Am 03.06.2024 wurde zum 20. Mal das "Marburger Leuchtfeuer für soziale Bürgerrechte" verliehen. Diese undotierte Auszeichnung erhalten Personen, die sich durch ihr Engagement um die sozialen Bürgerrechte verdient gemacht haben. Sie wird seit 2005 gemeinsam von der Stadt Marburg und der Regionalgruppe Nord- und Mittelhessen der "Humanistischen Union (HU)", Deutschlands ältester Bürgerrechtsbewegung, vergeben. Es gibt viele bekannte Preisträger*innen: Sabriye Tenberken (2009), Dr. Bernhard Conrads, der langjährige Vorsitzende der Lebenshilfe Marburg (2012), und Dr. Ulrich Schneider, Geschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes (2014), zählen zu ihnen. In diesem Jahr wurde einer aus unseren Reihen geehrt. Ottmar Miles-Paul ist ein hörsehbehinderter Aktivist und gilt als der "Vater" der deutschen Behindertenbewegung - sieht sich aber eher als ihr "Kind", wie er sagt.

Ottmar Paul wurde am 11.07.1964 in Oberschwaben geboren (man hört es ihm heute noch an). In den 80er Jahren besuchte er die Deutsche Blindenstudienanstalt und schloss deren Fachoberschule Sozialwesen (FOS) 1985 mit dem Fachabitur ab, kurz darauf wurde er auch Mitglied des DVBS. Er wechselte nach Kassel, wo er an der dortigen Gesamthochschule Sozialwesen studierte. Schon 1987 gründete er in Kassel den "Verein zur Förderung der Autonomie Behinderter (FAB)", dessen Marburger Pendant wenig später folgte, die "Förderung der Integration Behinderter (FIB)". 1989 veröffentlichte er in unseren "Marburger Beiträgen (MB)" den Aufsatz: "Selbstbewusstsein wichtiger als Anpassung" (MB/horus 1989, Heft 4 in Punkt-, Heft 3 in Schwarzschrift). Schon dieser Titel macht deutlich, worum es ihm ging und geht. Selbstbewusst gründete er 1990 mit Gleichgesinnten die bundesweit agierende "Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben (ISL)", deren langjähriger Geschäftsführer er war. Auch der 5. Mai, der seit 1992 jährlich als Protesttag der Menschen mit Behinderung begangen wird, geht auf seine Initiative zurück. Zwischenzeitlich lebte er in diesen Jahren auch in Berkeley, nahe San Francisco/USA, wo er nicht nur die dortige Behindertenbewegung, sondern auch seine erste Frau kennenlernte, die er am 02.05.1990 heiratete; seitdem heißt er Miles-Paul.

Anfang der 90er Jahre stritt er für ein Benachteiligungsverbot im Grundgesetz. Dieser Weg war steinig und erforderte zwei Versuche. Mitte 1993 wurde die erforderliche Zweidrittelmehrheit in der Verfassungskommission noch nicht erreicht (siehe seinen Bericht in MB/horus 1993, Heft 5 in Punkt-, Heft 4 in Schwarzschrift). Erst Ende 1994 war es dann endlich so weit: In Art. 3 Abs. 3 wurde Satz 2 "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden" eingefügt (siehe den Bericht von Dr. Schulze in MB/horus 1994, Heft 6 in Punkt-, Heft 5 in Schwarzschrift). Ein weiterer großer Erfolg - trotz der "männlichen" Formulierung ("Niemand darf wegen Behinderung benachteiligt werden" wäre wirklich neutral).

Ottmar Miles-Paul ist auch die Umbenennung der "Aktion Sorgenkind" in "Aktion Mensch" im Jahr 2000 zu verdanken. Es war auch das Jahr, in dem er den Verein "Kooperation Behinderter im Internet" gründete, der ab 2002 regelmäßig die "kobinet-nachrichten" herausbrachte, den ersten Online-Newsletter für behinderte Menschen. Dieser sollte auch für die Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe wegweisend sein, denn schon am 01.07.2003 ging "horus aktuell" an den Start.

