Von Kirsten Vollmer
Ich möchte mich mit Ihnen auf eine kleine Tour d‘Horizon begeben, die ausgehend von den Rahmenbedingungen der beruflichen Bildung behinderter Menschen in Deutschland Schlaglichter auf aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen wirft und dabei gesellschafts- und bildungspolitische Diskurse anspricht.
Leitideen der dualen Berufsausbildung
Berufsbildung findet in Deutschland auf unterschiedlichen gesetzlichen Grundlagen und Niveaustufen und an unterschiedlichen Lern- und Beschäftigungsorten statt. Bei der dualen Berufsausbildung wird parallel und aufeinander abgestimmt an zwei Lernorten, im Betrieb und in der Berufsschule, ausgebildet. Diese Dualität unterscheidet diese Berufsausbildung zum Beispiel von vollzeitschulischer beruflicher Bildung, wie sie insbesondere in vielen sozialen und therapeutischen beruflichen Qualifizierungen erfolgt. Die rechtlichen Grundlagen der dualen Berufsausbildung bilden das Berufsbildungsgesetz (BBiG) und die Handwerksordnung (HwO).
In der dualen Berufsausbildung werden seit der Einführung des Konzepts der Handlungsorientierung sowohl die sogenannten Ordnungsmittel - das sind vor allem Aus- und Fortbildungsregelungen für anerkannte Aus- und Fortbildungsberufe und Umschulungsregelungen - als auch die Ausbildungsmethoden an „vollständigen Handlungen“ orientiert. Bei der Novellierung des Berufsbildungsgesetzes 2005 wurde „berufliche Handlungsfähigkeit“ als Leitzielder Berufsausbildung verankert. Sie ist im Berufsbildungsgesetz und der Handwerksordnung definiert als die „notwendigen beruflichen Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten, derer es für die Ausübung einer beruflichen Tätigkeit in einer sich wandelnden Arbeitswelt“ bedarf.
Diese Formulierung drückt die Erfahrung und die Erkenntnis aus, dass sich Arbeits- und Geschäftsprozesse kontinuierlich verändern und berufliche Kompetenzen dem entsprechen müssen. Die Definition beruflicher Handlungsfähigkeit signalisiert entsprechend, dass es dabei um die Fähigkeit und die Bereitschaft zu fachlich fundiertem, selbstständigem verantwortlichem Handeln geht.
Im Zuge der Kompetenzorientierung hat sich der Begriff „Berufliche Handlungskompetenz“ etabliert und wird seither oftmals synonym verwendet. Der Deutsche Qualifikationsrahmen (DQR) unterscheidet dabei zwei Kompetenzkategorien: „Fachkompetenz“, unterteilt in „Wissen“ und „Fertigkeiten“, und „Personale Kompetenz“, unterteilt in „Sozialkompetenz und Selbständigkeit“. Berufliche Handlungsfähigkeit bzw. berufliche Handlungskompetenz bilden so etwas wie die „Philosophie“ der dualen Berufsausbildung in Deutschland. Mit anderen Worten: als Leitideen der Berufsbildung sind sie „State of The Art“.
Blick auf behinderte Menschen
Die Definitionen von Menschen mit Behinderungen und Menschen mit Beeinträchtigungen, die dem „Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen“ zugrunde liegen, orientieren sich an der Internationalen Klassifikation von Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, der ICF.
Dort werden die beiden Gruppen wie folgt definiert: Zu den Menschen mit Beeinträchtigungen zählen Menschen mit Schädigungen von Körperstrukturen oder -funktionen und psychischen Funktionsstörungen, deren Leistungsfähigkeit bei Aktivitäten im Zusammenhang mit diesen Schädigungen dauerhaft beeinträchtigt ist.
Bei behinderten Menschen handelt es sich um Menschen mit den beschriebenen Beeinträchtigungen, die mit Barrieren in ihrer räumlichen und gesellschaftlichen Umwelt so zusammenwirken, dass sie dadurch nicht an einzelnen Lebensbereichen teilhaben können. Insbesondere der Einbezug von Umweltfaktoren markiert eine Abkehr von früheren Konzepten von Behinderung: Behinderung wird also nicht mehr als Eigenschaft einer Person, als Personenmerkmal, aufgefasst, sondern als das Ergebnis einer problematischen Wechselbeziehung zwischen individuellen Voraussetzungen und Umweltbedingungen. Damit rückt der Abbau von konkreten Barrieren jeglicher Art in den Fokus. Der Blick richtet sich auf die Veränderung und Fortentwicklung von Strukturen zugunsten von Teilhabe und Inklusion.
