Vor einigen Jahren habe ich mit Melanie, die eigentlich anders heißt, einmal über ihre Beziehung zu ihrem sehenden Mann gesprochen. Damals sagte sie mir u. a., dass es Momente gebe, in denen ihr Mann über blinde Personen sagen würde, dass er die "Welt blinder Menschen" niemals komplett verstehen werde. Dabei, so dachte ich mir damals, kennt er viele Personen, die blind oder sehbehindert sind, und lebt schon einige Zeit mit Melanie zusammen. Wie kann es da sein, dass sie mir solche Aussagen von ihm berichtet?
In der "Welt" blinder und sehbehinderter Menschen existiert die Meinung, dass sich in Partnerschaften mit sehenden Personen die Selbstständigkeit blinder oder hochgradig sehbehinderter Partner*innen nicht aufrechterhalten lässt. So gab es während meiner Schulzeit die Geschichte eines blinden Mannes, der vor seiner Heirat einer sehenden Partnerin der "König unter den Blinden" gewesen sei, viele Dinge, wie das Einnehmen seiner Mahlzeiten, den Gang zum Friseur, seinen Einkauf und sonstige praktische Dinge, alleine gemacht habe. Durch die sehende Partnerin, so erzählte man sich weiter, habe er seine Selbstständigkeit verloren.
Manche blinden Menschen haben mir berichtet, dass entweder sie selbst oder aber ihre Familie gewollt habe, dass sie eine Partnerschaft mit einer sehenden Person eingehen, einerseits nach dem Motto: "Dann bist du versorgt, und dir kann nichts passieren", andererseits empfinden sich manche blinden und sehbehinderten Personen erst dann in der "Welt der Sehenden angekommen", wenn sie eine Partnerschaft mit einer nicht behinderten Person eingehen, sozusagen als Statussymbol.
Wie lernt eine blinde Person einen sehenden Partner oder eine Partnerin kennen, wo doch durch die Blindheit oder durch die Sehbehinderung viele Möglichkeiten der Kontaktaufnahme zu Menschen entfallen? Wie sind also, so frage ich Melanie, sie und ihr Partner überhaupt zusammengekommen? Melanie erläutert, dass sie ihren Mann schon eine ganze Weile gekannt habe, bis sich die beiden irgendwie sympathisch gefunden hätten. Beide hätten diese Sympathie gespürt, und man sei sich langsam nähergekommen, ohne Blickkontakt und ohne Flirt oder sonstige Signale, die optisch auf das Anbahnen einer Beziehung hindeuten. Einige Zeit später beschlossen beide, gemeinsam in einem Haus zusammen leben zu wollen. Ich will wissen, ob Melanie einen blinden oder sehenden Partner gewollt habe, oder ob solche Dinge bei der "Wahl" ihres Partners keine Rolle gespielt haben. Letztlich, so berichtet sie, sei es ihr egal. Sie habe nach Sympathie entschieden. Sie habe vor ihrer jetzigen Ehe drei sehbehinderte Partner gehabt. Mit einem sehenden Partner habe man allerdings einen gewissen "Luxus", denn es habe durchaus Vorteile, dass er ein Auto fahren könne, mal "eben schnell" die Post durchsehen könne, den Ölfleck auf dem Polohemd schnell entdecke, der vom Backen darauf gekommen sei, usw. Das Leben sei ein anderes, nicht schlechter und nicht besser, wenn man einen sehenden Partner habe. Mit einem blinden oder sehbehinderten Partner würde sie andere Urlaubsreisen machen, sie hätten gemeinsam weniger Freiheiten bei der Auswahl der Hotels, und vermutlich würde sie auch in einem Haus leben, das mit dem Bus besser angebunden sei.
Ich versuche mir die Perspektive des sehenden Partners vorzustellen. Empfindet er das, was Melanie als "Freiheit" beschreibt, nicht als recht anstrengend? Schließlich muss er ihr im Hotel beim Frühstück helfen, ihr die Umgebung erklären, damit sie beispielsweise den Weg in das gemeinsame Zimmer oder zur Rezeption findet. Zum Teil, so antwortet Melanie auf meine Nachfrage, sei es für beide Seiten anstrengend. Man stehe an einem Buffet, sie wolle konkret wissen, was es dort gebe, ob das Müsli beispielsweise Früchte habe, woraufhin er dann anmerke, dass er erst mal seine Brille zücken und nachsehen müsse. Daher hätten sie gelernt, dass es für sie beide recht angenehm sei, entweder Campingurlaub zu machen oder in eine Ferienwohnung zu gehen. Dann müsse er zwar einmal mit ihr - und evtl. auch noch in einer fremden Sprache - in einem Supermarkt einkaufen, doch könne sie sich in der Wohnung recht schnell orientieren, und dann funktioniere alles gut. Sie hätten es sich allerdings angewöhnt, etwa einmal im Jahr voneinander getrennte Urlaube zu planen, damit man allen Bedürfnissen gerecht werden könne.
