Von Uwe Boysen
Schon seit langem beschäftigt sich der DVBS mit Fragen barrierefreier Informationstechnik. Sehr früh war nämlich klar, dass die damit angestoßenen Entwicklungen für blinde und sehbehinderte Menschen sehr viele Vorteile haben können, aber auch erhebliche Exklusionsrisiken bergen.
Mit verschiedenen wesentlich vom DVBS initiierten Projekten konnten wir in den letzten 15 Jahren zeigen, dass Barrierefreiheit in Verwaltung und Wirtschaft machbar ist, sofern
- die Leitungsebene, aber auch alle Beteiligten, für das Thema sensibilisiert sind,
- von Anfang an (d. h. bei jedem neuen Projekt) auf digitale Barrierefreiheit geachtet wird und
- dazu durchaus vorhandene und allgemein anerkannte Standards eingehalten werden.
Es ist hier nicht der Ort, die verschiedenen von uns in den letzten fünf Jahren zum Thema geführten Kämpfe im gesetzgeberischen Bereich näher darzustellen.[1] Einzelne Beispiele sollen jedoch zeigen, welche Folgen es haben würde (und zum Teil leider auch hat), wenn Barrierefreiheit für sehbeeinträchtigte Menschen in der Arbeitswelt wie im Verhältnis Bürger - Verwaltung oder im Privatleben vernachlässigt wird.
- Ein blinder Rechtsanwalt möchte in einem Verwaltungsverfahren ein elektronisches Dokument einreichen. Da der von der Verwaltung bisher eröffnete Zugang über das Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) nicht barrierefrei ist, ist dies für ihn nicht möglich. Außerdem kann er das elektronische Dokument nicht mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen, weil das hierfür erforderliche Verfahren ebenfalls nicht barrierefrei ist.
- Ein hochgradig sehbehinderter Journalist möchte in Verwaltungsverfahren zukünftig nur noch elektronisch mit der Behörde kommunizieren. Da der von der Verwaltung hierfür eröffnete elektronische Zugang über eine De-Mail-Adresse nicht barrierefrei ist, bleibt ihm der elektronische Zugang verwehrt.
- Eine blinde Lehrerin möchte ihre Verwaltungsangelegenheiten von zu Hause aus ohne Assistenz erledigen. Immer wieder erhält sie jedoch von verschiedenen Behörden elektronische Dokumente, die nicht barrierefrei sind. Auf ihr Verlangen werden ihr die elektronischen Dokumente zwar regelmäßig ein paar Tage später zusätzlich in einer für sie wahrnehmbaren Form zugesandt. Der Lauf von Fristen und die Wirksamkeit von Zustellungen bleiben hiervon jedoch unberührt. Außerdem kann sie ihre Angelegenheiten nie in einem Stück erledigen.
- Ein blinder Verwaltungsbeamter möchte die an seinem Arbeitsplatz bei der Behörde in elektronischer Form eingegangen Anträge und Anfragen bearbeiten. Da das Aktenverwaltungsprogramm und die elektronischen Dokumente nicht barrierefrei sind, kann er deren Inhalt weder über eine Braillezeile noch über eine Sprachausgabe wiedergeben. Weil Papierdokumente beim Einscannen nur als Bild erfasst wurden, ist deren Inhalt für ihn ebenfalls nicht zugänglich. Ohne Texterkennung (OCR) sind auch Suchfunktionen in den elektronischen Dokumenten nicht möglich.
- Eine blinde Rechtsanwältin möchte nach Einführung der elektronischen Akte in einem Verwaltungsverfahren Akteneinsicht nehmen. Weil das Aktenverwaltungsprogramm und die elektronischen Dokumente nicht barrierefrei sind, ist ihr eine Einsichtnahme in die Akten unmöglich. Auch die bei einer anderen Behörde angeforderten elektronischen Nachweise sind darin nicht barrierefrei zugänglich.
- Ein blinder Bibliothekar möchte die von einer Behörde auf deren Internetseite zur Verfügung gestellten elektronischen Formulare am eigenen PC ausfüllen. Da der hierfür erforderliche elektronische Identitätsnachweis nach § 18 des Personalausweisgesetzes nicht barrierefrei ist, bleibt ihm eine elektronische Erledigung seiner Angelegenheit versagt. Sein hochgradig sehbehinderter Nachbar möchte der Krankenkasse ein elektronisches Formular übermitteln. Da die elektronische Gesundheitskarte (vgl. § 36a Abs. 2 Satz 6 SGB I) ebenfalls nicht barrierefrei ist, kann er auch mit seiner Krankenkasse nicht elektronisch kommunizieren.
- Ein hochgradig sehbehinderter Logopäde möchte die in einem elektronischen Verwaltungsverfahren anfallenden Gebühren elektronisch begleichen. Das von der Behörde hierfür verwendete und im Geschäftsverkehr übliche elektronische Zahlungsverfahren ist bisher nicht barrierefrei. Damit bleibt ihm die elektronische Abwicklung seiner Angelegenheiten verwehrt.
- Eine blinde Hochschulabsolventin möchte sich mittels der neu eingerichteten Verwaltungs-App über die Aufgaben und die Erreichbarkeit verschiedener Behörden informieren. Mangels Barrierefreiheit der App ist ihr der Zugang nicht möglich.
- Ein hochgradig sehbehinderter Privatmann möchte den über das Internet getätigten Kauf einer Waschmaschine widerrufen. Das Widerrufsformular ist jedoch nicht barrierefrei, so dass er auf sehende Hilfe angewiesen bleibt.
- Die blinde Mitarbeiterin eines größeren Betriebes kann die dort eingeführte elektronische Zeiterfassung mangels Barrierefreiheit nicht bedienen. Sie bleibt insoweit auf sehende Hilfe angewiesen - ein Zustand, der grundsätzlich mit der UN-Behindertenrechtskonvention unvereinbar ist.
In verschiedenen gesetzlichen Vorschriften wird in einer Reihe dieser Beispiele zwar inzwischen auch digitale Barrierefreiheit verlangt. Doch hinkt die tatsächliche Entwicklung den gesetzlichen Anordnungen noch vielfach deutlich hinterher. Ohne intensiven Einsatz der Selbsthilfe wird sich das auch zukünftig nur zu langsam ändern. Gerade deshalb ist und bleibt es wichtig, die rasante Technikentwicklung ständig aufmerksam zu verfolgen und die gesamte Thematik auf politischer, juristischer und technischer Ebene weiter zu bearbeiten. Nach dem Selbstverständnis des DVBS gehört diese Thema deshalb auf lange Sicht zu seinen Kernanliegen. Um hier auf Dauer erfolgreich zu sein, ist die Selbsthilfe allerdings auch dringend auf die Förderung durch staatliche Stellen wie durch die Zivilgesellschaft angewiesen.
Zum Autor:
Uwe Boysen war Vorsitzender Richter am Hanseatischen Oberlandesgericht Bremen und Erster Vorsitzender des DVBS. Als 2011 die Gesetzentwürfe zur Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs in der Justiz (E-Justice) und zur Forcierung der elektronischen Verwaltung (E-Government) zur Diskussion standen, setzte er sich mit anderen Mistreitern vehement dafür ein, dass das Thema Barrierefreiheit berücksichtigt wird.
[1] Siehe zum E-Justice- und E-Government-Gesetz des Bundes Boysen, Uwe: "Von der Mühsal, einen Gesetzentwurf zu ändern". In: Marburger Schriftenreihe zur Rehabilitation Blinder und Sehbehinderter, Bd. 18 (Blinde und Sehbehinderten in juristischen Berufen IV), Marburg, 2013, S. 116 - 134.