Für die duale berufliche Bildung behinderter Menschen ist der amtlich festgestellte Status einer Schwerbehinderung nicht notwendig und auch nicht relevant. Wesentlich - und berufsbildungsrechtlich entsprechend postuliert - ist die Priorität der Ausbildung in anerkannten, oftmals auch als „regulär“ bezeichneten Ausbildungsberufen.
Damit eine solche „reguläre“ Ausbildung auch für behinderte junge Menschen möglich ist, sollen die für die Durchführung und Prüfung der Ausbildung zuständigen Stellen - dies sind in der Regel Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern, Landwirtschaftskammern - bei Bedarf „die besonderen Verhältnisse behinderter Menschen berücksichtigen“ (§ 65 BBiG/42 HwO).
Mit dieser Formulierung ist ein (berufsbildungs)gesetzlicher Auftrag formuliert, der sogenannte Nachteilsausgleich. Er dient als wesentliches Instrument zur Inklusion behinderter Menschen in Ausbildung und Beschäftigung bzw. zur Fachkräftequalifizierung und damit der Fachkräftesicherung.
Gleichwohl ist die gesetzeskonforme, konstruktiv-kreative Anwendung des Nachteilsausgleichs in der Berufsbildungspraxis Thema zunehmender Anfragen an die BIBB-Stabsstelle Berufliche Bildung behinderter Menschen. Sie signalisieren Informationsbedarf, Unsicherheiten und Probleme in der Praxis, die dazu führen, dass das Potenzial des Nachteilsausgleichs nicht ausgeschöpft und zugleich der gesetzliche Anspruch betroffener Personen nicht ausreichend eingelöst wird.
Daher führen wir im BIBB aktuell ein Entwicklungsprojekt mit Forschungsanteil durch, das die zuständigen Stellen - also vor allem die erwähnten Kammern - als Schnittstelle und entscheidende Akteure für die Umsetzung des Nachteilsausgleichs fokussiert. Auf der Grundlage der angestrebten Erkenntnisse sollen Empfehlungen abgeleitet und in Wissenschaft, Politik und Praxis vermittelt werden.
Erste Ergebnisse zeigen, dass das Thema Nachteilsausgleich für die bei den zuständigen Stellen betrauten Personen hohe Relevanz besitzt. Dieser Befund ist umso bemerkenswerter, da die Aufgabe des Nachteilsausgleichs für die meisten innerhalb des von ihnen wahrzunehmenden Tätigkeitsfeldes nur einen kleinen Ausschnitt darstellt. Zudem ist die Resonanz auf unsere schriftliche Befragung außergewöhnlich hoch, und die Beantwortung zeigt u.a., wie herausfordernd die Aufgabenwahrnehmung erlebt wird und wie groß das Bedürfnis nach Information und fachlichem Austausch ist.
Werfen wir nun ein Schlaglicht auf die Ausbildung behinderter Menschen zur Fachpraktiker*in, denn auch mithilfe des Nachteilsausgleichs ist eine duale Berufsausbildung in einem anerkannten sogenannten „regulären“ Ausbildungsberuf nicht für alle Menschen möglich. Zumindest ist eine reguläre Ausbildung nicht für alle behinderten Menschen bereits als erster Schritt in Berufsausbildung möglich.
Vor allem junge Menschen mit Lernbeeinträchtigungen überfordert häufig der berufsschulische Teil der dualen Ausbildung. Auch können einzelne Ausbildungsinhalte bei manchen Behinderungen nicht vollständig zu vermitteln und entsprechend zu erlernen sein. Für diese Einzelfälle bietet eine Ausbildung gemäß § 66 BBiG/42r HwO die Möglichkeit einer (meist) theoriereduzierten Berufsausbildung bzw. einer um bestimmte Inhalte der Ausbildungsordnung, des Ausbildungsrahmenplans des Bezugsberufs, reduzierten.
Grundlage dieser Ausbildungen sind Ausbildungsregelungen der zuständigen Stellen, daher werden sie oft auch als „Kammerregelungen“ bezeichnet. Der Hauptausschuss des BIBB hat 2009 für diese regionalen Ausbildungsregelungen eine Rahmenregelung beschlossen, die bundeseinheitliche Qualitätsstandards vorgibt und diese Berufsausbildungen anschlussfähig an „reguläre“ Ausbildungen (gemäß § 4 BBiG/§ 25 HwO) macht.
