Von Prof. Dr. Klaus Miesenberger
Seit fast 30 Jahren beschäftige ich mich mit Web- und Software Accessibility. Eingebunden in eine Serviceeinrichtung für Studierende mit Behinderungen betreibe ich Forschung und Lehre in der Informatik und erlebe, wie Barrierefreiheit Menschen Perspektiven öffnet, Chancen ergreifen und Zukunft selbständig in die Hand nehmen lässt. Schon bevor die UN-Konvention in aller Munde war, vertrat ich Barrierefreiheit als Grund- und Menschenrecht in der Informationsgesellschaft und so präsentiere ich es meinen Studierenden.
Der Fortschritt kann sich sehen lassen: Heute weiß man um die Vorteile von Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderung, ältere Menschen und für viele mehr. Gesellschaft und Sozialsystem profitieren von mehr Selbständigkeit und Unabhängigkeit. In einer alternden Gesellschaft öffnen barrierefreie Produkte neue Marktchancen und sind Voraussetzung, um hochqualifizierte Mitarbeitende trotz Beeinträchtigung (im Alter) im Betrieb halten zu können. Barrierefreiheit ist kein soziales Almosen, sondern Recht und ein ökonomisches Muss.
Dem folgend stehen politische Willensäußerungen an der Tagesordnung und gesetzliche Regelungen sind implementiert: Auf der internationalen Ebene (z.B. UN-Konvention, EU Web-Accessibility-Directive), bundesweit (z.B. Barrierefreie Informationstechnikverordnung, BITV) bis hin zu regionalen Regelungen.
Nur: Wo bleibt die Umsetzung? Es gibt positive Beispiele, aber in Anbetracht des Tempos der Digitalisierung und des Wandels hin zur Informationsgesellschaft wird die Kluft zwischen Chancen und Realität größer. Barrierefreiheit ist noch sehr hypothetisch. Es gibt noch keine Kultur und keinen Markt für Barrierefreiheit. Aber wir sind optimistisch in Anbetracht des Erreichten in den letzten 30 Jahren. Und man kann optimistisch sein, dass ein Paradigmenwechsel bevorsteht.
Mit diesem Verständnis breche ich auf in die schöne neue Welt. Meine Universität hat mir ein Sabbatical genehmigt. Ich habe Einladungen im Gepäck an Universitäten, wo barrierefreie Informationstechnologie ein zentrales Forschungsthema ist: Boston, Princeton, Colorado Springs, San Diego, Los Angeles, New York und noch einige andere. Man ist willkommen bei Freunden und Kollegen, mit denen man schon gemeinsam geforscht und Ziele verfolgt hat. Man erntet fast so was wie Bewunderung, sind wir doch noch immer die einzige Universität, wo Barrierefreiheit ein Pflichtfach für alle InformatikerInnen ist.
Einer Einladung schenkte ich zuerst weniger Bedeutung: zwei ehemalige Doktoranden laden mich ein, in ihrer "Accessibility Company" mitzuarbeiten. Richtig: Barrierefreiheit ist in den USA am IT-Markt angekommen. Das wusste ich bereits aus Gesprächen, Veröffentlichungen und Medien. Doch die Dimension überrascht mich dann doch: Ich komme zum Jahrestreffen von über 250 Mitarbeitenden - richtig: 250! Und ich erfahre, dass es zumindest zwei weitere Firmen in dieser Dimension gibt. Alle sind auf der Suche nach Personal. Die Auftragsbücher sind voll, aber Accessibility-ExpertInnen schwer zu finden. Daher kommen die Mitarbeitenden aus aller Frauen und Herren Länder, vor allem auch Europa. Ich treffe ehemalige Studierende und ehemalige sehbehinderte und blinde Teilnehmende an ICCs (Computer Camps), das wir 2016 mit dem DVBS in Dresden organisiert haben. Sie arbeiten meist von zu Hause aus. Im Web-Zeitalter ist das selbstverständlich.
