Von Michael Große-Drenkpohl
Die Digitalisierung der Arbeitswelt bietet für alle Menschen Chancen und Risiken - damit für Menschen mit Behinderungen nicht nur Risiken bestehen, sind bestimmte Voraussetzungen zu schaffen. Beim Einsatz von Informations- und Kommunikationstechniken (IKT) sind Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf bei der Informationsaufnahme (Menschen mit Sehbehinderungen) und Kommunikation (Menschen mit Hörbehinderung) besonders betroffen. Die Auswirkungen von Barrieren hängen von der Stärke der individuellen Einschränkung, der Kompetenz im Umgang mit assistiver Technik und der Implementierung im gesamten Arbeitsprozess ab.
Arbeitsmarktchancen von Menschen mit Sinnesbehinderungen
Aus fachdienstlicher Sicht verbessern sich die Arbeitsmarktchancen für Menschen mit Sehbehinderung durch die Digitalisierung nicht - Fachanwendungen sind nicht barrierefrei nutzbar. Wie geht es dann weiter? Assistive Technologien wie z.B. Bildschirmleseprogramme (Screenreader) werden so umprogrammiert, dass betroffene Menschen über Umwege die erforderlichen Informationen bekommen. Dieses Verfahren ist aus der Not geboren, teuer, nicht nachhaltig und stellt häufig nur den Zugang für bestimmte Arbeitsabläufe sicher. Jedes Update, jede Änderung im Ablauf und jede neu hinzugekommene Maske erfordert das Nachentwickeln der Anpassung mit allen verbundenen Kosten und Ausfallzeiten. Die technischen Zusammenhänge sind komplex und nicht leicht zu vermitteln. So kann z.B. eine Software selber zugänglich sein, die technische Implementierung aber den Zugang für assistive Technologien verbauen (Anwendungs- und Terminalserver etc.).
Entscheidend für eine gute Einbindung in die Arbeitsprozesse ist nicht nur die Barrierefreiheit - diese ist zunächst die elementare Voraussetzung für den Zugang zu Informationen. Genauso wichtig ist die Gebrauchstauglichkeit der Anwendung in Kombination mit assistiven Technologien. So sind z.B. Kurztastenbefehle für die schnelle Interaktion entscheidend. Der Zugang zu visuellen Informationen über das Auge mit Lupensoftware, synthetische Sprachausgabe oder taktile Hilfen (Braillezeile) ist für Menschen mit Sehbehinderung immer eine zusätzliche Leistung - ein Hilfsmittel ersetzt eben nicht das volle Sehvermögen. Damit mit guten Kompensationsstrategien effizient gearbeitet werden kann, sind daher weitere Maßnahmen erforderlich. Dies sind keine neuen Erkenntnisse: Schon vor ca. 30 Jahren waren es häufig Menschen mit einer Sehbehinderung oder Erblindung, die mit geeigneter Computertechnik kompetent und effektiv arbeiten konnten. Der breite Einsatz von Computertechnik an Arbeitsplätzen, sei es im Büro oder mobil, die Vernetzung sowie die Einführung neuer Prozesse sorgen jedoch für eine erhebliche Verdichtung der Informationsmengen, kurze Reaktionszeiten und eine große Komplexität und Vielfalt installierter Systeme im IKT-Bereich. Schon bei der Ausschreibung von Softwareprojekten müssen die Anforderungen an die Barrierefreiheit möglichst exakt beschrieben werden. Es reicht z.B. nicht aus, einfach eine "barrierefreie" Software zu bestellen - ohne genauere Definition können Menschen mit spezifischen Behinderungen ausgeschlossen werden.
Ein Beispiel:
Dokumentenmanagementsysteme (DMS) ermöglichen die Verknüpfung von Fachanwendungen mit den dazugehörigen Dokumenten - diese werden i.d.R. eingescannt und Vorgängen zugeordnet. Für Menschen mit Einschränkungen in der Mobilität eine wesentliche Hilfe - es entfällt das Aktenhandling, alle Informationen sind direkt am Arbeitsplatz verfügbar. Das Einrichten von Tele- oder Heimarbeitsplätzen ist dadurch problemlos möglich.
Für Menschen mit Sehbehinderung ist es dagegen komplexer, der Zugang zu schriftlichen Informationen über Bildschirmlesegeräte war vor der Einführung von DMS-Lösungen ein gut funktionierender Weg. Mit der digitalen Darstellung der Dokumente auf einem Bildschirm kann sich bei kleineren Vergrößerungen der Zugang vereinfachen, abhängig von der Qualität der technischen Umsetzung. Bei einem stärkeren Vergrößerungsbedarf erschwert sich der Zugang, da die digital dargestellten Dokumente nicht mehr in der gewohnten Qualität und Geschwindigkeit zugänglich sind. Wenn dann noch der gesamte Zugang durch eine virtualisierte Darstellung (Anwendungsserver) gelöst wird, sind die Arbeitsplätze häufig für Menschen mit einer wesentlichen Sehbehinderung nicht mehr geeignet.
