Donnerstagmorgen. In der Aula des Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrums (SBBZ) Sehen Baindt herrscht reges Treiben. Die Schülerinnen und Schüler der Berufsschulstufen haben ihren Kiosk aufgebaut.
An dem selbst gebauten Verkaufsstand bedienen Lena und Maren die Kundschaft. An der Registrierkasse kassiert Emma. Verkauft werden Süßigkeiten, Getränke und Pausenbrot. Immer wieder werden auch Extras, wie das Glücksrad, angeboten. Darauf freuen sich die Mitschüler besonders. Aus allen Klassen kommen die Kunden.
Etwa hundert Schülerinnen und Schüler werden am SBBZ unterrichtet. Das Einzugsgebiet der Schule reicht vom Bodensee bis Ulm, von der Grenze zu Bayern bis fast zum Schwarzwald. Die Kleinsten besuchen den Schulkindergarten Pusteblume, dann folgen in der Abteilung für Geistige Entwicklung eine vierjährige Grundstufe und fünfjährige Hauptstufe, an welche sich dann die dreijährige Berufsschulstufe anschließt. An Außenstandorten in Baindt, Baienfurt und Biberach werden sehgeschädigte Grundschüler, Hauptschüler und Schüler des Förderschwerpunkts Lernen unterrichtet.
Gegründet wurde die Schule 1981 von den Franziskanerinnen aus Heiligenbronn. Dort betrieben die Schwestern in über hundertjähriger Tradition eine Schule für Blinde und Gehörlose. Neu an der Baindter Gründung war, dass sich die Schwestern hier vor allem um mehrfachbehinderte Kinder mit Sehschädigung kümmern wollten. Aus einem seit 1903 betriebenen Kinderheim ging 1981 die Schule für Blinde und Sehbehinderte hervor. 1991 übergaben die Franziskanerinnen ihr Vermögen und damit auch die Baindter Schule in eine Stiftung. Die Stiftung St. Franziskus ist seither Träger des SBBZ. 1998 wurden ein neues Internatsgebäude und ein Schulhaus gebaut.
Mit dem neuen Schulhaus entstanden verschiedene Fachräume: ein Sehförderraum, ein Schwingbodenraum, in welchem Musik fühlbar wird, ein Musiksaal, Schulküche, ein kleines Therapiebad, eine Sporthalle und Räume für Logopädie, Physiotherapie, Heilpädagogik und Ergotherapie, eine eigene Hauskapelle für kleine geistliche Feiern und Feste, um das Haus ein Sinnesgarten mit Rollstuhlschaukel und -trampolin sowie ein Fachraum für Orthoptik.
In der Abteilung für Geistige Entwicklung werden etwa 70 Schüler in 10 Klassen unterrichtet. Multiprofessionelle Teams arbeiten mit den Schülern. Fachlehrer, Sonderpädagogen, Erzieher, aber auch Therapeuten, die in den Klassenteams arbeiten. Unterstützt werden die Lehrerinnen und Lehrer von Freiwilligen im Sozialen Jahr. Einzelne Schüler werden von Schulbegleitern im Unterrichtsalltag unterstützt. Das kann dann der Fall sein, wenn das sozial-emotionale Verhalten oder ein extrem hoher Pflegeaufwand eine spezielle Begleitung notwendig machen.
Das SBBZ Sehen Baindt ist Marchtaler-Plan-Schule. Der Marchtaler Plan gibt dem Unterricht als Rahmenplan Struktur, inhaltlich gefüllt von den Bildungsplänen Geistige Entwicklung und Bildungsplan der Schule für Blinde und Sehbehinderte. Beginnend im Kindergarten ist der Unterricht geprägt von spezifischer Förderung bei Sinnesbehinderung. Den blinden, sehgeschädigten oder hör-sehbehinderten Kindern wird auf vielfältige Weise ermöglicht, ihre Umwelt und die Lerngegenstände zu erkunden und zu begreifen. Schon im Kindergarten kommt der Little Room zum Einsatz, um auch bei komplex beeinträchtigten Kindern das Explorationsverhalten zu fördern. Die Schulung der taktilen Wahrnehmung - als Vorübung für das Erlernen der Punktschrift und als Förderung des Explorationsverhaltens mit den Händen - beginnt ebenfalls schon in der Vorschulzeit. Die Förderung in Orientierung und Mobilität prägt die gesamte Schulzeit. Wer greifen kann, bekommt einen Langstock und erfährt diese "verlängerte Hand" als Freund und Helfer bei der Erkundung und der Orientierung in der nächsten Umgebung. Zwei Rehalehrer für O&M übernehmen das Training mit den Schülern. Begonnen wird in den Räumen, dann erweitert sich der Radius auf das Schulgelände, die Erkundung der Gemeinde und das Üben von Wegen am Heimatort schließen sich an.
