Von Harald Schoen
Was macht das BMJV?
Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz – abgekürzt BMJV – hat wie jedes Ministerium seine spezifischen Zuständigkeiten, die sogenannten federführenden Zuständigkeiten. Das sind traditionell z. B. das allgemeine Zivilrecht, das Familienrecht, das Strafrecht und das Wirtschaftsrecht (z. B. das Urheberrecht oder die Regeln, wie Unternehmen gegründet werden und wie sie aufgebaut sind). Eine weitere wichtige Funktion des BMJV ist die Mitprüfung: Jeder Gesetz- oder Verordnungsentwurf, egal von welchem Ministerium, wird vom BMJV auf Verständlichkeit, Stimmigkeit und Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz geprüft.
Zu diesen Aufgaben ist mit dem Amtsantritt der neuen Regierung das Thema Verbraucherschutz hinzugekommen. Das BMJV vertritt also innerhalb der Bundesregierung auch die Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher.
Für die Themen mit Federführung ist man der oder die Hauptzuständige, und zwar nicht nur innerhalb des Ministeriums, sondern in der Bundesregierung insgesamt. In dieser Rolle entwickelt man die Position der Bundesregierung, z. B. ob sie sich eher für starke oder eher für schwache Rechte von Fahrgästen einsetzen soll. Wegen dieser Gestaltungsmöglichkeit kommt es immer wieder vor, dass mehrere Referate oder sogar mehrere Ministerien für ein und dasselbe Thema die Hauptzuständigkeit übernehmen möchten – ganz entgegen der landläufigen Meinung, dass Beamte sich gerne möglichst oft für unzuständig erklären.
Die Aufgaben als Federführer*in sind vielfältig. Am sichtbarsten in den Medien ist die Funktion der Vorbereitung von Gesetzen. Regelmäßig heißt es in der Tagesschau, das Bundeskabinett habe diesen oder jenen Gesetzentwurf beschlossen. Dieser Entwurf stammt dann je nach Thema aus dem BMJV oder einem der anderen Ministerien. Die nationale Ebene macht aber inzwischen in vielen Referaten nur den kleineren Teil der Aufgaben aus. Sehr wichtig ist die Arbeit in der Europäischen Union. Da geht es darum, als Vertreter*in der Bundesregierung über die von der EU-Kommission vorgelegten Vorschläge für Richtlinien und Verordnungen einen Konsens unter den Mitgliedstaaten und mit dem Europäischen Parlament zu erreichen. Zu diesem Zweck kommen die Justizminister*innen der EU-Mitgliedstaaten regelmäßig in Brüssel zusammen.
Politisches und Fachliches
Wie alle Ministerien hat auch das BMJV eine politische Ebene und die Fachebene. Zur politischen Ebene zählen die Ministerin, die Parlamentarischen Staatssekretäre und die Staatssekretärin, zur Fachebene die Abteilungen mit ihren Unterabteilungen und Referaten.
Ich leite das Referat für Transportrecht, das sich u. a. mit den zivilrechtlichen Regelungen für die Beförderung von Gütern oder Personen befasst, z. B. der Haftung bei Beschädigungen oder Verletzungen, und den Fahrgastrechten von Bahnreisenden. Als Referatsleiter gehöre ich also zur Fachebene. Die Fachebene macht die inhaltliche Arbeit – z. B. die Entwicklung eines Gesetzentwurfs oder von Positionen und Textvorschlägen für Verhandlungen in der EU – und richtet sich dabei nach den politischen Vorgaben.
Die politische Ebene hat sehr begrenzte Kapazitäten und kann sich nur um die ganz wichtigen Themen kümmern. Die meisten Vorgänge müssen daher „unter dem Radar“ der Leitung des Ministeriums laufen. Hin und wieder steht man vor der Frage: Ist mein aktuelles Thema politisch so heiß, dass ich mir meine Entscheidung von der Staatssekretärin oder gar von der Ministerin billigen lassen oder sie zumindest informieren sollte? Was „politisch“ oder sogar „hochpolitisch“ ist, ist schwer vorherzusehen. Klar ist eigentlich nur: Es muss nicht unbedingt um Leben und Tod gehen. Kürzlich haben beispielsweise die Verkehrsminister*innen der EU-Mitgliedstaaten fast zwei Stunden lang darüber diskutiert, ob Fluggäste schon ab drei Stunden oder erst ab vier Stunden Verspätung eine Entschädigung erhalten sollten.