Für blinde Menschen verändert sich zunächst einmal nicht viel: Gedruckte und handschriftliche Unterlagen sind per se nicht direkt zugänglich. Das Einscannen und die Darstellung des digitalisierten Bildes eines Dokumentes verändern zunächst einmal nichts in Bezug auf die Zugänglichkeit. Der Einsatz von OCR-Anwendungen (optische Zeichenerkennung) und die Zuordnung von Dokumenten zu Vorgängen in Fachanwendungen kann eine Hilfe darstellen, kommt in der Praxis aber so gut wie nie vor. So ist z.B. die automatisierte Schrifterkennung nicht verlässlich sicher und braucht bei Ungereimtheiten immer noch die Kontrolle durch sehende Kräfte. Die Konsequenz an vielen Arbeitsplätzen ist ein steigender Assistenzbedarf, nicht nur für den Zugang zu Dokumenten, sondern auch für Anwendungen selber.
Konsequenzen in der Praxis:
Ein weiteres Beispiel:
Nach der abgeschlossenen Ausbildung einer Verwaltungsfachkraft wird der zukünftige Einsatz nicht durch das fachliche Können der blinden Mitarbeiterin, sondern durch die am wenigsten mit Barrieren belastete Software (Bereich Bildung und Teilhabe, Zugang mit Screenreader-Skripten und Anpassung) bestimmt.
Die Herstellung der Barrierefreiheit von Softwareprodukten ist bei frühzeitiger Planung sowie klaren Vorgaben bei der Beschaffung möglich und mit dem geringsten Aufwand verbunden. Nach Schätzung eines Mitarbeiters des Software-Unternehmens SAP ist am Beispiel der Entwicklung einer CRM-Software (Kunden-Management) mit etwa fünf Prozent höheren Herstellungskosten zu rechnen, wenn ein Programm von vornherein barrierefrei konzipiert wird. Grundsätzlich gilt, dass die Planung der Zugänglichkeit von Soft- und Hardware von Anfang an mitgedacht und umgesetzt werden muss. Schon die Auswahl der Betriebssysteme, Programmierwerkzeuge und technischen Plattformen stellt entscheidende Weichen. Die nachträgliche Herstellung des Zugangs ist ineffektiv, teuer, unzuverlässig, einschränkend, nicht nachhaltig und die letzte aller Möglichkeiten - leider aber immer noch der Standard in den Arbeitsprozessen. Im Extremfall gefährdet der nicht vorhandene oder ineffektive Zugang zu den digitalen Arbeitsprozessen den Arbeitsplatz.
Das Mitdenken eines Zugangs für alle Menschen ist grundsätzlich keine technische Hürde. Als positives Beispiel ist die Firma Apple zu nennen, die ihre Produkte (Smartphone, Tablets, Notebooks, Desktop-Computer und weitere Geräte wie Uhren und TV-Adapter) von Beginn an mit assistiven Technologien wie Screenreadern ausstattet und den Anschluss weiterer assistiver Technologien wie z.B. geeigneter Braille-Zeilen unproblematisch ermöglicht. Ein solches "Design für alle" sollte üblich werden, bildet bisher aber noch die Ausnahme.
Menschen mit Hörbehinderungen - Beispiel - Assistive Technologien - Hörimplantate
Für viele Menschen mit einer an Taubheit grenzenden Hörbehinderung oder ohne Hörvermögen können ein Cochlea-Implantat (CI) oder Weitere (z.B. Mittelohrimplantate) eine wesentliche Hilfe darstellen. Viele Faktoren müssen aber erfüllt sein, um eine gute Teilhabe sicher zu stellen. Im Arbeitsumfeld muss u.a. klar sein, dass ein Implantat nicht dafür sorgt, den Hörverlust vollständig auszugleichen - für viele betroffene Menschen ist z.B. das Mundbild des Gesprächspartners, eine störungsfreie akustische Umgebung und der Einsatz weiterer Hilfe in Besprechungen (z.B. Mikrofonanlagen) wichtig. In diesem Zusammenhang ist für eine funktionierende Kommunikation nicht nur der betroffene Mensch, sondern auch das Umfeld mit einzubeziehen. Gleichwohl bieten neue technische Produkte wie Smartphones, mit Hilfe einer gut funktionierenden visuellen Kommunikation die Verständigung über Gebärdensprache. Der Einsatz einer Spracherkennung (Umsetzung der gesprochenen Sprache in Text) kann im Einzelfall die Teilhabe im Arbeitsleben unterstützen und verbessern.