Wesentliche Elemente dieser vom Gesetz vorgesehenen bundeseinheitlichen BIBB-Rahmensetzung sind - auch hier - die berufliche Handlungsfähigkeit als Ausbildungsziel, betriebliche Phasen (da diese speziellen Ausbildungen oft auch außerhalb von Betrieben in besonderen Einrichtungen wie z.B. Berufsbildungswerken erfolgen), ein Förderplan, ein zielgruppenadäquater Ausbilderschlüssel und eine rehabilitationspädagogische Zusatzqualifikation für Ausbilderinnen und Ausbilder.
Zusätzlich zur BIBB-Rahmenregelung erlässt der BIBB-Hauptausschuss, meist auf gemeinsame Initiative der Sozialpartner, also Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen, berufsspezifische Musterausbildungsregelungen. So wurden im letzten Jahr u.a. neue berufsspezifische Musterausbildungsregelungen für IT-Systemelektronik und IT-Systemintegration abgestimmt. Damit bestehen nun auch für diesen relevanten Berufsbereich Orientierungsmarken mit Signalfunktion.
Mit dem Dreiklang aus der Priorität der Ausbildung in anerkannten Ausbildungsberufen, der Anwendung von Nachteilsausgleich bei Durchführung und Prüfung der Ausbildung und als Drittem den Fachpraktiker*innenausbildungen, die ausschließlich bei besonderer Art und Schwere der Behinderung vorgesehen sind, bietet sich ein inklusionsadäquater Rechtsrahmen. Er sieht die Einbeziehung behinderter Menschen in das allgemeine System qualifizierter dualer Berufsausbildung „von vornherein“ vor, statt „Sondersysteme“ zu weisen bzw. zu installieren.
Diesen Rechtsrahmen gilt es kontinuierlich fortzuentwickeln. Als Kompass für diese Gestaltungsaufgabe eignen sich als relevante Kriterien Anschlussfähigkeit, Durchlässigkeit, Zugänglichkeit und Individualisierung. Eine Aufgabe, für die es Fachkompetenz und Engagement bedarf.
Risiken und Erfolgsfaktoren
Wesentlich für gelingende Inklusion behinderter Menschen in Berufsbildung und in Beschäftigung scheint mir der Paradigmen- und Perspektivwechsel zu einer systemischen Betrachtungsweise, die behinderte Menschen als selbstverständliche Teile einer von Vielfalt und Heterogenität geprägten Gesellschaft fokussiert.
Inklusionsrisiken bestehen dort, wo Fachlichkeit an Stellenwert einbüßt oder unter Rechtfertigungsdruck gerät. Es gilt im Blick zu halten, dass die Fokussierung auf Beschäftigungsfähigkeit nicht zu Lasten qualitativer, am Berufsprinzip orientierter Ausbildung führt.
Ressourcenansatz, Zielgruppenspezifik und Förderbedarfsorientierung bilden für Inklusion gerade keine Gegensätze, sondern die unverzichtbare Verbindung eines Komplementärverhältnisses. Konkret heißt das auch, dass Förderbedarf identifiziert werden muss, um ihn beantworten zu können - und dass diese Identifizierung, aber auch die entsprechende Beantwortung und damit Umsetzung, Fachkompetenz voraussetzen.
Um den Zugang und die Beteiligung behinderter Menschen an Berufsbildung und damit an Beschäftigung zu ermöglichen bzw. zu verbessern, sind frühzeitige Berufsorientierung und kompetente, individuelle Beratung entscheidend. Demgegenüber bergen traditionell bewährte, aber oftmals eben auch „eingefahrene“ Kooperationen zwischen Förderschulen und Werkstätten für behinderte Menschen die Gefahr einer nicht ausreichend individuell ausgerichteten „Empfehlung“ bzw. Zuweisung. Auch die „Einkaufspraxis“ der Bundesagentur für Arbeit bzw. ihrer Regionaldirektionen kann dazu führen, dass Reha-Beratende eingekaufte bzw. preisverhandelte Maßnahmen füllen, anstatt individuell zu beraten.
Sollen Arbeitgeber behinderte Menschen selbstverständlicher als bis dato als Auszubildende und als Beschäftigte betrachten, ist Information und Beratung eine wichtige Stellschraube. Eine Schlüsselstellung fällt hier aus meiner Sicht den Kammern zu: Sie kennen die regionalen Gegebenheiten, sind Ansprechpartner der Betriebe, in ihren Berufsbildungs- und Prüfungsausschüssen wirken die Vertreter*innen der Berufsschule mit und sie sind im Austausch mit den Agenturen für Arbeit und den Integrationsämtern. Als vertrauter Partner können sie beraten, informieren und u.a. bei der Vermittlung von Schulpraktikumsstellen weichenstellend agieren.
