Historische Entwicklungen und anstehende Aufgaben: Eine Einleitung in die Dokumentation der Weiterbildungstagung "Moderne Arbeitsassistenz in der modernen Arbeitswelt"

Von Klaus Winger

Arbeitsassistenz gehört zur DNA der Selbsthilfeverbände blinder und sehbehinderter Menschen. Zumindest derer, die Ausbildung, Berufstätigkeit und Weiterbildung im Blickpunkt ihres Engagements haben.

Für den Deutschen Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V. (DVBS) ist Arbeitsassistenz ein wesentlicher Teil seiner über einhundertjährigen Geschichte. Ohne die "Vorlesekräfte" und ihre "Handreichungen" hätten bereits im vergangenen Jahrhundert blinde und sehbehinderte Menschen weder eine qualifizierte Ausbildung oder ein Studium absolvieren noch einen Beruf ausüben können. Seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts "forderte der DVBS ... unermüdlich vom Gesetzgeber die Schaffung eines Rechtsanspruchs auf Übernahme dieser Kosten aus Mitteln der Ausgleichsabgabe", so Dr. Otto Hauck im Schlusswort der Dokumentation der DVBS-Tagung "Arbeitsassistenz: Fortschritte - Ausweichschritte - Rückschritte" vom 22.11.2002 (siehe horus spezial II, Marburg 2003, S. 51). Schon im Mai 1998 hatte der DVBS mit einer Fachtagung "Arbeitsplatzassistenz - und wir haben eine Chance im Beruf" (vgl. horus spezial I, Marburg 1998) ein Zeichen gesetzt, das die Sozialpolitik nicht überhören und übersehen konnte. "Am 1. Oktober 2000 war es endlich so weit: Der Rechtsanspruch auf Erstattung der Aufwendungen für die notwendige Arbeitsassistenz wurde im Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter verankert. Er wurde dann in das SGB IX übernommen, das am 1. Juli 2001 in Kraft trat. Wir sahen darin einen "Meilenstein" auf dem Weg zur beruflichen Eingliederung." (Hauck, a.a.O.)

Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit war und ist nötig

Blinde und stark sehbehinderte Menschen hatten schon lange, zumeist in privater Initiative und nur zum Teil finanziell gefördert, "Vorlesekräfte" eingesetzt. Sie wuchsen sich keinesfalls automatisch zu "Arbeitsplatzassistenz-" und dann "Arbeitsassistenzkräften" aus. Das war vielmehr Ergebnis "unserer hartnäckigen Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit in diesem Bereich", wie Uwe Boysen in der Einleitung zur Dokumentation der DVBS-Tagung von 2002 schildert. (a.a.O., S. 2). Engagierte sozialpolitische Lobbyarbeit hatte Erfolge gezeitigt. Aber Ausruhen war nicht angesagt. Weiteres Engagement war erforderlich, um die Ansprüche auch im Einzelfall durchzusetzen.

Vor allem Mitglieder der Selbsthilfe haben dazu seit Bestehen der gesetzlichen Regelung und bis heute viele Prozesse vor Gericht geführt. Und das häufig mit Erfolg. Meist auf Grund von Gerichtsurteilen wurden die Möglichkeiten für den Einsatz und die Finanzierung der Arbeitsassistenz für Beschäftigte mit Blindheit und Sehbehinderung entsprechend der unabweislichen Bedarfslage deutlich weiterentwickelt, den zuständigen Leistungsträgern abgetrotzt. Da sind u.a. früher übliche zeitliche und finanzielle Obergrenzen gefallen und Restriktionen gelockert worden. Seit wenigen Jahren erst haben auch Teilzeitbeschäftigte einen Anspruch auf Arbeitsassistenz. Und erst kürzlich konnte gegen die Leistungsträger höchstgerichtlich durchgefochten werden, dass auch schwerbehinderte Menschen, die sich auch im Rentenalter noch beruflich engagieren, Anspruch auf Arbeitsassistenz haben.

