Eigene Erfahrungen reflektieren und kritisch hinterfragen, diese Aufgabe hat sich die Gesprächsreihe "Blinde Wahrnehmung - Wahrnehmung der Blindheit" gestellt. Von Fabian Korner, Mitglied der FG StAu, initiiert, fanden 2023 vier Online-Veranstaltungen mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus dem Umfeld der sozialwissenschaftlich orientierten Disability Studies statt.
Zum Auftakt diskutierte der Soziologe Miklas Schulz (Universität Hannover) mit den Teilnehmer*innen über die Aussage, Blindheit oder Sehbehinderung seien nicht zwangsläufig ein Defizit. Behinderung, so der Soziologe, solle nicht nur als eine fremdbestimmte medizinische Diagnose interpretiert werden. Vielmehr werden wir direkt durch fehlende Barrierefreiheit und durch unsere Umwelt beeinträchtigt. Die Teilnehmer*innen berichteten über Barrieren im Alltag und über biographische Ereignisse, in denen die Blindheit oder Sehschwäche zu Rechtfertigungen des eigenen Handelns zwang. Dass die eigene Unfähigkeit kein individuelles Versagen darstellt, sondern vielfach auf Umgebungsfaktoren beruht, war ein wesentliches Resultat des spannenden Diskurses.
Die Überlegungen wurden in der zweiten Veranstaltung mit der Siegener Soziologin Natalie Geese vertieft. Sie hat sich in ihrer Promotion mit den Voraussetzungen der Mobilität blinder und seheingeschränkter Verkehrsteilnehmer*innen auseinandergesetzt. In der Diskussion hierüber berichteten viele von Diskriminierungen, die sie im öffentlichen Raum beim Unterwegssein mit Langstock oder Führhund erleben. Insbesondere Frauen erzählten von unangenehmen Erfahrungen, etwa wenn sie von vermeintlich hilfsbereiten Menschen über eine Straße gezogen oder direkt berührt werden, ohne dass sie dies wünschen. Die Teilnehmer*innen setzten sich mit der Frage auseinander, ob und in welchem Maß eine Pflicht besteht, die eigene Wahrnehmungswelt Sehenden zu erläutern, und ob diese überhaupt am Orientierungs- und Mobilitätstraining beteiligt werden sollten.
In der blinden Wahrnehmung steckt viel positives Potenzial, das zeigte Sigfried Saerberg im dritten Vortrag unter dem Titel "(B)Low Vision". Der langjährige Aktivist und Professor für Disability Studies ließ zu Beginn einen Luftballon, auf dem ein Auge gezeichnet war, laut zerplatzen. Dass dieses "Zerplatzen" visueller Kultur notwendig ist, illustrierte er danach anhand mehrerer Romane, in denen Blindheit als Unwissenheit, Verblendetsein, Naivität oder als Hilflosigkeit dargestellt wird. Er hielt dem das positive Gegenbild eines blinden Wahrnehmungsstils entgegen. Dieser könne und solle sich, inspiriert vom Disability Art Movement, in eigenen Kulturschöpfungen, z. B. in Literatur, Musik oder anderen künstlerischen Aktivitäten, äußern. Die Teilnehmer*innen schlossen sich dieser Auffassung weitgehend an und forderten u. a., dass museale Kunst nicht bloße Beschreibungen, also Wahrnehmung aus zweiter Hand, bieten dürfe. Blinde Wahrnehmung müsse eine gleichberechtigte Teilhabe und Erfahrung an und mit Kunst ermöglichen. Es geht nicht darum, Blinde als Menschen mit besonderen Fähigkeiten oder als besonders hilflos zu beschreiben, auch wenn sich ein realistisches Alltagsbild nicht immer mit den Vorstellungen sehender Leser*innen deckt.
Die vierte Veranstaltung war als offene Werkstatt konzipiert. Zu ihrem Ergebnis gehört der Wunsch, dass die Reihe fortgeführt wird. Denn die Disability Studies tragen dazu bei, Behinderung, und exemplarisch Blindheit und Sehbeeinträchtigung, besser zu verstehen. Zu Beginn der Gesprächsreihe hatte Fabian Korner noch beklagt, der Beitrag der Disability Studies sei bisher nicht in der Selbsthilfe angekommen. Doch durch die hohe Teilnehmerzahl - meist waren es 50 pro Termin - wurde deutlich, dass Interesse am Thema durchaus vorhanden ist, vor allem bei Mitgliedern der DVBS-Fachgruppe StAu. Die Disability Studies sind ein relativ junger Forschungsbereich, aus dem insbesondere jüngere Menschen mit Behinderung viel Selbstbewusstsein gewinnen können.
Wer sich für das Thema interessiert, kann sich über die DVBS-Geschäftsstelle in die Mailingliste "Blindness-Studies" eintragen lassen.
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