Einige Jahre später wechselte Miles-Paul nach Mainz und ging in die Politik. Von 2008-2012 war er Landesbehindertenbeauftragter in Rheinland-Pfalz. Dort lebte er sein Motto "Nicht über, sondern mit uns!", indem er wegweisende sozialpolitische Neuerungen in diesem Bundesland erwirkte.

Inzwischen lebt er mit seiner zweiten Frau wieder in Kassel und wurde im letzten Jahr sogar zum Buchautor. Sein gewagter Reportage-Krimi "Zündeln an den Strukturen", den er Mitte 2023 veröffentlichte, wurde am 2. Mai dieses Jahres im Marburger Hotel Vila Vita Rosenpark vorgestellt, zusammen mit Sabine Lohner, die den Krimi als Hörbuch in den Studios der DBH produziert. Es geht darum, dass zwei Aktivist*innen der "Enthinderungsgruppe" eine Behindertenwerkstatt in Brand stecken. Sie stellen sich die Frage: Was würde mit behinderten Menschen geschehen, wenn es keine Werkstätten mehr gäbe? Hätten sie dann evtl. mehr Chancen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, weil man sich mehr mit ihren Problemen und Bedarfen auseinandersetzen müsste? Das Hörbuch wird wahrscheinlich im Herbst 2024 fertiggestellt, wir werden in den "Hörbuchtipps aus der blista" darüber informieren.

Bei der Leuchtfeuer-Preisverleihung im Marburger Erwin-Piscator-Haus gab es einige Redebeiträge, die Miles-Pauls Verdienste würdigten. Franz-Josef Hanke, Vorsitzender der oben erwähnten HU-Regionalgruppe, hob seine Initiative für ein selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen hervor.

Die Laudatio hielt Malu Dreyer, die langjährige Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, die Miles-Pauls Arbeit als Behindertenbeauftragter hervorhob. "Dein Leuchtfeuer hat eine helle - wie ich finde - wegweisende Botschaft. Wir haben viele Zukunftschancen für eine inklusive Gesellschaft. Lasst sie uns nutzen und lasst uns Inklusion überall von Anfang an leben", sagte sie in Anwesenheit einiger Abgeordneter ihrer Landesregierung sowie der beiden Nachfolger*innen im Amt des Behindertenbeauftragten.

Außerdem sprach Frau Prof. Dr. Sigrid Arnade, Sprecherin für Gender & Diversity sowie ehemalige Geschäftsführerin der ISL und damit Nachfolgerin des Preisträgers. In zehn Schlaglichtern würdigte sie seine Verdienste. Sie schloss mit einem allgemeinen Dank: "Danke Ottmar dafür, dass Du seit Jahrzehnten und hoffentlich noch ganz lange ein nie verlöschendes Leuchtfeuer warst, bist und bleibst".

Die Preisverleihung wurde musikalisch umrahmt, zum einen mit zwei Liedern über Marburg, zum anderen mit der traditionellen Leuchtfeuer-Hymne, die 2014 anlässlich der 10. Preisverleihung entstand - Text: Franz-Josef Hanke, Musik: Jochen Schäfer, der ich sämtliche Lieder komponiert und gespielt habe.

Zum Schluss sprach der Preisträger seinen Dank aus. "Schön, mal wieder in Marburg zu sein", begann er. Im Grunde liebe er solche Feierlichkeiten mit so viel Lob um seine Person ja nicht, aber er freue sich trotzdem über diese Würdigung, da sie ein Ausdruck des Dankes und der Anerkennung für sein Wirken sei.

Die Redebeiträge können übrigens als Videos auf dem Kanal der Humanistischen Union angesehen werden. Direktlink: http://tv.humr.de.

Wir wünschen dem heute 60-Jährigen noch viel Schaffenskraft in den nächsten Jahren. Möge er seinen Optimismus und Antrieb behalten für weitere Aktionen und Impulse im Interesse behinderter Menschen.

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