Sozialgesetze zeitgemäß interpretieren

Die heute gültigen Sozialgesetze bilden eine stabile Basis für die Weiterentwicklung von Arbeitsassistenz. Sie machen aus früheren Bittstellern Fordernde, die die gesetzlichen Regelungen zeitgemäß interpretieren und ihre aktuelle, bedarfsgerechte Anwendung, wenn es sein muss, auch einklagen. Was als bedarfsgerechte Anforderungen zu verstehen sind, rührt aus der veränderten Arbeitswelt unserer Zeit her. Aus den konkreten Arbeitsumgebungen schwerbehinderter Beschäftigter und ihren Arbeitsmitteln und Arbeitsmethoden. Und die wurden seit dem Jahr 2000 dynamisch weiterentwickelt. Digitale Hilfsmittel können Teilhabe erheblich erleichtern. Barrierehaltige IT-Anwendungen aber können zu Jobverlusten führen. Auch moderne Kooperationsmethoden mit häufig wechselnden Arbeitsorten und Arbeitspartnern und hohem Anteil an visueller Kommunikation können selbst hochqualifizierte blinde und sehbehinderte Fachleute zum "fünften Rad am Wagen" in ihren Teams machen und somit ihre berufliche Perspektive bedrohen. In der Beratungs- und Informationsarbeit der berufs- und ausbildungsorientierten Selbsthilfe werden solche Problemlagen immer häufiger geschildert. Blinde und sehbehinderte Beschäftigte sind heute in einer breiten Palette von Berufen und Tätigkeiten aktiv, sind akademisch und dual gut qualifiziert, sind Erzieher*innen, Softwareentwickler*innen, Kaufleute aller Art, Geschäftsführer*innen, Sozialarbeiter*innen, Therapeut*innen und vieles mehr. Die Anforderungen an effektive Arbeitsassistenz sind entsprechend vielfältig. Arbeitsassistenz ist kein Allheil-Mittel, aber insbesondere in Phasen schnellen Wandels sehr hilfreich und gut geeignet.

Neue qualitative Fragen

Die Nutzung von Arbeitsassistenz hat sich seit dem Jahr 2000 auch quantitativ deutlich entwickelt. Im Jahr 2019 haben die Integrationsämter Arbeitsassistenzleistungen mit fast 40 Millionen € gefördert. Auch infolge dieser quantitativen Entwicklung haben sich neue qualitative Fragen aufgetan: Wie kann die Assistenzbeziehung gelingen? Wie werden Konflikte gelöst, Zuständigkeiten geklärt, Ziele und Regeln vereinbart? Assistenznehmenden und auch Assistenzgebende haben diese sozialpsychologische Dimension der Assistenzbeziehung, Personalführung und Rollenklärung sehr häufig nicht ausreichend mitbedacht. Heute machen sie einen großen Teil der Beratungsanfragen aus. Aus dem früher häufig freundschaftlich geregelten Einsatz der "Vorlesekraft" wird, je nach gewähltem Arbeitsassistenzmodell unterschiedlich ausgeprägt, eine mehr oder minder professionell gestaltete Kooperationsbeziehung. Hier wird nach Unterstützung, Beratung, Qualifizierung gefragt. Die Selbsthilfe muss sich in diesem wachsenden Bedarfsfeld noch stärker engagieren.

Alte Probleme

Aber es sind auch alte Probleme bis heute im Kern unbewältigt geblieben: Die Kritik an der sehr meist zu geringen Honorierung der Arbeitsassistenzkräfte, der zeitlichen Befristung der Förderlaufzeiten, an der inhaltlich unterschiedlichen, nicht selten beliebig erscheinenden und häufig sehr langwierigen Erteilung von Bescheiden der Integrationsämter hat sich bis zu unserer aktuellen Veranstaltung durchgezogen, von 1998 bis 2021. Und noch heute geistert der Begriff der "Handreichung" durch die Arbeitsassistenzdebatte und kennzeichnet damit - leider auch in den Köpfen mancher zuständiger Sachbearbeiter - ein Assistenzverständnis aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts.

