"Wir wollen Beteiligung, Bildung und Begegnung auf Augenhöhe"
Die Offenen Hilfen von Regens Wagner Zell für Menschen mit Hörbehinderungen im Bayerischen Regierungsbezirk Mittelfranken bieten Bildungs- und Freizeitangebote für Menschen mit Taubblindheit/Hör-Sehbehinderung
Von Martin Thanner
Regens Wagner Zell ist eine Einrichtung, in der Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Hörbehinderung und zusätzlichen Einschränkungen in verschiedenen Wohnformen leben sowie in Schulen und Tagesstätten für Kinder und Senioren gefördert werden. Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten finden sie in der Werkstatt für Menschen mit Behinderung (WfbM) oder in der Förderstätte. Von derzeit ca. 550 Menschen mit Hörbehinderung sind ca. 45 Personen unterschiedlichen Alters von einer doppelten Sinnesbehinderung betroffen und werden vollstationär, teilstationär oder ambulant begleitet und gefördert.
Ein Praxisbericht: "Ich sehne mich nach barrierefreien Angeboten"
Taubblindheit bzw. Hör-Sehbehinderung
Erwachsene Menschen werden dann als taubblind oder hör-sehbehindert bezeichnet, wenn sie in ihrer Fähigkeit zur Nutzung akustischer Informationen, zur verbalen Kommunikation und in ihrer Fähigkeit zur Verwertung visueller Informationen oder zur visuellen Orientierung so stark eingeschränkt sind, dass sie auf die Nutzung anderer Informationen angewiesen sind. Der Ausprägungsgrad kann sehr unterschiedlich sein. Es kann von einer hochgradigen Schwerhörigkeit oder Taubheit mit umfassender Seheinschränkung (bspw. bei Usher-Syndrom Typ 1) oder einer deutlichen Hörminderung mit beginnender oder ausgeprägter Visusverschlechterung (bspw. Usher-Syndrom Typ 2) bis hin zur vollständigen Erblindung und Gehörlosigkeit reichen. Hinzu kommen häufig weitere behinderungsbedingte Einschränkungen wie Gleichgewichtsstörungen oder psychische Überlastungsanzeichen.
Für Bayern wird die Anzahl erwachsener Menschen mit Taubblindheit auf ca. 400 Personen geschätzt. Weit höher dürfte die Zahl der Menschen mit hochgradiger Hör- oder/und Sehminderung liegen. Man geht davon aus, dass besonders in Einrichtungen der Eingliederungshilfe eine nicht unerhebliche Anzahl von Betroffenen lebt, bei denen aufgrund der Intelligenzminderung keine entsprechende Diagnostik stattgefunden hat.
"Toll, dass ich mit meiner Taubblindheit Neues kennenlernen kann"
Die Offenen Hilfen von Regens Wagner Zell stellen jedes Jahr ein Bildungs- und Freizeitprogramm zusammen, das auf die Seh- und Höreinschränkungen abgestimmt ist, um gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen. Schon bei der Erstellung des Jahresprogramms wird darauf Wert gelegt, dass dies möglichst in barrierefreier Form vorliegt, d. h. zum einen in leichter Sprache, zum anderen über ein digitales Leseprogramm abrufbar ist. Damit wird den Interessierten ermöglicht, sich selbstständig zu informieren.
Es gibt in Bayern nur sehr wenige Anbieter, die die fachliche Expertise besitzen und solche speziellen Bildungs- bzw. Freizeitangebote aufstellen. Die Angebote der Offenen Hilfen von Regens Wagner Zell ergänzen Angebote des Fachdiensts Integration taubblinder Menschen in München (kurz: ITM), der Evangelischen Gebärdensprachlichen Gemeinde (EGG) oder des Gehörlosenverbandes München und Umland e.V. (GMU). Auf diese Art und Weise wird die Angebotsvielfalt in Bayern für diesen Personenkreis erhöht.
Die Betroffenen nehmen lange Anfahrten in Kauf, da die Veranstaltungen für alle immer eine gute Gelegenheit sind, Freunde und Bekannte zu treffen. Daher wird bei der Programmgestaltung auch immer darauf geachtet, dass ausreichend Zeit für die persönlichen Begegnungen bleibt.
So unterschiedlich also die Hör-, Seh- und Kommunikationsbedürfnisse der Betroffenen sind, so individuell müssen die begleitenden Dienste bzw. die Informationsvermittlung darauf ausgerichtet sein.