Arbeitsmarktchancen von Menschen mit anderen Behinderungen
Auch für Menschen mit Körperbehinderungen ist es wichtig, dass das Zwei-Wege-Prinzip umgesetzt wird, indem z.B. neben der Bedienung mit der Maus alternativ auch über die Tastatur die Programme zu bedienen sind. Im Rahmen der Anpassung elektronischer Hilfsmittel können spezifische Hilfsmittel wie Einhandtastaturen, Spracherkenner, Augensteuerungen etc. erforderlich sein, die auf individuelle Bedienungsbeeinträchtigungen eingestellt werden - auch diese Hilfsmittel erfordern barrierefreie Zugänge zur Hard- und Software.
Für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen kann zwar durch ein Home-Office eine Entlastung von Fahrten zur Arbeitsstätte ermöglicht werden, aber auch um den Preis eines sozialen Ausschlusses von formeller (Arbeitsbesprechung) und informeller (Kontakt mit Kollegen) Kommunikation.
Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen sind darauf angewiesen, dass eingesetzte Arbeitsmittel nicht zusätzliche, vermeidbare Belastungen erzeugen. Erfüllte Grundanforderungen der Software-Ergonomie wie Aufgabenangemessenheit, Steuerbarkeit, Fehlertoleranz, Wahrnehmung und Verständnis (ISO 9241) reduzieren Belastungen und können mitentscheidend für Teilhabe am Arbeitsleben sein. Wenn Technik Arbeitsprozesse definiert, ist diese besonders im Rahmen von Belastungsanalysen zu bewerten.
Schulungen zur selbstverständlichen Nutzung bestehender Möglichkeiten
Der Umgang mit assistiven Technologien mit der damit verbundenen persönlichen Kompetenz sollte insbesondere bei Menschen mit Behinderung möglichst früh in einer geeigneten Form vermittelt werden. Die Implementierung sollte bereits in der Schule und beruflichen Ausbildung eingeübt werden, ist aber in den Pädagogik-Lehrplänen noch nicht enthalten. Die entsprechende Technik ist einsatzbereit, aber es bedarf noch umfassender Schulungen. In einem Modellprojekt in NRW wurde mit Förderung des LWL-Integrationsamts Westfalen der Einsatz von iPads mit Braille-Zeilen und der integrierten Zugangstechnik erprobt. Pädagoginnen mit Einschränkung im Sehvermögen sowie betroffene Schülerinnen und Schüler nahmen teil. Es wurde bereits im Grundschulbereich eine hohe Motivation der Schülerinnen und Schüler beim Einsatz der Arbeitsmittel und eine Steigerung der Hilfsmittelkompetenz festgestellt.
Weiterbildungsangebote im Arbeitsleben sind mit entscheidend für die Teilhabe am Arbeitsleben. Die Nutzung und der effektive Einsatz der unterstützenden Technologien sowie geeignete Angebote zur Verbesserung der Stellung im Erwerbsleben erfordern auch einen barrierefreien Zugang zu den unterschiedlichsten Fortbildungsangeboten, z.B. E-Learnings, Web Based Training (WBT), etc.
Fazit
Die Digitalisierung der Arbeitswelt bringt für alle Menschen Chancen und Risiken mit sich, aber wenn die Zugänglichkeit wesentlich eingeschränkt ist, überwiegen für viele Menschen mit Schwerbehinderung die Risiken. Die im SGB IX vorgesehene Anpassung des Arbeitsplatzes ist in allen Fällen einfacher, wenn die Barrieren in der (Arbeits-)Umgebung im Sinne eines "Design für alle" von vornherein abgesenkt würden. Assistive Technologien stehen zwar in vielen Bereichen zur Verfügung, sie können aber nur wirken, wenn sie (a) hinreichend unterstützt werden, (b) alle Schnittstellen im Arbeitsprozess beachtet werden und (c) durch weitere Rahmenbedingungen wie optimale Abläufe und Organisationsstrukturen im Hinblick auf den Zugang für Menschen mit Behinderungen eingebunden sind.
Entscheidend ist die Implementierung einer geeigneten Definition von Barrierefreiheit (in Bezug auf die technischen Herausforderungen - siehe WCAG 2.0, BITV, EN 301549, Normenreihe EN ISO 9241 und Weitere) am Anfang aller Entwicklungs-, Planungs- und Beschaffungsprozesse. Dies erfordert ein Verständnis für die durchaus komplexen und technisch anspruchsvollen Anforderungen sowie die selbstverständliche Bereitschaft, den inklusiven Ansatz in die Tat umzusetzen. Handhabbare und zielführende Regelungen z.B. bei der Beschaffung von Software, Unterstützung bei Ausschreibungsvorlagen etc. sind hilfreich und erforderlich. Die Sicherung der angestrebten Qualität der Zugänglichkeit erfordert ein belastbares und flexibles System, das auch dem Innovationstempo gewachsen ist. Dies erfordert auch eine professionelle Beratungs- und Unterstützungsinfrastruktur, um die Anforderungen durch die neuen Prozesse und Technologien praxisrelevant zu verankern.
Zum Autor:
Michael Große-Drenkpohl ist im Fachdienst für Menschen mit Sehbehinderung beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) in Münster tätig.