Ich unterrichte eine 44-jährige Klientin in Brailleschrift. Sie ist schwer krank. Zusätzlich zur Blindheit lebt die Klientin mit schwerem Rheuma, das dazu führt, dass sie häufig starke Schmerzen hat, auf den Rollstuhl angewiesen ist und ihre Hände kaum nutzen kann, und mit Schizophrenie, die ihre Konzentration erheblich beeinträchtigt und in ihr Angst und Trauer auslöst, weil die Stimmen in ihrem Kopf sie beschimpfen oder ihr Dinge erzählen, die sie zutiefst erschüttern.
Die Klientin lebt in einer Einrichtung. Trotz der vielen Einschränkungen ist sie kontaktfreudig, höflich und freundlich. Sie ist in der Einrichtung, in der sie lebt, nicht glücklich, weil sie unter der Einsamkeit und Langeweile leidet. Das Zimmer ist winzig. Daher kann die Klientin im Zimmer nicht allein umherfahren. Der Rollstuhl ist zu groß und zu schwer. Da im Zimmer so wenig Platz ist, stapeln sich ihre Besitztümer in einem Durcheinander, das es ihr unmöglich macht, etwas eigenständig zu finden. Auch kann die Klientin sich oftmals das Gewünschte nicht selbst nehmen, weil sie vieles von ihrem Rollstuhl aus nicht erreichen kann. Wenn sie also einen Kaffee oder Tee trinken möchte, Lust auf ein Stück Schokolade hat oder im Raum einen Duft versprühen möchte - Düfte sind nämlich ihre Leidenschaft - , muss sie um Hilfe bitten. Auch bei allen alltäglichen Verrichtungen wie waschen, anziehen, auf die Toilette gehen ... ist die Klientin auf Unterstützung angewiesen. Das Fenster auf den Balkon lässt sich nicht öffnen, nur kippen, weil alles so zugestellt ist. Dabei ist der Klientin frische Luft sehr wichtig. Am allermeisten leidet sie jedoch daran, dass sie ihr Zimmer nicht allein verlassen kann. Sie ist trotz Rollstuhl vollkommen immobil. Sie kann nicht in den Gemeinschaftsraum, nicht in den Garten, sitzt nur da, auf einer Stelle, und wartet, dass irgendetwas passiert. Aber es passiert sehr wenig.
Als ich den Brailleschriftunterricht aus organisatorischen Gründen auf einen anderen Tag verschieben musste, erfuhr ich, dass die Klientin keine weiteren Termine in der Woche hat. Die Punktschriftschulung ist eigentlich eine Beschäftigungstherapie, denn die Klientin kann die Punkte nicht mehr fühlen, daher stecke ich ihr Wörter und Sätze. Manchmal steckt sie auch selbst etwas und ich überlege mir Wortspiele, um sie geistig zu fördern. Die Klientin weiß, dass die Punktschriftschulung ihr nicht viel bringt, aber sie freut sich trotzdem, wenn ich und meine Arbeitsassistentin kommen. Sie behandelt uns wie ihre Gäste und ist dankbar, dass sie sich mit uns unterhalten kann und von mir Aufgaben bekommt, die sie lösen kann. Denn die übrige Zeit sitzt sie, wie sie selbst berichtet, nur da, von morgens bis abends, die Hände im Schoß, ihren Schmerzen und den verstörenden Stimmen ausgeliefert. Aus Verzweiflung ruft sie ständig nach den Pfleger*innen und Krankenschwestern. Die sind natürlich genervt und sicherlich auch frustriert, denn sie haben keine Zeit, sich mit meiner Klientin zu beschäftigen.
Während die Klientin zu mir und meiner Arbeitsplatzassistenz stets freundlich ist, ist das Verhältnis zwischen ihr und dem Pflegepersonal manchmal recht angespannt. Einmal wollte sie nicht aus dem Bett, als wir kamen, und beschimpfte die Pflegerin, dass sie gemein sei. Die Pflegerin wiederum drohte ihr, dass sie eine Woche keinen Kaffee bekommen würde, wenn sie sich weiter wehren würde, aus dem Bett gehoben zu werden. Ich konnte beide verstehen. Die Klientin wollte sich ihre Autonomie bewahren, die Krankenschwester hatte die Order, sie aus dem Bett zu heben, und keine Zeit, mit ihr zu diskutieren, da sie bestimmt noch viele Aufgaben zu erledigen hatte. Ich habe es häufig erlebt, dass es der Klientin vor dem Unterricht mental oder physisch schlecht ging und dass sie am Ende der Stunde wesentlich besser gelaunt war. Sie weiß selbst, dass ihr Gesellschaft guttut, und wünscht sich sehnlichst eine Alltagsassistenz, die sie regelmäßig besucht und mit ihr etwas unternimmt, mit ihr adaptierte Gesellschaftsspiele spielt, sie spazieren fährt, mit ihr kocht, in ein Café oder in die Kirche geht, denn die Klientin ist sehr gläubig. Aber eine solche Assistenz bekommt sie nicht, obwohl eine Alltagsbegleitung ihre Lebensqualität erheblich verbessern würde. Die Klientin möchte ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft sein, eine Lebensaufgabe haben, arbeiten. Ich weiß nicht, ob sie mit Unterstützung Psychologie studieren oder sich in der Telefonseelsorge engagieren könnte. Das ist ihr Traum. Aber die Klientin wäre schon zufrieden, in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen einer Arbeit nachgehen zu können. Welche Tätigkeit ihr trotz des Rheumas in den Händen möglich wäre, weiß ich nicht, aber eine kirchliche Tagesförderstätte, in der sie sich mit anderen Menschen über religiöse Themen austauschen könnte und in der man ihr vielfältige Beschäftigungsmöglichkeiten anbieten könnte, wäre ideal. Ein rollstuhlgerechtes Zimmer, in dem sie sich frei bewegen und alle Gegenstände eigenständig erreichen könnte, würde ihre Situation auch schon deutlich verbessern. Und ein leichterer und wendigerer Rollstuhl, kein starres Sitzmöbel, sondern ein fahrbarer Untersatz, vielleicht ein Elektrorollstuhl, mit dem sie fahren könnte, wohin sie möchte, würde ihre Mobilität erhöhen. Allerdings habe ich gehört, dass blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen aus Sicherheitsgründen keine Elektrorollstühle fahren dürfen, und da ich selbst noch nie in einem Elektrorollstuhl gesessen und ein solches Gefährt nicht gelenkt habe, kann ich nicht beurteilen, ob es überhaupt möglich ist, trotz Blindheit mit einem Elektrorollstuhl unterwegs zu sein.
Ich habe mich an die gesetzliche Betreuung der Klientin gewandt und ihr die traurige Situation der Klientin und ihren Wunsch nach Assistenz, nach Gesellschaft und Beschäftigung geschildert. Die Betreuerin kennt die deprimierende Situation, aber es geht nicht so einfach, diese zu verändern.