Hör-Sehbehinderung und Taubblindheit ist eine Behinderung eigener Art, die sich nicht aus der Addition Seh- und Hörbeeinträchtigung ergibt, da der jeweils kompensatorische Sinn ausfällt oder beeinträchtigt ist. Bei Menschen mit Sehbehinderung spielt normalerweise der verbleibende zweite Fernsinn, das Hören, eine große kompensatorische Rolle. Umgekehrt hat für Menschen mit Hörbehinderung die visuelle Wahrnehmung eine sehr große Bedeutung.
Schlecht-Sehen-Können-Schlecht-Hören-Können (Hör-Sehbehinderung) bzw. Nicht-Sehen-Können-Nicht-Hören-Können (Taubblindheit) bedeutet, in vermehrtem Maße auf die übrigen Sinne angewiesen zu sein. Die Umwelt wird vor allem mit Tast-, Geruchs- und Geschmacksinn erfahren.
Dies ist bei der Auswahl und Gestaltung der Angebote zu berücksichtigen. Die TeilnehmerInnen müssen die Möglichkeit zur sinnlichen Wahrnehmung haben. Die Organisatoren klären im Vorfeld ab, ob Riechen, Schmecken und Tasten möglich ist.
"Ich werde mit meiner Kommunikationsform verstanden"
Aufgrund der Beeinträchtigung bzw. des Ausfalls beider Fernsinne sind spezielle Kommunikationstechniken erforderlich. Es existiert aber keine allgemeingültige Kommunikationsform für hörsehbehinderte/taubblinde Menschen, da diese von der individuellen Entwicklung als auch vom vorhandenen Hör- und Sehvermögen abhängt.
Kommunikationsformen
- Lautsprache
Vereinzelt können Teilnehmende, die entweder aufgrund des vorhandenen Resthörvermögens bzw. durch die Ausstattung mit entsprechenden Hörhilfen (Hörgerät, Cochlea Implantat) in Lautsprache kommunizieren. Hier muss aber auf eine hörbehindertenspezifische Umgebung geachtet werden. Störgeräusche sind zu minimieren, langsames und deutliches Sprechen ist erforderlich, und um das Mundbild ablesen zu können, muss die Kommunikation in einem ausreichend hellen, aber blendfreien Setting stattfinden. - Deutsche Gebärdensprache und Dolmetschende
Mit Teilnehmenden, die noch über einen ausreichenden Sehrest verfügen, erfolgt die Kommunikation in Gebärdensprache. Die Organisatoren der Offenen Hilfen beherrschen zwar die Gebärdensprache. Um aber eine hochwertige Informationsvermittlung sicherzustellen, werden in der Regel ausgebildete GebärdensprachdolmetscherInnen engagiert. - Taktiles Gebärden
Teilnehmende, die aufgrund des geringen Restsehvermögens oder vollständiger Blindheit die Gebärden nicht mehr erkennen können, sind auf das sog. Taktile Gebärden angewiesen. Hierbei werden Gebärden in die Hände der Person mit der doppelten Sinnesbehinderung ausgeführt, so dass diese die Gebärden erfühlen kann. - Lormen
Schriftsprachlich orientierte taubblinde Teilnehmende beherrschen häufig das sog. Lormen, ein Buchstabensystem, das auf der Hand ausgeführt wird.
Für alle Kommunikationsformen gilt aber, dass sie nur in einer 1:1-Situation stattfinden können, da die Nähe zum Partner zwingend erforderlich ist. Außerdem muss für die Kommunikation ein deutlich erhöhter Zeitaufwand einkalkuliert werden, was bei der Programmgestaltung zu berücksichtigen ist. Ebenso erfordert taktiles Gebärden und Lormen eine hohe Konzentration, so dass immer wieder Pausen eingeplant werden müssen.
Die Teilnehmenden werden zum größten Teil durch geschulte Taubblindenassistenten, durch Angehörige oder Freunde begleitet. Diese unterstützen zum einen bei der Mobilität und Orientierung, zum anderen haben sie aber auch die Funktion der Kommunikationsassistenz.
