Von Prof. Dr. Thomas Kahlisch
1 Zusammenfassung
Im Artikel werden die Arbeitsschwerpunkte von Medibus und seinen Kooperationspartner dargestellt. Der rechtliche Rahmen wird aufgezeigt, der in den kommenden Jahren die Bereitstellung und Verbreitung barrierefreier digitaler Inhalte entscheidend verändern wird. Abschließend werden die Chancen und Herausforderungen bei der barrierefreien Gestaltung digitaler Bildungsmedien auf verschiedenen Ebenen diskutiert und Wege aufgezeigt, wie Lösungen gefunden werden, die aktiv und partizipativ ausgestaltet sind.
2 Einleitung
Die Digitalisierung führt u. a. zu einem umfassenden Wandel der Medienwelt, von dem die Personengruppe blinder und sehbehinderter Menschen in einem ganz besonderen Maße betroffen ist. Dies hat großen Einfluss auf die Bereitstellung und Anwendung von Bildungsmedien, die in digitalisierter Form viele Chancen, aber auch Herausforderungen für diesen Personenkreis in Schule, Ausbildung, Beruf und im privaten Umfeld bereithalten.
Traditionelle Informations- und Kommunikationsmedien wie Brailleschrift, tastbare Abbildungen und aufgesprochene Texte auf Tonträger werden durch digitale Braille-Systeme und Verfahren zum 3D-Druck ergänzt und in ihren Anwendungsbereichen weitergedacht.
In der Auseinandersetzung mit den Stärken und Schwächen der verschiedenen Medien und ihrer Darstellungsformen geht es nicht darum, der einen Ausprägung die Priorität vor der anderen zu geben, sondern eher die neuen technischen Möglichkeiten so zu nutzen, dass Kommunikation und Information auf eine große Medienvielfalt und deren flexible Einsatzmöglichkeiten setzten.
Besonders im Unterricht oder in der Ausbildung können digitale Bildungsangebote diese Vielfalt entscheidend verbessern, insbesondere, wenn sie zeitgleich mit ihren gedruckten Vertretern und mit geringem Aufwand bereitgestellt werden und barrierefrei und gut handhabbar für den jeweiligen Anwender gestaltet sind.
3 Medibus – Mitglieder, Aufgaben und Ziele
Neben den Medienzentren der Spezialschulen und Förderzentren, die unmittelbar für die Bereitstellung barrierefreier Lehr- und Lernmittel im Unterricht sorgen, bieten die unter dem Dach Medibus zusammengefassten Spezialbibliotheken für blinde, seh- und lesebehinderte Nutzende ein großes Spektrum an Braille-Werken und Hörbüchern zur kostenfreien Ausleihe an. Gesetzliche Grundlage für die Arbeit der Spezialbibliotheken ist die im § 45a-d verankerte Schrankenregelung des Urheberrechtsgesetzes (1), in der die barrierefreie Aufbereitung und Verbreitung literarischer Werke durch sogenannte begünstigte Stellen geregelt ist.
Im Vorstand der Dachorganisation wirken neben Vertreter*innen der Blinden- und Sehbehinderten-Selbsthilfe Verantwortliche der Spezialbibliotheken aus Deutschland, Österreich und der Schweiz mit. Der Vorstand vertritt die Interessen der Einrichtungen gegenüber den Rechteinhabern, der Verlagswelt und der Politik und initiiert Projekte und Vorhaben zur Weiterentwicklung der nationalen und internationalen Zusammenarbeit.
Folgende Projekte werden von Medibus aktuell durchgeführt:
- Die Errichtung einer Internetplattform zu Recherche und Download barrierefreier Literatur.
- Die Erarbeitung von Qualitätsstandards und Zertifizierungsverfahren für barrierefreie digitale Werke und deren Rezipierbarkeit.
- Die Beratung und Unterstützung der Nutzerinnen und Nutzer in der Anwendung digitaler und analoger barrierefrei gestalteter Angebote.
- Sensibilisierung und Unterstützung der Verlagsbranche bei der barrierefreien Gestaltung digitaler Medienangebote.
- Kooperationen im Bereich des Inklusiven Publizierens.
In besonderem Maße ist Medibus im Bereich der Sensibilisierung und Unterstützung der Buchbranche bei der Umsetzung des BFSG aktiv. Seit 2020 arbeiten Medibus-Vertreter*innen in der Taskforce Barrierefreiheit des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels e. V. mit Vertreterinnen der Verlage und der Zwischen- und Buchhändler in Arbeitsgruppen und Fachgremien zusammen, um den Prozess aktiv und erfolgreich zu gestalten.