Aber wo kommt das Geld her? Wer zahlt für Barrierefreiheit? Sind es öffentliche Förderungen? Nein, kein Cent. Wenn Kooperation mit dem öffentlichen Sektor, dann sind es Verträge für Evaluierung, Design, Entwicklung oder Consulting. Der öffentliche Sektor macht weniger als 10 Prozent des Umsatzes aus. Der Rest kommt aus Aufträgen von Firmen und NGOs. "Accessibility is a growing business!" Ich darf einen Blick in die KundInnenliste werfen: die Großen der IT-Industrie, Handel, Gewerbe, Transport etc. Keine Branche, die nicht vertreten wäre. Sie alle wollen und müssen barrierefrei werden.
Warum dieser Boom? Natürlich stehen Gesetze dahinter: Americans with Disabilities Act (ADA), Section 508 des Rehabilitation Act und viele regionale Gesetze. Solche Gesetze haben wir doch auch? Aber die Umsetzung funktioniert hier anders, wie ich bei meinem ersten Auftrag, bei dem ich mitarbeite, erleben darf. Es ist eine der größten Banken in den USA. Den Namen darf ich nicht nennen, was aber keine Rolle spielt, denn die Situation ist bei allen ähnlich. Die Bank ist im Januar 2016 zu einer Strafe von 16 Millionen US-Dollar verurteilt worden, weil die Webseite, das E-Banking und einige andere Applikationen nicht barrierefrei sind. Ich frage nochmals. Tatsächlich: 16 Millionen US-Dollar. Und eine Frist für die Reparatur mit 15.5.2016 wurde vorgegeben, ansonsten wird eine Strafe von 165.000 US-Dollar fällig - pro Tag!
Auch wir haben Gesetze, aber Barrierefreiheit ist in den USA als Grundrecht verankert und wird auf Punkt und Komma eingehalten. Keine langwierigen Schlichtungen bzw. Verfahren für Betroffene. Die öffentlichen Autoritäten müssen von Amts wegen aktiv werden. Es gibt keine Diskussionen, ob eine Strafe wirtschaftlich angemessen ist und wie viele tatsächlich geschädigt sind. Das Gericht errechnet das Diskriminierungspotenzial auf Basis statistischer Daten und wirtschaftlicher Kennzahlen. Grundrecht ist und bleibt Grundrecht.
Ich bin willkommen in der Firma, denn man ist mit Aufträgen voll. Ein Team wird gebildet. Nicht nur "Subject Matter Experts" für alle möglichen technischen Bereiche von Web-Systemen (Formulare, Login, dynamischer Content, Tabellen, Java, Ajax etc.), sondern auch "Account- und Business Development Manager", die die Bank unterstützen in der Entwicklung von Managementstrukturen, "Customer-Relationship", "Business Development" und Marketing in Richtung neuer Zielgruppen. Es gibt sogar eine Weiterbildungsabteilung, für die ich Kurse entwickeln werde, und die von den Firmen eingekauft werden. Man erlebt gleich, es geht um weit mehr als kurzfristige Reparatur, sondern um die Entwicklung einer Accessibility-Kultur, um das Potenzial des Marktes (20 Prozent und mehr) zu nutzen. Das unterrichte und predige ich seit Jahren. Hier wird es gemacht!
Wir arbeiten intensiv und hart. Man nennt mich zwar Experte mit viel Erfahrung, aber in einem wirtschaftlichen Kontext mit Druck und der Anforderung, zu einem Zeitpunkt zu liefern, das ist neu für einen kleinen österreichischen Beamten. Wir kommen gut voran. Ich beschäftige mich vor allem mit neuen dynamischen Elementen, die mittels ARIA (Accessible Rich Internet Applications) barrierefrei gemacht werden: Kalender und Datumsauswahl, Bilder- und Werbe-Karussell, Captchas, Aktienkursanzeigen, etc. Wir schaffen es bis Mitte April, dass alle Anforderungen erfüllt werden. Die Bank ist zufrieden. Mehr noch: sie sehen Barrierefreiheit nicht mehr als unnötige Last, sondern als ein Muss, um KundInnen, vor allem ältere Menschen, erreichen zu können. Sie etablieren einen internen Fond über 16M$ für die Umsetzung der Barrierefreiheitskultur: Weiterbildung, "Corporate Social Responsibility" (CSR; Gesellschaftliche Mitverantwortung), Marketing, Compliance Management. Wir erhalten einen 5-Jahres-Consulting Vertrag.