Natürlich hat sich für beide ein gemeinsamer Alltag entwickelt. Wie in beinahe jeder Beziehung gibt es praktische Zuständigkeiten: Der Partner mäht beispielsweise den Rasen und wechselt die Reifen beim Auto, Melanie fühlt sich eher für den Haushalt zuständig. Schon ist man wieder bei der Frage der unterschiedlichen Bedürfnisse angelangt. Dabei ist klar, dass es in jeder Partnerschaft unterschiedliche Lebensvorstellungen, Wahrnehmungen und Bedürfnisse gibt, die miteinander in Einklang gebracht werden müssen. Doch anhand eines ganz praktischen Beispiels erzählt mir Melanie, dass schon beim Kochen die unterschiedlichen Wahrnehmungen von blinden und sehenden Menschen eine Rolle spielen. Sie lege sich ein Brett und ein Messer und Dinge, die ihr sonst bei der Zubereitung von Speisen wichtig seien, immer an eine bestimmte Stelle in der Küche. Manchmal komme dann ihr Mann herein, merke, dass sie momentan weder ein Brett noch ein Messer benötige, und beginne, beides wegzuräumen. Sie merke dieses nicht, suche danach und komme dann darauf, dass beides inzwischen in der Spülmaschine sei. Dabei meine ihr Partner es gar nicht böse. Er denke, dass beides doch nur so "herum liege", und nehme es weg. Schließlich könne es sie doch stören, wenn es herumliege. Die Wortwechsel, die dann entstünden, seien nicht immer nur freundlich, und es komme in solchen und ähnlichen Situationen durchaus zu Konflikten. Sie könne es nicht leiden, wenn sie etwas nicht finde. Könne sie selbst sehen, könne sie eben schneller eingreifen und sagen, dass alles dort liegen bleiben müsse, wo sie es hingelegt habe, da es noch gebraucht werde.
Durch die unterschiedlichen Sinneswahrnehmungen hätten sich bei beiden unterschiedliche Vorstellungen darüber entwickelt, wie man an bestimmte Dinge herangehen müsse. Bei ihr sei eben der Geruchs-, der Tast- und der Gehörsinn anders geschult, ihr Mann habe beispielsweise aus ihrer Sicht keinen besonders guten Geruchssinn. Wie kommt man, so frage ich Melanie, im Alltag mit der soeben geschilderten Situation zurecht, ohne ständig miteinander in handfeste Streitigkeiten zu geraten? Bestimmte Dinge, so erklärt mir Melanie, müsse man eben immer wieder miteinander klären und sich gemeinsam die unterschiedlichen Wahrnehmungen in einer Situation bewusst machen und konstruktive Lösungen finden. Insgesamt, so sagt Melanie weiter, seien blinde Menschen, auf der abstrakten Ebene gesprochen, in der Umsetzung mancher Dinge langsamer als sehende. Sie könne eben eine Sache nicht "mit einem Blick erfassen", sondern müsse eine Situation mit den Händen und mit anderen Sinneskanälen in kleineren Schritten begreifen. Ihr Mann erfasse Situationen über das Sehen sehr schnell und reagiere sofort. Sie allerdings nehme Dinge durch ihr Gehör manchmal eher wahr als er. Beispielsweise sei neulich der Nachbar aus dem Urlaub gekommen, was sie ihrem Mann mitgeteilt habe, woraufhin er verwundert geäußert habe: "Was hörst du denn schon wieder?", davon habe er nichts mitbekommen.
Ist es Melanie ein Bedürfnis, überlege ich, manche Dinge, die für ihren Partner schwierig oder gar nicht nachvollziehbar sind, mit blinden oder sehbehinderten Personen auszutauschen, auch um sich selbst einordnen zu können? Ja, erläutert mir Melanie, dieses sei durchaus der Fall. Natürlich wolle sie sich selbst und ihre jeweiligen Wahrnehmungen einordnen können.
Nun habe ich vieles über unterschiedliche Perspektiven, über den Alltag und über Konflikte, die es gibt, die sich aber konstruktiv miteinander lösen lassen, erfahren. Zuletzt möchte ich noch etwas über das Thema Selbstständigkeit wissen. Hat sich, so frage ich Melanie, dein Verständnis des Begriffes Selbstständigkeit geändert, seit dem Zusammenleben mit einem sehenden Partner? Die Antwort ist aus meiner Sicht erstaunlich klar: Nicht durch ihren sehenden Partner habe sich für sie ihr Verhalten in Bezug auf ihre Selbstständigkeit verändert, sondern durch die Jahre der Corona-Pandemie. Dadurch, dass die Kontakte stark eingeschränkt gewesen seien, sei sie ständig zu Hause gewesen, kaum mit dem Bus gefahren, und verreist seien sie auch weniger. Gerade sei sie dabei, ihre gewohnte Selbstständigkeit wieder zu finden. Langsam fahre sie wieder mehr mit dem Bus, gehe in Restaurants und in Konzerte und unternehme andere Dinge. Ich bedanke mich bei Melanie für die interessanten Einblicke, die sie mir in ihren Alltag gegeben hat, der sich von meinem tatsächlich unterscheidet.
Als alleinlebende Frau muss ich mich mit Konflikten, egal in welcher partnerschaftlichen Konstellation, nicht beschäftigen. Aber die Ausführungen zu dem "Luxus", den man in der beschriebenen Beziehungssituation haben kann, stelle ich mir durchaus angenehm vor. Wünschen sich nicht manche blinde Personen, so frage ich mich, zunächst vor allem wegen dieser "Erleichterungen" engen Kontakt zu sehenden Menschen, und scheitert er dann nicht oftmals aufgrund der Überforderung beider Seiten? Doch scheint es eine Möglichkeit zu sein, miteinander umzugehen, wenn Konflikte ausgetragen, Bedürfnisse angesprochen werden, und man immer wieder neu nach Wegen sucht, dass alle Beteiligten ein Stück ihrer "Welt" in einen gemeinsamen Alltag einbringen können. Ob, wann und inwieweit man einen solchen Weg gehen kann, muss, so denke ich, man immer wieder neu für sich klären.