Die in der Taskforce und den Arbeitsgruppen erarbeiteten Richtlinien, Anleitungen und Empfehlungen sind auf der Homepage des Börsenvereins (www.boev.de/barrierefreiheit) für Jedermann kostenfrei zugänglich und abrufbar. Die veröffentlichten Leitfäden werden bei Bedarf aktualisiert und die entsprechenden Unterlagen angepasst. Das Expertenwissen und das Engagement der Medibus-Vertreter*innen genießen dabei hohes Ansehen in der Taskforce.
Besonderes Augenmerk richtet Medibus in der Taskforce auf den Bereich digitale Bildungsmedien. Hier muss es gelingen, den Verband der Bildungsmedien e. V. (VBM) (2) als Vertretung der über 75 Bildungsverlage in die Arbeit der Taskforce einzubinden. Vertreter*innen von Medibus und der Medienzentren kooperieren mit dem Projekt EDU-Check (3), in dem für die Bundesländer Verfahren zur Prüfung digitaler Bildungsangebote auch im Bereich Barrierefreiheit entwickelt werden sollen.
Beauftragt durch die Bundesfachkommission für die Überprüfung von Lehr- und Lernmitteln blinder und sehbehinderter Schülerinnen und Schüler, haben Fachexpert*innen der blista, des dzb lesen und der Schlossschule Ilvesheim ein Papier für die speziellen Anforderungen an die barrierefreie Gestaltung digitaler Bildungsmedien (4) erarbeitet, auf dessen Inhalt im folgenden Kapitel eingegangen wird.
4 Chancen und Herausforderungen barrierefreier Bildungsmedien
4.1 Chancen
4.1.1 Digitalisierung
Verlage haben sich auf den Weg gemacht, ihre digitalen Produkte so zu produzieren, dass die Anforderungen an barrierefreie Gestaltung „born accessible“ im gesamten Herstellungsprozess eines Werkes Berücksichtigung finden. Der Verband der Bildungsmedien schätzt ein, dass seine Mitglieder aktuell und in Zukunft weg vom druckseitenorientierten PDF-Layout starkes Engagement auf den Auf- und Ausbau von webbasierten Portalen zur Präsentation ihrer Inhalte setzen. Crossmedia-Publishing bietet dem Verlag dabei die Möglichkeit, seine Inhalte auf verschiedenen Endprodukten auf Smartphone, Tablet, Web-Plattform oder in gedruckter Form barrierefrei zu verbreiten. Noch nicht abschätzbar ist, welche rasanten und umfassenden Veränderungen die Anwendung der Künstlichen Intelligenz im Bereich des Publizierens und Präsentierens von Wissen spielen wird. Erste eindrucksvolle Beispiele sind hier die Möglichkeiten der Beschreibung bzw. Analyse visueller Informationen aus Bildern, Grafiken oder Videos oder die Realisierung qualitativ hochwertiger synthetischer Stimmen sowie die Interpretation von mathematischen/naturwissenschaftlichen Darstellungen.
Ein entscheidender Faktor bei der Anwendung dieser Technologien und der Entwicklung entsprechender Werkzeuge ist die Qualifikation und Weiterbildung der mit diesen Prozessen befassten Expertinnen und Experten.
4.1.2 Rechtlicher Rahmen
In der Bundesrepublik Deutschland existiert ein breiter Rahmen von gesetzlichen Regelungen und Vorschriften im Bereich der Barrierefreiheit. Für das hier betrachtete Feld sind vor allem das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, die BITV 2.0 sowie die Inklusionsgesetze der Länder und ganz allgemein das Behindertengleichstellungsgesetz (5) zu nennen. Insbesondere das BFSG legt fest, dass Produkte und Dienstleistungen (E-Books, Lesesysteme und Vertriebswege) bis zum 28.06.2025 barrierefrei zu gestalten sind. Dies ist im Bereich Bildungsmedien mit einigen Herausforderungen verbunden, auf die weiter unten eingegangen wird. Ein rechtlicher Rahmen allein ist nicht ausreichend, um ein konkretes Vorhaben umzusetzen.
