehme ich dann doch an der 16. Vertragsstaatenkonferenz (COSP) zur UN-Behindertenrechtskonvention teil. Alleine würde selbst ich das blind nicht tun. Viel zu unübersichtlich sind Stadt und Gebäude.
Viel Zeit zum Vorbereiten habe ich nicht. Zwischen Urlaub und Abflug liegt ein Sonntag, den ich damit zubringe, das Programm zu sichten, mich mit immerhin einem Kollegen zu verabreden und mir aus den über 90 der besagten Side Events diejenigen herauszusuchen, die ich besuchen möchte oder bei denen ich eine aktive Rolle spielen soll. Sogar eine Einladung zu einem Abendempfang trudelt noch ein. Heraus kommt ein diesmal recht entspannter Zeitplan, der Raum für die ein oder andere Stunde am Computer und auch für privates Sightseeing lässt. Übrigens, glaube niemand, die Delegierten der Staaten säßen stur auf der Konferenz. Auch sie entschwinden immer wieder zu anderweitigen Verabredungen, und bisweilen sitzt nur ein Delegierter noch dort, der das Stimmrecht ausübt.
2. Bequem sei Dein Schuhwerk.
Vom Hotel geht es zur U-Bahn, von der U-Bahn zumindest am ersten Tag zum Abholen der Akkreditierung, von dort aus via Sicherheitskontrolle und vorbei an den 194 Fahnen und dem ein oder anderen Kunstwerk ins Gebäude. Je nach Terminplan verlässt man selbiges immer wieder; zum Hochleistungs-E-Mailing im Café um die Ecke, für Treffen zum Mittagessen, zum Bestaunen von Sehenswürdigkeiten. Und abends geht es wieder ins Hotel. Taxifahren ist wegen der dauernden Staus meist sinnlos. Das Geld ist besser in gute Schuhe investiert. Man läuft und läuft und läuft...
3. Dein Pass und Deine Akkreditierung seien stets griffbereit.
Schon vor der Sicherheitskontrolle wird man aufgefordert, seine Dokumente vorzuweisen. Das wiederholt sich beim Betreten von Sitzungen der Staatenvertreter und an manchen Ausgängen. Die UN sind sehr vorsichtig geworden in den letzten Jahren. Je nach Status bekommt man mehrere Pässe, die den Zugang zu unterschiedlichen Sitzungen ermöglichen. Die Wachleute sind freundlich, aber unerbittlich. Wer nicht den richtigen Pass vorweisen kann, kommt nicht vorbei.
4. Groß seien Deine Worte und derer nicht zu viele.
Die COSP ist eine eher kleine Konferenz. 124 Staaten sind diesmal vertreten, 900 Personen angemeldet, und erstmals darf ich im Saal der UN-Generalversammlung auf Beobachterplätzen unten statt auf dem Balkon sitzen.
Ich höre dem UN-Generalsekretär zu und einigen weiteren Offiziellen. Dann haben die Interessensgruppen und die Zivilgesellschaft Gelegenheit zu Statements. Sie müssen vorher beim Konferenzsekretariat angefragt und genehmigt werden. Man darf über alles reden, aber nicht über drei Minuten. Das Mikrofon wird schlicht abgedreht. All das wirkt wie ein Wettbewerb der griffigsten Formulierungen.
5. Dein Pokerface sei ein lächelndes.
Die ersten Beiträge der Staatenvertreter bekomme ich schon nicht mehr mit. Zeit für den ersten Side Event im 1. Untergeschoss des Gebäudes, wo weiland die Konvention ausgehandelt wurde. "Schön Dich zu sehen", schallt es mir entgegen. Luc heißt er und kommt aus Togo. Ja, natürlich erinnere ich mich. Aber woher...? Ach ja, er saß neben mir bei einem Treffen vor vier Jahren in einem Tagungszentrum auf der anderen Seite der 1st Avenue. Erinnerungsfoto. Bis zum nächsten Mal...
6. Dein Antlitz sei Dir stets bewusst.
Ich habe bei diesem Side Event die Rolle des Diskussionsleiters. Doch zunächst gibt es Eröffnungsstatements. Für die Nichtsehenden beschreibt sich der erste Redner kurz selbst. Nette "Teilhabegeste". Aber welche Farbe hat eigentlich meine Krawatte? Bis ich an der Reihe bin, habe ich es herausgefunden. Beschreiben mag mein Sohn mich aber nicht. Vielleicht besser so.
7. Wasser fülle Deinen Rucksack.
Es ist warm im Juni in New York. Inzwischen bekommt man Wasserflaschen wieder durch die Sicherheitskontrolle. Im Gebäude kann man sie an Wasserspendern auffüllen. Die entdecken wir aber erst am letzten Tag. Die Preise in den drei Cafés haben in den letzten Jahren wahrnehmbar angezogen und ähneln denen im UN-Fanshop. So etwas gibt es tatsächlich. Darauf, bei einem Termin in irgendeinem New Yorker Büro etwas zu trinken angeboten zu bekommen, sollte man sich besser nicht verlassen.
8. Dein Arbeitstag klinge bei einem Empfang aus.
Hier gibt es etwas zu trinken. Und zu essen. In diesem Fall sogar schon vor den Reden. Schwierig ist nur das Handhaben von Getränk, Buffetteller und Blindenstock, derweil man gepflegte Konversation macht und endlich den Regierungsvertreter kennenlernt, den man in Berlin offenbar nicht treffen konnte. Doch die Spesenersparnis ist aller Mühen wert. Und manchmal sind auch ganz spannende Reden zu hören.
9. Formvollendet sei dein Begrüßungsritual.
Getränk und Teller muss ich schnell loswerden, als unsere New Yorker Repräsentantin bei den Vereinten Nationen auf mich zukommt. Vertrautere Personen werden auf diesem Terrain mit beinahe überschwänglichen Freudenworten und einer Umarmung begrüßt. Erst haucht man einen Kuss auf die linke Wange des/der jeweils anderen, dann auf die rechte. Ich gestehe, dabei habe ich mich anfänglich etwas unrund bewegt. Aber ein gewisser Übungseffekt ist inzwischen eingetreten.
10. Hab Dein Gastgeschenk stets bei Dir.
Bei einem weiteren Side Event bin ich Diskussionsteilnehmer. Die Veranstaltung läuft gut, und ich lande einige gelungene Redebeiträge, obwohl ich mich mit der Thematik eher nebenbei beschäftige. Das spricht für ein gutes Briefing von den Experten daheim.
Nach der Veranstaltung kommt eine Diskussionsteilnehmerin auf mich zu und überreicht mir einen hübsch verzierten Schal, um mir die Ehre zu erweisen, wie sie sagt. Ich bin gerührt, weiß nicht, was ich sagen soll, und nehme sie spontan in den Arm, ohne mir Gedanken darüber zu machen, ob das in ihrer süd-ostasiatischen Heimat üblich ist. Es scheint nicht falsch zu sein.
Und wo ist mein Geschenk? Wo ist die süße, goldene "Inklusionsschnecke", die uns der Künstler Ottmar Hörl kreiert hat? Im Koffer im Hotel. Wird nachgeschickt.
Zum Autor
Michael Herbst, Jg. 1966, war von 2001 bis 2014 für den DVBS tätig und wechselte dann als Leiter der politischen Arbeit zur Christoffel Blindenmission (CBM) nach Bensheim. Er ist durch Retinitis Pigmentosa (RP) erblindet, verheiratet und hat drei erwachsene Kinder.