Was für ein Erlebnis: Mit Accessibility kann man Geld verdienen. Für jene, die darin investieren, lohnt es sich! Und vor allem: Es ist nicht die "Gesetzeskeule", die wirkt. Sobald Barrierefreiheit startet, erfahren alle die Vorteile und sie wird Teil der Kultur.
Dazwischen habe ich meine Universitätsbesuche nicht vernachlässigt und bin auch ständig in Kontakt mit meinem Institut und den Studierenden in Linz. Wir bereiten unsere Konferenz (www.icchp.org) und das ICC (www.icc-camp.info) mit dem DVBS vor. Man ist immer im Geschäft hier, auch das muss man einmal erlebt haben. Man erlebt, warum vieles schneller geht. Ich bin dabei bei der Gründung der Initiative "TeachAccess" (www.teachaccess.com). Große Firmen fordern, dass Accessibility Teil der Curricula wird und mittelfristig Teil des Akkreditierungsprozesses für öffentlich finanzierte Universitäten. Die Firmen brauchen ExpertInnen, um den gesetzlichen Anforderungen entsprechen zu können. Man kann auch hier davon ausgehen, dass dies prompt umgesetzt wird. So sind wir bald nicht mehr die einzige Universität mit Barrierefreiheit als Pflichtfach. Schade, aber gut so. Und die erste bleiben wir ja allemal.
Der nächste Auftrag steht an. Siehe da, eine europäische Airline fragt an wegen eines neuen Gesetzes: Air Carrier Accessibility Act (ACAA). Kurz gesagt, müssen alle Airlines 2017 barrierefrei sein (Online-Buchung, Sitzplatzreservierung, Stornierung, Ticket-Automaten etc.), weil ansonsten die Landegenehmigung entzogen wird. Klingt krass, aber darüber wird nicht diskutiert. Es ist ein Grundrecht. Ich muss vor Ende des Projekts aussteigen, weil mein Sabbatical zu Ende geht. So bleibt die Hoffnung, dass die europäischen Airlines dies auch in Europa nachfragen und "Business" entsteht.
Schmeichelnde und verführerische Angebote gäbe es, um hier zu bleiben, sowohl an Unis als auch in der Wirtschaft. Ich bewundere die Umsetzung von Barrierefreiheit. Aber man sieht auch den enormen Druck, die vielen, die es nicht mehr schaffen und in kein soziales Netz fallen können. Halte ich das aus? Und vielen nutzt Barrierefreiheit nicht, weil sie gar kein Konto und kein Reisebudget haben, geschweige denn die Geräte und die Ausbildung, um all das zu nutzen.
Was ich mitnehme: Wir brauchen mehr Druck. Es wird länger dauern, aber auch bei uns wird Barrierefreiheit kommen. Die neue Web-Accessibility-Directive der EU ist noch nicht der ADA oder Section 508, aber auch hier ist das Ziel klar. Was wir aber nicht verlieren dürfen, ist soziale Wärme, Solidarität und Bildung, damit dann auch alle die barrierefreien Systeme nutzen können. Es sind eben nicht nur technische, sondern auch soziale und ökonomische Barrieren, die Behinderung ausmachen. Es hat eben alles mehrere Seiten und viele Überraschungen, wie ich im Präsidentschaftswahlkampf hautnah miterleben darf. Und auch der neue wird Accessibility, so wie hoffentlich vieles, nicht wieder ganz rückgängig machen können.
Zum Autor
Prof. Dr. Klaus Miesenberger ist stellvertretender Vorstand des Instituts Integriert Studieren an der Johannes Kepler Universität in Linz. Das Institut unterstützt Studierende mit Behinderungen. Als Teil des Fachbereiches Informatik lehrt und forscht Prof. Miesenberger in den Bereichen barrierefreie Web- und Softwareentwicklung, Mensch-Maschine Kommunikation und Assistierende Technologien. Weiterhin ist er Initiator und Vorsitzender des International Camp on Communication and Computers (ICC), das seit 1993 Jugendliche mit Behinderungen in jährlichen Camps auf neue Technologien und das Studium vorbereitet.