4.2 Herausforderungen
4.2.1 Digitalisierung
Wie das bereits erwähnte Papier für die Bundesfachkommission aufzeigt, liegen große Herausforderungen in der barrierefreien Aufbereitung digitaler Bildungsmedien.
Als Beispiele werden hier der Umgang mit Abbildungen und deren Beschreibungen genannt. In den einschlägigen Standards wie der WCAG ist klar formuliert, dass Abbildungen zu beschreiben sind, jedoch ist diese allgemeine Forderung in Lernmaterialien nicht immer einfach umsetzbar. Beispielsweise dient eine Bildergeschichte der Visualisierung eines Sachverhaltes, und die Übungsaufgabe des Schülers besteht darin, die Bilder zu analysieren und sich mit dem Sachverhalt auseinander zu setzen. Dies ist bei blinden Lernenden nicht möglich und eine Bildbeschreibung würde den Sachverhalt bereits verbalisieren, was die Übungsaufgabe damit obsolet macht. Neben der Behandlung von Abbildungen und der zahlreichen anderen Visualisierungen in Lernwerken stehen Verlage auch vor großen Herausforderungen bei der barrierefreien Gestaltung mathematischer Formeln und naturwissenschaftlicher Darstellungen. Einen Lösungsansatz bietet die Formatierungssprache LaTeX, die im Unterricht bereits breite Anwendung findet und es ermöglicht, unmittelbar mit Formeln zu arbeiten, was eine unverzichtbare Eigenschaft ist, wenn die digitalen Lernmaterialien im Unterricht zum Einsatz kommen.
Es wird Standards, Regeln und Prüfmechanismen geben müssen, die sicherstellen, dass sich die Betroffenen in die Entwicklung und Anwendung einbringen und keine Personengruppe ausgegrenzt wird. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, wie wichtig die Qualifikation und Weiterbildung der Pädagoginnen und Pädagogen, Lernenden und Anwender*innen ist, um mit den Entwicklungen schritthalten zu können.
4.2.2 Rechtlicher Rahmen
In diesem Bereich stehen wir aktuell ebenfalls vor besonderen Herausforderungen durch den Gesetzgeber. Das BFSG ist aufgrund fehlender Regelungen in den folgenden Bereichen wenig hilfreich, die barrierefreie Gestaltung digitaler Bildungsmedien vollständig zu sichern:
- Das Gesetz greift bislang nicht bei Web-Portalen, und grade die sind es, für die aktuell von den Bildungsverlagen Anwendungen entwickelt und getestet werden. Neben dieser Gesetzeslücke bleibt die Hoffnung, dass über die landesspezifischen Inklusionsgesetze hier ein Hebel gefunden werden kann, mit dessen Hilfe die Anbieter dazu verpflichtet werden, ihre Portale und die Inhalte barrierefrei zu gestalten.
- Bislang existieren im BFSG keine konkreten Festlegungen, ob auch die sogenannte Backlist der Verlage vollständig in barrierefreier Form ab dem 28.06.2025 bereitstehen muss. Nachvollziehbar ist, dass die vollständige Überarbeitung aller lieferbaren digitalen Titel eines Verlages aufwändig ist und eine Lösung gesucht werden sollte, die einen zeitlichen und qualitativen Rahmen festlegt, wie und bis wann diese Aufgabe für Verlage gemeistert werden kann.
- Im Gesetz sind Ausnahmeregelungen verankert, die den Verlagen die Möglichkeit geben, bei unzumutbarem Aufwand auf die barrierefreie Überarbeitung ihrer Angebote zu verzichten. Wie diese Regelungen konkret gehandhabt werden und zu interpretieren sind, ist bislang leider durch den Gesetzgeber nicht definiert. Dies führt bei dem einen oder anderen Verlag zu einer gewissen "Abwartehaltung". Was bedeutet, dass man diese zusätzlichen Aufgaben aussitzt oder seiner Rechtsabteilung die Entscheidung anvertraut, sich der neuen Aufgabe zu stellen.
4.2.3 Standards und Qualitätssicherung
Der Autor sieht in der föderalen Struktur bundesdeutscher Bildungspolitik die größte Herausforderung bei der Umsetzung des Vorhabens, digitale Bildungsmedien für jedermann zugänglich und barrierefrei zu gestalten. Wie die ungeklärten rechtlichen Rahmenbedingungen und bislang nicht getroffenen Festlegungen zu den Überwachungsmechanismen und Methoden zeigen, ist diese Sorge nicht unberechtigt. Leider existieren noch keine Regelungen, wie die Arbeit der geplanten Überwachungsstellen aussehen wird, wo sie angesiedelt werden und welche Aufgaben sie erfüllen sollen. Unklar ist auch, wie die Einhaltung der geltenden Standards und Richtlinien geprüft und die Partizipation der Betroffenen sichergestellt wird.