Förderung des Sehens, eine kontrastreiche Umgebung, taktile Farben und die auditive Erschließung von Informationen spielen auch für komplex beeinträchtigte Schüler eine wichtige Rolle im schulischen Alltag. Die komplexen Beeinträchtigungen bedeuten, dass manche Schüler auf einen Rollstuhl angewiesen sind, sich kaum willkürlich bewegen können, also vollumfänglich auf Hilfe angewiesen sind. Manche werden über eine Sonde ernährt. Viele sind durch starke Epilepsien beeinträchtigt. Viele dieser Schüler können nicht konventionell über Sprache kommunizieren. Sie sind darauf angewiesen, dass sehr aufmerksam mit ihnen gearbeitet wird, eventuell können sie sich mithilfe unterstützter Kommunikation mitteilen.
In den einzelnen Klassen werden fünf bis acht Schüler unterrichtet. Der Unterricht findet stark differenziert statt - basale Angebote stehen neben dem Erwerb von Kulturtechniken. Im Mittelpunkt steht das Lernen am gemeinsamen Gegenstand im Vernetzten Unterricht. Lernen am Realgegenstand und Lerngänge spielen eine große Rolle. In der freien Stillarbeit üben die Schülerinnen und Schüler, sich für eine Aufgabe zu entscheiden, sich Zeit einzuteilen oder Zeit gemeinsam mit Mitschülern zu gestalten. Diese Übungen sind wichtig - Freizeit ist für unsere Schülerinnen und Schüler eine anspruchsvolle Zeit für sie und ihre Eltern. Diese Zeit zwischen den Polen Bespaßung und Langeweile selbst gestalten und bestimmen zu können, ist eine wertvolle Kompetenz. Dabei spielt der Gebrauch von Hilfsmitteln eine wichtige Rolle. Vergrößernde Sehhilfen, die beim Spiel gewinnbringend eingesetzt werden können, erfahren eine bessere Akzeptanz. Hilfsmittel der Unterstützten Kommunikation bieten allen Schülern die Möglichkeit, sich als selbstwirksam und teilhabend zu erleben. Mit sensiblen Schaltern kann mit minimaler Bewegung ein Schalter ausgelöst und damit ein Gerät an- oder ausgeschaltet, ein Spiel auf dem Tablet bedient oder eine hörbare Aussage gemacht werden.
Die Verwendung dieser Hilfsmittel ist selbstverständlicher Teil des Unterrichts, wie auch kreative und musikalische Angebote den Unterricht prägen.
In der Grund- und Hauptstufe werden Schullandheimaufenthalte für die Klassen angeboten. Teilnehmen können alle Schüler. In der Vergangenheit wurden klassenübergreifend Skifreizeiten und Segelfreizeiten durchgeführt.
Regelmäßig werden die Schüler von unserer Orthoptistin untersucht. Durch sie haben wir auch bei schwer zu untersuchenden Kindern eine gute Verlaufskontrolle des Sehens und bekommen wertvolle Hinweise für die Gestaltung des Unterrichts.
Im Internat des SBBZ stehen 22 Wohnplätze in zwei Wohngruppen zur Verfügung. Die externen Schüler verbringen ihre Mittagspause auf Tagesgruppen. Für sie werden in drei Ferien pro Schuljahr Ferienfreizeiten im Rahmen einer Kurzzeitunterbringung angeboten.
Eine neue Herausforderung für das Kollegium ergab sich im Herbst 2022. Im angrenzenden Bodenseekreis war ein im ukrainischen Kriegsgebiet evakuiertes Waisenheim untergekommen. Offensichtlich waren unter den komplex behinderten Kindern viele, die eine Sehschädigung aufwiesen oder blind waren. Seither unterrichten Lehrerinnen und Lehrer des SBBZ die Kinder in ihrer Unterkunft.
Die Arbeit erwies sich als Pioniertätigkeit, weil weder die Kinder noch die ukrainischen Mitarbeiter Erfahrung mit Schule für komplex beeinträchtigte Kinder hatten. Diagnostik und Ausstattung mit nötigen Hilfsmitteln nahmen die erste Zeit in Anspruch. Mittlerweile hat sich eine gute Zusammenarbeit mit den ukrainischen Mitarbeitern, den Therapeuten, die die Kinder logopädisch und physiotherapeutisch behandeln, und den Kollegen des SBBZ ergeben. Der größte Erfolg ist allerdings, dass die Kinder offensichtlich von den Angeboten profitieren.