Einsatz von technischen Hilfsmitteln
Zum Teil sind die Teilnehmenden mit individuellen Hilfsmitteln ausgestattet, mit denen der vorhandene Hör- und Sehrest bestmöglich genutzt werden kann. Die Versorgung mit Cochlea Implantat oder Hörgeräten hat aber nicht zwingend zur Folge, dass Lautsprache verstanden werden kann. Mit Hilfe von speziellen Brillen und mobilen Vergrößerungshilfen wird der vorhandene Sehrest unterstützt. Wenn möglich und erforderlich kommen bei den Angeboten auch Induktionsanlagen zur Verstärkung des Hörrests oder Bildschirmlesegeräte zum Einsatz, die durch die Offenen Hilfen organisiert werden.
Herrausforderungen
Die Organisation stellt die Verantwortlichen bei den Offenen Hilfen von Regens Wagner Zell vor große Herausforderungen. Viele Fragen müssen im Vorfeld geklärt werden, um einen reibungslosen Ablauf zu garantieren.
- Welche Angebote sind für die Teilnehmenden interessant?
- Sind die Örtlichkeiten mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar?
- Zeitlicher Umfang des Programms?
- Ausreichend Pausenzeiten einplanen!
- Ist das Programm so gestaltet, dass die Teilnehmenden riechen, schmecken und ertasten können?
- Werden Gebärdensprachdolmetscher*innen benötigt?
- Welche Kosten entstehen?
- Welche Absprachen und Regelungen müssen im Vorfeld mit den Verantwortlichen vor Ort besprochen werden?
- Welche Einkehrmöglichkeiten gibt es in der Umgebung?
Ein besonderes Problem stellt die Finanzierung der erforderlichen Gebärdensprachdolmetscher*innen dar. Die Teilnehmer*innen verfügen in der Regel nicht über ausreichend private Mittel, um die anfallenden Kosten zu übernehmen, da sie häufig aufgrund der Sinneseinschränkungen nicht mehr erwerbstätig sind. Da es in Bayern bisher, vergleichbar dem Blindengeld, kein Gehörlosengeld gibt, und viele aufgrund der gesetzlichen Vorgaben noch keinen Anspruch auf das Taubblindengeld haben, können sie auch nicht auf staatliche Unterstützung zurückgreifen. In der Regel haben öffentliche Einrichtungen, wie Museen, auch kein Budget für die Buchung von Gebärdensprachdolmetscher*innen. Das barrierefreie Angebot der Einrichtungen beschränkt sich auf die Zugänglichkeit der Räumlichkeiten und die Informationsweitergabe in einfacher bzw. leichter Sprache, die aber für die Menschen mit starken Seheinschränkungen nicht lesbar ist. Viele der Betroffenen sind auch nicht in der Lage, die evtl. vorhandenen Texte in Brailleschrift abzufühlen, da die Sehbehinderung erst im fortgeschrittenen Alter aufgetreten ist und sie daher die Schwarzschrift erlernt haben. Aus den oben genannten Gründen sind die Offenen Hilfen darauf angewiesen, finanzielle Unterstützung über Stiftungen zu akquirieren. Dank der Zuwendungen aus Stiftungsgeldern der Stadt Nürnberg ist die Finanzierung der Gebärdensprachdolmetschenden für die geplanten Angebote erst einmal gesichert.
Zum Autor
Martin Thanner (61 Jahre) ist Diplom-Sozialpädagoge mit langjähriger Erfahrung und fachlicher Kompetenz in den Bereichen Hör-Sehbehinderung und Taubblindheit. Als Fachdienst organisiert und koordiniert er Bildungs- und Freizeitangebote der Offenen Hilfen für Menschen mit Hör-Sehbehinderung und Taubblindheit. Er kommuniziert lautsprachlich und bei Bedarf in Deutscher Gebärdensprache (DGS). Ferner leitet er die Tagesstätte für Erwachsene nach dem Erwerbsleben (T-ENE) in Zell bei Nürnberg. Taube und schwerhörige Seniorinnen und Senioren mit zusätzlichen Einschränkungen erhalten dort altersentsprechende Assistenz- und Pflegeleistungen.
Der Name der Einrichtung geht auf Johann Evangelist Wagner (1807 - 1886) zurück, der als Regens das Dillinger Priesterseminar leitete und geistlicher Begleiter der Dillinger Franziskanerinnen war. Er unterstützte die Arbeit der Generaloberin, die sich um gehörlose Mädchen kümmerte, indem er u. a. 1872 das Schloss in Zell kaufte.
Kontakt
E-Mail: martin.thanner@regens-wagner.de
Tel.: 09177 973700
Link zum Programm 2025:
https://regens-wagner-zell.de/ueber-regens-wagner/publikationen/