Die Taskforce Barrierefreiheit des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels wurde bereits im Dezember 2020 gemeinsam mit Medibus gegründet. Bislang fand die Bundesregierung wärmende Worte für das Engagement der TaskForce. Zu einer Förderung konkreter Maßnahmen sah sich jedoch der Bund nicht in der Lage.
5 Schlussfolgerungen
Abschließend werden hier vier Maßnahmen bzw. Forderungen als Schlussfolgerungen der in diesem Artikel gemachten Erläuterungen zusammengefasst.
1. Politische Forderung - Barrierefreiheit muss Zulassungskriterium für digitale Bildungsmedien werden: Das für die Bundesfachkommission verfasste Expertenpapier bietet die Argumentationsgrundlage, in den Kultusministerien der Länder in allen relevanten Fachbereichen (Schulbuchzulassung, Digitalisierung und Sonderpädagogik) das Thema barrierefreie Gestaltung von digitalen Bildungsmedien mit der erforderlichen Priorität und Zielorientiertheit in die weiteren Planungen und Auseinandersetzungen zu integrieren.
2. Partizipation - Beteiligung der Betroffenen und der Spezialeinrichtungen an den Entwicklungsprozessen: Medibus arbeitet intensiv mit dem Börsenverein, dem VBM, dem Projekt EDU-Check und einzelnen Bildungsverlagen zusammen. Die Einbindung des Fachwissens der Spezialbibliotheken ist dabei ebenso wichtig wie das unmittelbare Feedback der betroffenen Nutzerinnen und Nutzer.
3. Aktive Nutzung und Anwendung digitaler Entwicklungen: Die im Aufbau befindliche Plattform für barrierefreie Literaturangebote der Medibus-Bibliotheken wird unter Einsatz der geltenden modernen Standards und Technologien ein Zertifizierungsverfahren schaffen, in dem die Qualität der barrierefreien Gestaltung der Leseangebote gesichert werden kann.
4. Finanzierung von Projekten - Anwendung und Qualitätssicherung von KI-Methoden in den Bereichen mathematischer und naturwissenschaftlicher Darstellungen: Betrachtung von KI-Methoden zur Gestaltung und Verarbeitung mathematisch-/naturwissenschaftlicher Inhalte. An der Philipps-Universität Marburg gibt es derzeit ein Projekt (Im Math4VIP-Projekt) (6) zu diesem Thema, das sowohl im Hochschulkontext als auch in der allgemeinen Schule und im beruflichen Alltag Anwendung findet.
Zum Autor
Prof. Dr. Thomas Kahlisch leitet das Deutsche Zentrum für barrierefreies Lesen (dzb lesen) in Leipzig und ist Honorarprofessor an der Leipziger Universität sowie der HTWK im Fachbereich „Barrierefreie Mediengestaltung“. Der selbst blinde Diplominformatiker promovierte auf dem Gebiet der Mensch-Computer-Interaktion. Er ist Vorsitzender der Mediengemeinschaft für blinde, seh- und lesebehinderte Menschen e. V. (Medibus), vertritt Deutschland im Daisy Consortium und leitet verschiedene Arbeitsgruppen und Gremien in der Taskforce Barrierefreiheit des Deutschen Börsenvereins e. V. Ehrenamtlich engagiert er sich außerdem in der Blinden- und Sehbehinderten-Selbsthilfe, u. a. als Präsidiumsmitglied des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes e. V. (DBSV).
Anmerkungen
(1) www.gesetze-im-internet.de/urhg/__45a.html
(3) educheck.schule
(4) www.vbs.eu/de/arbeitsgemeinschaften/bundesfachkommission/
(5) www.gesetze-im-internet.de/bgg/BGG.pdf
(6) https://www.uni-marburg.de/de/fb12/kooperationen/diffgeoana/math4vip
Bild: Thomas Kahlisch blickt am Rednerpult über den aufgeklappten Laptop hinweg ins Publikum. Er hat weißes Haar und trägt eine Brille. Hemd, Krawatte und Jackett sind in Blautönen abgestimmt. Foto: blista