Ausblick
Werfen wir abschließend Schlaglichter auf Auswirkungen aktueller Entwicklungen wie Digitalisierung, Globalisierung und Demografischer Wandel, auf Klimawandel und Energiewende.
Der politische Konsens über die Notwendigkeit von Transformationsprozessen hat die Berufsbildung ins Blickfeld gerückt. Sie gilt als anerkannter Standort- und Stabilitätsfaktor. Sie leistet einen qualifikatorischen Beitrag zu Fachkräftesicherung, Integration und Inklusion. Denn ohne Menschen, die den Weg in die angestrebte, politisch gesetzte sogenannte Green Economy als Chemikant*innen, als Verfahrenstechnolog*innen, Kfz-Mechatroniker*innen, Anlagenmechaniker*innen für Sanitär, Heizung und Klima, Kaufleute für Büromanagement und für E-Commerce als Fachkräfte umsetzen, wird er nicht erreichbar sein. Ebenso wenig wie die Behebung des zunehmenden Pflegenotstands ohne ausreichende entsprechende Fachkräftegewinnung realistisch ist.
Was bedeutet diese Situationsbeschreibung für Inklusion? Wird die Suche nach noch nicht ausgeschöpften „Potenzialen“ zum Selbstläufer für die Chancen von Menschen mit Beeinträchtigungen? Meine fachliche Einschätzung lautet: eher nicht, zumindest ist keineswegs ein entsprechender „Automatismus“ zu erwarten. In den letzten Jahren ist zwar eine wachsende Offenheit der Betriebe bei der Einstellung dieser Personengruppen festzustellen. Zugleich bestehen jedoch deutliche Unterschiede innerhalb des heterogenen Spektrums. Während die Offenheit gegenüber Menschen mit körperlichen und Sinnesbeeinträchtigungen - nicht zuletzt auch angesichts des technologischen Fortschritts und veränderter Arbeits- und Geschäftsprozesse - zunimmt, bestehen Unsicherheiten, Zurückhaltung und Informationslücken mit Blick auf verschiedene psychische Beeinträchtigungen und Erkrankungen und deren Auswirkungen fort und hemmen eine entsprechende Offenheit und Bereitschaft.
Dies führt uns zum Abschluss unserer Tour d‘Horizon zu Wissenschaft, Politik und Praxis als den drei Bereichen, die für die Berufliche Bildung beeinträchtigter und behinderter Menschen wesentlich sind. Ihr konstruktives Zusammenwirken entscheidet maßgeblich über Fortschritte bei der Teilhabe und Inklusion an und in Berufsbildung und damit an und in Beschäftigung.
Fehlt es Wissenschaft, Politik und Praxis wechselseitig an angemessener Wahrnehmung, Berücksichtigung und Wertschätzung - einschließlich der jeweiligen Unterschiedlichkeiten in Aufgabe, Rolle, Kultur und Perspektive - und fehlt es damit an der Fähigkeit und Bereitschaft zu Dialog und Kooperation, dann droht ein Auseinanderdriften dieser drei essenziellen Bereiche.
Der VBS-Kongress ist ein gelungenes Beispiel für diese wechselseitige Wahrnehmung und den wichtigen Dialog zwischen Wissenschaft, Politik und Praxis. In diesem Sinne danke ich nochmals sehr herzlich für die Einladung.
Zur Autorin
Kirsten Vollmer beschäftigt sich seit mehr als fünfzehn Jahren mit der beruflichen Bildung behinderter Menschen am Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) in Bonn. Zu den Forschungsthemen und Schwerpunkten ihrer Arbeit zählen Inklusion und Teilhabe, Berufliche Bildung behinderter Menschen, Ausschuss für Fragen behinderter Menschen (AFbM) und die Qualifizierung des Berufsbildungspersonals in der Beruflichen Bildung behinderter Menschen. Kontakt: vollmer@bibb.de
Bild: Einer der beiden Hauptvorträge am 3. August in der blista-Sporthalle: Kirsten Vollmer, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesinstitut für Berufsbildung, steht mit Laptop am Rednerpult, im Hintergrund wird der Vortragstitel projiziert. Sie hat kurzes helles Haar und trägt Blazer, Hose und Tuch in vorwiegend hellen Tönen. Foto: blista