Mein Weg ins Ministerium
Mich hat das Arbeitsamt ins BMJV vermittelt. Was sich erst einmal lustig anhört, hat einen wahren Kern. In den 2000er Jahren gab es in der Zentralstelle für Arbeitsvermittlung der damaligen Bundesanstalt für Arbeit den sehr umtriebigen Reiner Schwarzbach, der bei Ministerien und Behörden für die Einstellung schwerbehinderter Hochschulabsolventen geworben und sie bei der Bewerbung unterstützt hat. Und so habe auch ich mich auf seine Empfehlung hin beim BMJV initiativ beworben. Nach einem recht stressigen Tag mit mehreren Vorstellungsgesprächen wurde ich erst „außer der Reihe“ befristet als Angestellter eingestellt und später verbeamtet.
Über die Zusage des BMJV, die nur wenige Tage nach meinem Besuch dort kam, habe ich mich damals sehr gefreut. Sie stand im krassen Gegensatz zu den vielen prompten Absagen, die ich auf meine Bewerbungen bei Unternehmen erhalten hatte. Ich vermute stark, dass ich stets wegen meiner Sehbehinderung aussortiert wurde, teilweise wurde mir das sogar offen gesagt. Für das Ministerium spielte meine Behinderung dagegen offenbar keine Rolle.
Nicht wenige DVBS-Mitglieder verdanken Reiner Schwarzbach ihren Job – ein tolles Beispiel dafür, wie sich Menschen mit Behinderungen durch Engagement der Arbeitsverwaltung in dauerhafte, gut qualifizierte Arbeit bringen lassen. Trotz seiner Erfolge wurde sein Team später leider abgewickelt und existiert heute nur in abgespeckter Form wieder. Mein Weg ins BMJV bleibt daher wohl exotisch. Allerdings hat das BMJV in den letzten Jahren regelmäßig ganz regulär Stellen ausgeschrieben und dabei waren auch Menschen mit Behinderungen schon erfolgreich.
Die tägliche Arbeit bewältigen – Tipps zur Selbsteinschätzung
Die Arbeit im BMJV unterscheidet sich wesentlich von dem, was ich aus Studium und Referendariat kannte. Denn es geht hier nicht darum, einen Fall von Anfang bis Ende zu lösen, sondern meistens um die Bearbeitung konkreter Einzelfragen. In einem Ministerium, aber sicher auch in anderen Behörden oder in Unternehmen, kommt das in verschiedenen Varianten vor, die unterschiedliche Anforderungen stellen. Daher ist es wichtig, dass jede und jeder versucht, sich über die eigenen Interessen, Stärken und Schwächen und die Auswirkungen klar zu werden, die ihre bzw. seine Sehbeeinträchtigung auf die Arbeit hat. Denn nur dann ist es möglich, die passende Aufgabe zu finden.
Für wen das Durchlesen langer Dokumente ein Stressfaktor ist – z. B. für mich –, der sollte eine koordinierende Rolle vermeiden. Bei der Koordinierung geht es im BMJV, grob gesagt, darum, ein umfangreiches Dokument zu überfliegen und die für bestimmte Abschnitte zuständigen Referate nach ihrer Meinung zu dem jeweiligen Abschnitt zu fragen. Das kann z. B. ein Bericht der EU-Kommission, ein geplantes Strategiepapier eines Ministeriums oder ein Gesetzentwurf sein. Als Empfänger einer solchen Anfrage freue ich mich dagegen, dass ich mir nur eine bestimmte Stelle anschauen muss.
Ebenfalls schwierig finde ich die Arbeit mit mehreren Dokumenten parallel. Diese Situation ist insbesondere für die Mitprüfungsreferate typisch. Die sehr großen Bildschirme, die wir im Ministerium haben, erleichtern diese Arbeit zwar – gerade wenn man mit einer Vergrößerungssoftware arbeitet –, aber trotzdem kostet es mich mehr Zeit und Mühe als normal sehende Kolleg*innen, in jedem Dokument immer wieder neu den Punkt zu finden, an dem ich weiterlesen möchte.
Am besten für uns Sehbeeinträchtigte sind nach meiner Erfahrung die Referate mit Federführung geeignet. Hier ist man weniger mit den Anfragen anderer Kolleg*innen konfrontiert, sondern kann in gewissen Grenzen seine eigenen Schwerpunkte und – vielleicht noch wichtiger – das Arbeitstempo bestimmen. Man ist seltener „Opfer“ sehr kurzer Antwortfristen, sondern kann diese selbst setzen. Trotzdem ist die erwartete Arbeitsgeschwindigkeit auch in den Federführungsbereichen hoch.
