Zu meiner Person
Ich bin fast 50 Jahre alt und seit Geburt an vollblind. Zusammen mit meiner Lebenspartnerin, die ebenfalls blind ist, lebe ich in einer Wohnung in Tübingen. Wir gestalten dort unseren Alltag so selbstständig wie möglich, was bedeutet, dass wir beispielsweise auch unseren Haushalt ohne fremde Hilfe führen. Von Beruf bin ich Software-Entwickler, was nahelegt, dass ich mich schon von Berufs wegen hin und wieder mit künstlicher Intelligenz beschäftige, da sie auch dort in vielen Bereichen Einzug hält.
KI in meinem Alltag
Zu Hause beschränkt sich der Einsatz von KI bisher auf die Nutzung der Sprachassistentin Alexa auf diversen Smartspeakern sowie gelegentlich die Bildbeschreibung von Be My Eyes. Wenn man von KI spricht, muss man sich der enormen Spannbreite dieses Teilgebiets der Informatik bewusst sein. Außerdem ist die Frage, was man nun genau unter Künstlicher Intelligenz oder unter Intelligenz im Allgemeinen versteht, gar nicht so leicht zu beantworten. Viele Softwaresysteme, die intelligent wirken, weil sie beispielsweise auf menschliche Sprache reagieren und mehr oder weniger gut mit dem Benutzer einen Dialog führen können, sind es in Wirklichkeit nicht. Andere Dinge, die man früher noch auf klassische Weise mit herkömmlichen Algorithmen gelöst hat, sind heutzutage KI-basiert, einfach weil KI eben gerade einen großen Hype erfährt. Wer mit KI arbeitet, ist innovativ und modern, ob es nun notwendig ist oder nicht.
Daher ist es nicht verwunderlich, dass auch meine Erfahrungen mit KI sehr heterogen sind. Schon oft habe ich mich im Nachhinein geärgert, wenn ich Alexa danach gefragt habe, wie das letzte Fußballspiel meiner Lieblingsmannschaft ausgegangen ist, und als Antwort bekam, dass die Mannschaft XYZ im Jahr 2015 gegen ABC 0 zu 1 verloren hat. Denn ein Spiel von vor fast 10 Jahren interessiert mich nicht und ist auch nicht die adäquate Antwort auf meine Frage. Hätte ich mich an den PC gesetzt und einfach die Suchmaschine meiner Wahl verwendet, wäre ich in diesem Fall schneller zum Ziel gekommen und hätte auch noch gleich gewusst, aus welcher Quelle denn die Antwort stammt.
KI ist heute noch nicht so weit, dass man sich sicher sein kann, dass die Antworten tatsächlich stimmen. OK, auch Google-Resultate verweisen oft auf Webseiten, auf denen allerlei Unsinn verbreitet wird. Aber man hat dann zumindest die Chance, entsprechende Kommentare zu lesen, Bewertungen zu studieren oder alternative Quellen zu analysieren. Alexa hingegen gibt halt eine Antwort und das war's dann.
Die Bildbeschreibung von Be My Eyes hingegen half mir neulich dabei, festzustellen, ob meine Spülmaschine schon fertig ist oder nicht. Unsere Spülmaschine ist vollintegriert, hat also keine Tasten und kein Display, die im geschlossenen Zustand sichtbar sind. Lediglich ein roter Laserpunkt, den das Gerät im eingeschalteten Zustand auf den Fliesenboden projiziert, zeigt an, dass man mit dem Ausräumen noch warten muss. Dies bot sich als Test für die KI-Bilderkennung von Be My Eyes an. Also richtete ich die Kamera auf den Küchenboden und tatsächlich, die KI beschrieb eine Szene mit Fliesenboden und Küchenschrank. Auf dem Boden sei ein roter Punkt zu sehen, wahrscheinlich von einem Laser. Prima, Ziel erreicht. Aber was macht man nun, wenn kein roter Punkt in der Beschreibung auftaucht? Heißt das, dass die Spülmaschine schon fertig ist, oder nur, dass die KI den Punkt nicht als hinreichend wichtig eingeordnet hat, um ihn zu beschreiben? Oder vielleicht auch, dass ich die Kamera nicht gut ausgerichtet habe?
Resümee
Natürlich sind dies nicht die einzigen Erfahrungen mit KI. Sie zeigen aber aus meiner Sicht, wo wir heute stehen. KI bietet uns viele interessante Möglichkeiten. Die perfekte Alternative zu barrierefrei nutzbaren Geräten, die zuverlässig ihren Betriebszustand, beispielsweise per Sprachausgabe, ansagen, zu Ansagen an Bushaltestellen oder zu Leitlinien zur Orientierung, ist sie aber nicht. Was bringt mir die KI, wenn sie mir den vor mir auftauchenden Abgrund nicht ansagt? Und wenn ich dann gestolpert bin und die KI mir dann sagt: "Entschuldigung, da habe ich mich wohl geirrt."? Wir sollten KI zwar unbedingt als Chance begreifen. Sie kann uns bei vielen Dingen helfen, die uns bisher schwergefallen sind. Sie kann und darf jetzt noch nicht als die Heilslösung für alle Probleme der Barrierefreiheit und der für uns notwendigen Unterstützung im Alltag gesehen werden.
Zum Autor
Stefan Jansen hat Informatik studiert und ist seit 2004 als Software-Entwickler bei der Mercedes-Benz AG in Sindelfingen tätig, wo er sämtliche Schnittstellen der UI-Software für das Fahrer- und Headup-Display verantwortet. Ein großes Interessengebiet des 49-Jährigen ist die digitale Barrierefreiheit, insbesondere im Bereich Amateurfunk, seinem großen Hobby.