Von Vivian Aldridge
PDF-Dateien sind allgegenwärtig. Allgemeine Geschäftsbedingungen, Rechnungen eines Online-Anbieters und Kontoauszüge kommen selbstverständlich als PDF-Dateien daher. Weniger selbstverständlich – und weniger zugänglich – sind Formulare von Behörden und anderen. Und dann gibt es die vielen Bücher, insbesondere Lehrmittel.
Wo gibt es Hindernisse?
Bekanntlich gibt es lesbare und nicht-lesbare PDF-Dateien. Gemeint ist natürlich das Lesen mit einem Screenreader oder anderer assistiver Technologie. Besteht die PDF-Datei nur aus einem Bild des Dokuments, steht der Text einem Screenreader nicht zur Verfügung – außer er wird dafür von einer Texterkennungssoftware entziffert. Das ist ein Extrem-, aber nicht seltenes Beispiel von Nichtlesbarkeit.
Am anderen Ende des Lesbarkeitsspektrums haben wir barrierefreie PDF-Dateien, die alle Bedingungen eines Standards des universellen Zugangs (PDF/UA-Standard) erfüllen. Oberstes Gebot der Barrierefreiheit – außer der Voraussetzung, dass der Text wirklich als Text vorhanden ist und nicht nur als Bild – ist die Verwendung von Tags. Auf Englisch ist ein Tag so etwas wie ein Etikett, das an etwas angehängt wird. Die PDF-Tags geben an, welche Rolle im Dokument jedes Textelement spielt: Handelt es sich um normalen Text, eine Überschrift einer bestimmten Ebene oder eine Tabellenzelle, vielleicht sogar mit Spaltenüberschriftfunktion? Es mag überraschen, dass sie auch die Reihenfolge der Elemente angeben, da der Text in PDF-Dateien bei Screenreadern schön durcheinander daherkommen kann. Zudem muss es für Bilder und Grafiken Alternativtexte geben, die einem Screenreader an deren Stelle zur Verfügung stehen.
Zwischen diesen Extremen gibt es allerlei Schattierungen: Texte mit Grafiken ohne Alternativtext, Texte mit Bildern von Tabellen, ungetaggte Texte in chaotischer Reihenfolge und vieles mehr. Eine besondere Erwähnung gebührt den sogenannten "durchsuchbaren" PDF-Dateien. Bei ihnen sind die Dokumentseiten als eingescannte Bilder visuell zu lesen, für einen Screenreader ist jedoch der Text zusätzlich digital vorhanden. Die abgebildeten Textelemente wurden von einer Texterkennungssoftware entziffert und als unsichtbarer digitaler Text sozusagen hinter die einzelnen Elemente "geklebt".
Ist das Lesen in einer barrierefreien PDF-Datei denn kein Spaziergang?
Aber zurück zu den barrierefreien Dateien. Hier erkennt ein Screenreader die Textreihenfolge, weiß, was Überschriften sind, und kann diese sogar auflisten. In Tabellen ist die Bewegung von Zelle zu Zelle in jede Richtung möglich und – noch eindrucksvoller – es wird automatisch nicht nur der Zelleninhalt, sondern auch die Spalten- bzw. Reihenüberschrift vorgelesen, damit man weiß, worum es in der Zelle geht.
Wenn sie aber extra für Screenreader aufbereitet sind, warum sollte deren Handhabung schwierig sein?
Es gibt verschiedene Gründe. Nehmen wir als Beispiel eine komplexe Abbildung, sagen wir ein Organigramm. Einfach den Text lesbar zu machen, wäre sinnlos. Wichtig ist der Bezug der einzelnen Textelemente untereinander. Daher wird das Ganze als Grafik dargestellt und ein aussagekräftiger Alternativtext dazu erstellt. Dieser wird vom Screenreader vorgelesen, sobald er auf die Grafik stößt. Nur: gerade bei so etwas Kompliziertem will man die Beschreibung Stück für Stück verdauen und nicht von einem einzigen Wortschwall überwältigt werden.
Dann gibt es die Sache mit dem Suchen, etwa im Adobe Reader. Dieser hat eine Suchfunktion, nur führt sie assistive Technologien wie JAWS nicht zur genauen Fundstelle. Daher hat JAWS eine eigene Suche. Bei langen Dokumenten stößt sie jedoch an Grenzen, und zwar an die Seitengrenzen. Der Grund liegt in der Aufbereitung des Dokuments für die assistive Technologie. Ab einer gewissen (einstellbaren) Anzahl Seiten wird nicht das ganze Dokument aufbereitet, sondern nur die momentan sichtbaren Seiten. Das ist durchaus sinnvoll, da die Aufbereitung Zeit in Anspruch nimmt. Angenommen, sie benötigt für ein 300-seitiges Dokument eine Sekunde pro Seite, kommt JAWS erst nach fünf Minuten zu allen relevanten Informationen – und ebenso lange lässt eine Reaktion des Systems auf sich warten.
Wenn man nicht warten will, muss man also damit leben, dass JAWS nur Informationen über die aktuelle Seite zur Verfügung stehen: Die Überschriftenliste fällt entsprechend mager aus und die JAWS-Suchfunktion findet nur Stellen auf der aktuellen Seite.