Arbeitsumgebung und Arbeitsklima
Kann man im BMJV als Person mit Sehbeeinträchtigung wie eine Kollegin oder ein Kollege ohne Behinderung arbeiten? Den Anspruch, das zu ermöglichen, hat das Ministerium durchaus. Die Tücken liegen, wie so oft, in der praktischen Umsetzung.
Ein großes Thema ist beispielsweise der verstärkte Einsatz cloud-basierter Spezialsoftware anstelle der bisher üblichen, auf den Arbeitsplatz-PCs installierten Microsoft-Software. Jede neue Anwendung wirft die Frage nach der Barrierefreiheit auf. Dazu kommt, dass die meisten Cloud-Lösungen für alle Bundesministerien zentral vom Bundesministerium für Digitalisierung und Staatsmodernisierung entwickelt werden. Das macht es noch schwerer, die zuständigen Personen zu finden, die die Antwort geben können. Ich versuche, die IT-Verantwortlichen im BMJV dafür zu sensibilisieren, dass Barrierefreiheit nicht nur eine Frage des Respekts gegenüber den Mitarbeitenden mit Behinderungen ist, sondern auch eine Anforderung, die rechtlich gleichrangig ist mit anderen Anforderungen wie z. B. der IT-Sicherheit.
Schwierig in der Praxis ist auch die Versorgung sehbeeinträchtigter Mitarbeitender mit Arbeitsassistenz. Hier liegt das Problem vor allem im Mangel geeigneter Assistenzpersonen. Wie wir alle wissen, ist die Aufgabe von Assistenz heute nicht mehr das bloße Vorlesen von Texten. Jedenfalls im BMJV geht es z. B. auch darum, Dokumente barrierefrei zu machen, Texte sauber zu formatieren oder bei Besprechungen und Dienstreisen zu begleiten. Leider können oder möchten nur wenige diese Aufgaben übernehmen.
Das Arbeitsklima im BMJV würde ich als freundlich und respektvoll beschreiben. Diskriminierungen wegen einer Behinderung gab es natürlich trotzdem schon, etwa wenn behinderten Kolleg*innen grundlos bestimmte verantwortungsvolle Aufgaben nicht übertragen wurden. Die Beschäftigten des BMJV sind nur ein Spiegel der Gesellschaft!
„Ist das auch was für mich?“
Trotz der geschilderten Haken mache ich die Arbeit im BMJV gerne. Das Ministerium bietet viele verschiedene Aufgaben. Es ist möglich und wird auch erwartet, in den ersten Jahren regelmäßig das Referat zu wechseln. Dadurch lernt man immer wieder neue Themen und Abläufe kennen. Reizvoll finde ich außerdem die Internationalität: In fast jedem Referat hat man mit Gremien der EU oder einer anderen internationalen Organisation und mit Kolleg*innen aus anderen Staaten zu tun.
Last but not least: Spannend ist natürlich die Verbindung zur Politik. Kein Referat steht allerdings permanent im Zentrum des politischen Interesses. Und das ist auch gut so. Denn „wichtig“ zu sein, ist zwar ganz nett, bedeutet aber auch viel Arbeit innerhalb kurzer Fristen, wenn man z. B. Anfragen aus dem Bundestag beantworten, die Ministerin für ein Gespräch vorbereiten oder das Ministerium in einem Bundestags-Ausschuss vertreten muss.
Wer meine Darstellung interessant gefunden hat und Jurist*in ist oder im gehobenen Dienst arbeitet, dem würde ich eine Bewerbung beim BMJV grundsätzlich empfehlen. Aktuelle Stellenausschreibungen gibt es zurzeit angesichts der bekannten Kassenlage des Bundes allerdings nicht (aktuelle Informationen zu Ausbildung und beruflichen Möglichkeiten im BMJV siehe https://www.bmjv.de/DE/ministerium/karriere/karriere_node.html).
Zum Autor
Harald Schoen arbeitet seit 2002 im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz. Seit 2017 leitet er dort das Referat für Transportrecht. Im DVBS ist er in verschiedenen Funktionen aktiv gewesen. Seit 2016 ist er Beisitzer im Vorstand – ein Ehrenamt, in das er im Mai dieses Jahres wiedergewählt wurde.
Bild: Harald Schoen lächelt. Er hat dunkle Augen, eine hohe Stirn und dunkles, kurzes Haar. Über dem karierten Hemd trägt er einen grauen Sakko. Foto: privat
Bild: Arbeitsort Ministerium: Eingang des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz in Berlin-Mitte mit den historischen Mohrenkolonnaden. Drei Menschen in Businesskleidung eilen bewegungsunscharf durch das Bild. Foto: Photothek / Heinl