Anspruchsvoll für das Kollegium ist eine sich verändernde Schülerschaft. Hoher Pflegeaufwand und herausforderndes Verhalten stehen immer mehr im Vordergrund. Wir begegnen dem mit gezielten Schulungen des Kollegiums. Daneben scheinen viele Kinder mit Sehschädigung den Weg in ein SBBZ mit Förderschwerpunkt Sehen nicht zu finden - in der Eingangsdiagnostik fällt das Sehen oder Hören vor allem bei komplex beeinträchtigten Kindern gegenüber anderen Förderbedarfen eventuell weniger ins Gewicht. Einige unserer Schüler haben neben der Sehbehinderung oder Blindheit eine Beeinträchtigung des Hörens. Oftmals wird die Hörbehinderung spät erkannt - für komplex beeinträchtigte Kinder kommen reguläre Hörtests häufig nicht infrage, oder eine Hörbehinderung wird gar nicht in Betracht gezogen. Auf eine Hör-Sehbehinderung reagieren wir mit pädagogischen Konzepten, die berücksichtigen, dass beide Fernsinne beeinträchtigt sind, also eine Sehschädigung nicht durch auditive Informationen ausgeglichen werden kann. Neben körpernahen Gebärden und Gesten werden unter Umständen auch individuelle Kommunikationsformen entwickelt. Unterstützt werden die Kollegen bei allen Fragen zum Thema Hörsehbehinderung und Taubblindheit vom hausinternen Fachdienst und der Audiologie am Hauptstandort Heiligenbronn.
Wie wichtig die spezifische Förderung bei Sinnesbeeinträchtigung ist, zeigt sich deutlich wieder am Ende der Schulzeit. Für die meisten Schülerinnen und Schüler der Abteilung für Geistige Entwicklung ist das Ziel, nach der Schulzeit einen Platz in einer Werkstätte für Menschen mit Behinderung oder einen Platz in einem Förder- und Betreuungsbereich zu bekommen. Einrichtungen, die auf sinnesbehinderte Menschen spezialisiert sind, sind selten und oft nicht wohnortnah zu erreichen. Häufig müssen bei Praktika zunächst Vorbehalte gegenüber den Fähigkeiten von blinden und sehbehinderten Schülern ausgeräumt werden und die Schülerinnen und Schüler ihre in der Schulzeit erworbenen Kompetenzen einsetzen. Das SBBZ Sehen Baindt kooperiert mit einzelnen Werkstätten für behinderte Menschen. Dort können unsere Schüler zu Beginn der Berufsschulstufenzeit ein von der Schule eng begleitetes mehrwöchiges Praktikum in der Werkstatt machen, um einen Eindruck vom Arbeitsleben zu bekommen. Im Unterricht der Berufsschulstufe wird in einem Kurssystem Flexibilität gefördert und werkstattnahe Arbeiten (z.B. Serienarbeiten) bereiten auf das Berufsleben vor.
Im zweiten und dritten Berufsschulstufenjahr schließen sich Praktika an, die sich an Wohnort, Interesse und persönlicher Situation des einzelnen Schülers orientieren. Wer gleichzeitig zum Arbeitsplatz einen Wohnplatz in einer Einrichtung benötigt, macht eventuell Wohnpraktika und ist dabei leider durch das im Moment stark begrenzte Angebot an Wohnplätzen in seiner Auswahl eingeschränkt. Auf das Angebot eines Wohnplatzes muss häufig sehr flexibel und schnell reagiert werden, so dass Schüler der Berufsschulstufe ihr letztes Schuljahr manchmal schon vor dem offiziellen Ende im Sommer beenden müssen, um das Wohnangebot annehmen zu können.
Zurück in der Aula: Der Kioskverkauf ist beendet - Emma, Maren, Lena und ihre Mitschüler räumen auf, machen die Kassenabrechnung und kontrollieren, was für den nächsten Verkauf wiederbeschafft werden muss. Sie üben dabei Kompetenzen, die sie für ihren weiteren Lebens- und Berufsweg brauchen. Der Kioskverkauf wirft aber auch ganz realen Gewinn ab - damit möchten sie sich und ihren Mitschülern der Berufsschulstufen während der Freizeitwoche im Sommer einen Ausflug finanzieren.
Zur Autorin
Fachschulrätin Elke Waßner hat nach ihrem Abitur und einem Freiwilligen Sozialen Jahr Sonderpädagogik mit den Fachrichtungen Geistige Behinderung und Blindheit und Sehbehinderung in Weingarten und Heidelberg studiert. Es folgte der Vorbereitungsdienst in Freiburg. Seit 2005 arbeitet sie als Sonderschullehrerin im oberschwäbischen Baindt und leitet dort seit 2011 die Abteilung Geistige Entwicklung.