Der Sprung auf eine andere Seite, die sofort automatisch aufbereitet wird, ist dagegen kein Problem. Deswegen ist die Suche über einen Umweg dennoch möglich, wenn auch länger und umständlicher: Zuerst wird mit der Suchfunktion von Adobe Reader gesucht, die zumindest die richtige Seite aufschlägt; mit der JAWS-Suche wird dann die genaue Fundstelle lokalisiert.
Die Einzelseitenaufbereitung für assistive Technologien hat auch Vorteile. Es ist erstaunlich schwierig, die erste oder die letzte Zeile einer Seite anzuspringen – außer nur diese Seite ist aufbereitet.
Digitales Turnen für die PDF-Ertüchtigung
Die Schweizerische Fachstelle für Sehbehinderte im beruflichen Umfeld in Basel und Lausanne (Erlenhof | SIBU) unterstützt Personen mit Sehbeeinträchtigungen in der ganzen Schweiz am Arbeits-, Studien- oder Ausbildungsplatz administrativ, organisatorisch, mit Lehrmittelanpassungen sowie mit EDV-Ausrüstungen und Einführungen.
Sie bietet auch stationäre Vorbereitungen auf Berufsausbildung, Studium und Arbeit. Viel Zeit wird der Computerbedienung gewidmet. Dabei ist natürlich auch der Umgang mit PDF-Dateien, im Allgemeinen mit Fusion (einer Zusammenschweißung von JAWS und ZoomText) oder ZoomText. Die Klientinnen und Klienten müssen nicht nur lernen, Dateien zu lesen. Sie müssen schnell Kapitel, nummerierte Seiten, Tabellen und vieles mehr anspringen können.
Aber zunächst müssen sie die Dateien einschätzen können – auch ohne sie mit der Vorlage vergleichen zu können. Ist der Text lesbar und in der richtigen Reihenfolge? Lässt man sie besser durch eine Texterkennung laufen? Sind alle Informationen vorhanden? Welche Texterkennungsfehler haben sich eingeschlichen?
Ein Spaziergang ist das alles keineswegs.
Gibt es nicht flachere Routen?
Die eingesetzten Techniken erfordern fundierte Computerkompetenzen, ein hohes Maß an Abstraktionsvermögen und nicht zuletzt den Aufbau eines Erfahrungsschatzes. Entsprechend aufwändig ist die Vermittlung. Zudem erwies sich ZoomText mit Adobe Reader als äußerst instabil: Einige Geräte stürzten so oft ab, dass keine Arbeit möglich war. Da liegt der Verdacht nahe, dass man auf dem Holzweg ist.
Daher wurde in einem internen Projekt unter Beteiligung aller Abteilungen und Standorte nach einfacheren Möglichkeiten des PDF-Zugangs gesucht. Nach Tests mit verschiedenen PDF-Anzeigeanwendungen und assistiven Technologien kehrte bald die Ernüchterung ein.
Manche Anwendungen berücksichtigten von vornherein nur barrierefreie Dokumente oder erlaubten den Zugriff auf Strukturinformationen – etwa Seiten und Überschriften – nicht. Einige boten nur rudimentäres oder gar unberechenbar steuerbares Vorlesen. Bei den Meisten waren fremd- oder gemischtsprachige Texte äußerst mühsam, wenn überhaupt handhabbar.
Tests mit Formularfeldern fielen noch vernichtender aus. Sogar bei der eindeutigen Siegerkombination von Adobe Reader und JAWS bzw. Fusion bleiben sie eine digital-athletische Höchstleistungsdisziplin.
Es bleibt beim Fitnessprogramm!
Auf den mühsamen Erwerb von PDF-Kompetenzen können wir also nicht verzichten, den Weg höchstens optimieren. Nicht zuletzt wegen der Instabilität mit Adobe Reader haben wir ZoomText weitgehend durch Fusion ersetzt. Andere Zugänge sehen wir nur in spezifischen Kontexten vor.
PDF-Dateien in aller Vielfalt haben zurzeit einen hohen Stellenwert in der digitalen Welt. Ignorieren können wir sie nicht. Daher müssen wir Zeit investieren, um mit ihnen umgehen zu können.
Zum Autor
Vivian Aldridge ist Ausbildner für kompensatorische Arbeitstechniken und Informatik bei der Schweizerischen Fachstelle für Sehbehinderte im beruflichen Umfeld (Erlenhof | SIBU) in Basel. Nach seinem Physikstudium in Großbritannien wurde er Lehrer und absolvierte ein Nachdiplomstudium in Sehgeschädigtenpädagogik. Schon im Jugendalter interessierte er sich für die Brailleschrift. Heute engagiert er sich ehrenamtlich als Vertreter des Verbandes für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik e. V. im Brailleschriftkomitee der deutschsprachigen Länder (BSKDL).
Bild: Vivian Aldridge blickt von einer Brailleschrift-Lektüre auf. Er hat dunkle Augen, dunkles hohes Haar und einen kurzen melierten Kinnbart. Er trägt eine schmale Brille und ein hellrosa kariertes Kurzarmhemd. Foto: privat