Verständnis von Arbeitsassistenz aktualisieren

Mit ihrer Weiterbildungstagung "Moderne Arbeitsassistenz in der modernen Arbeitswelt" wollen DVBS und PRO RETINA dazu beitragen, das Verständnis von Arbeitsassistenz, seiner Regelungen und seiner Nutzung zu aktualisieren. Wir tun dies, indem wir Assistenznehmende aus sehr unterschiedlichen Bereichen des Arbeitslebens informieren: Über aktuelle Entwicklungen in der Arbeitswelt, aus denen sich auch Anforderungen an Arbeitsassistenzleistungen ergeben. Über das Leistungs- und Anerkennungsspektrum der Integrationsämter. Über Grundsätze und Techniken der Gestaltung guter Arbeitsassistenzbeziehungen. Wir tun dies, indem wir Assistenznehmende zum Erfahrungsaustausch einladen und Raum für die gegenseitige kollegiale Beratung als Experten in eigener Sache schaffen. Und wir tun dies, indem wir Vorschläge und Ideen zur Optimierung aus den Plenumsgesprächen und Gruppenarbeiten sammeln, diskutieren und zu Forderungen an Leistungsträger, Selbsthilfe und Arbeitgeber ausarbeiten.

Es gibt unbezweifelbar auch Fortschritte seit der gesetzlichen Verankerung der Arbeitsassistenz. Die junge, engagierte Vertreterin der BIH, der Dachorganisation der deutschen Integrationsämter, macht in Vortrag und Diskussion Mut und schürt Hoffnung mit ihren offensiven Auslegungen der aktuellen BIH-Empfehlungen zur Arbeitsassistenz. Sie beweist Einfühlungsvermögen in die behinderungsbedingten Benachteiligungen blinder und sehbehinderter Beschäftigter. Sie arbeitet selbst an der Weiterentwicklung des BIH-Regelwerkes zur Arbeitsassistenz mit und bietet sich der Selbsthilfe als Ansprechpartnerin an.

Trotzdem: Es bleibt noch viel zu tun. Insbesondere angesichts der rasanten Transformationen im Arbeitsleben und der ihnen innewohnenden strukturellen Bedrohungen der effektiven, selbständigen und befriedigenden Teilhabe blinder und sehbehinderter Menschen am Arbeitsleben sind Aufmerksamkeit und Engagement geboten. Die strukturelle Benachteiligung sehbeeinträchtigter Menschen bleibt auch in der modernen Arbeitswelt bestehen. Deshalb müssen passende Arbeitsassistenzleistungen wieder und wieder neu entwickelt, geprüft, erprobt und dann auch finanziert werden. "Nach wie vor gilt: Wir sind so gut qualifiziert wie sehende Menschen auch, wir wollen dieselben Arbeitsleistungen erbringen wie sie, was wir dafür brauchen, sind einige ausgleichende Hilfen. Dazu gehört unweigerlich Assistenz am Arbeitsplatz." So sagte es Andreas Bethke, damals Geschäftsführer des DVBS, auf der DVBS-Tagung im Jahr 2002 (horus spezial II., S. 24). Dem ist auch heute nichts hinzuzufügen.

In Workshops und Plenumsdiskussion wurden nun im Oktober 2021 auf der Weiterbildungstagung "Moderne Arbeitsassistenz in der modernen Arbeitswelt" in Kassel Forderungen für die bedarfsgerechte Weiterentwicklung der Arbeitsassistenz und ihrer Regelungen erarbeitet. Sie werden Gegenstand eigener Selbsthilfeaktivitäten von DVBS und PRO RETINA sein. Und die Selbsthilfeverbände werden sie mit Nachdruck in weitere Gespräche mit zuständigen Leistungsträgern und Akteuren in der Sozialpolitik einbringen.

Bild: Klaus Winger, hier während der Fortbildung am Mikrofon, hat weißes Haar, einen gepflegten Vollbart und eine Brille. Über einem fliederfarbenen Hemd trägt er eine Weste in Anthrazit. Foto: DVBS

Zur Person

Der Diplom-Pädagoge Klaus Winger war von 2014 bis 2018 DVBS-Geschäftsführer und bis 2020 Leiter des DVBS-Projekts "Inklusive Bildung ohne Barrieren" (iBoB). Er ist Initiator der Weiterbildungstagung "Moderne Arbeitsassistenz in der modernen Arbeitswelt". Anfang 2021 hat er den "Ratschlag: Gute Arbeitsassistenz" ins Leben gerufen, eine zweimonatliche Onlineveranstaltung des DVBS zum Austausch von Assistenznehmenden via Zoom.

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