Von Dr. Eberhard Hahn

Wenn jemand gesagt bekommt, er habe Augen wie ein Adler, so kann er sich zweifellos geschmeichelt fühlen, obwohl er mit einem richtigen Adler und dessen Sehkraft niemals mithalten kann.

Wer hingegen nur schlecht oder gar nicht sehen kann, wird gelegentlich als Brillenschlange oder Blindschleiche tituliert. Das ist dann sicher abwertend gemeint und damit durchaus unangenehm, aber man kann solche Vergleiche getrost an sich abprallen lassen. Sie sind zwar sprachlich nachvollziehbar, aber in der Sache völlig verfehlt.

Die Brillenschlange, eine Giftnatter aus der Familie der Kobras, trägt zwar ein Brillenornament, aber nicht über den Augen, sondern im Nacken. Schärfer sehen wird sie dadurch wohl kaum können.

Und die Blindschleiche ist keineswegs blind. Sie kann sogar ihre Augen schließen, vielleicht, weil sie dann, wie wir, besser schlafen kann.

Wir, die Hahns, haben unsere eigene Möglichkeit gefunden, mit den Kosenamen Brillenschlange und Blindschleiche umzugehen. Meine Frau ist sehbehindert und ohne Brille ziemlich hilflos. Ich mit meinem geringen Sehrest bin so gut wie blind. Deshalb haben wir uns ein Pärchen Pfeffer- und Salzstreuer in Form von kegelförmig geringelten Schlangen zugelegt. Die eine Schlange trägt eine Brille, die andere eine gelbe Binde mit drei schwarzen Punkten.

Ich habe auch schon gehört, dass sich manche blinde Menschen als Maulwurf bezeichnen. Sie können zwar nicht sehen, finden sich aber in ihrer Welt sehr gut zurecht.

Wenn uns wider Erwarten etwas gelingt, sagen wir vielleicht selbstironisch: „Oh, hätte ich mir gar nicht zugetraut! Ein blindes Huhn findet eben auch mal ein Korn.“ Schön und gut. Aber wenn wir diesen Spruch von jemand anderem gesagt bekommen, kann das ganz schön kränkend wirken. Also bitte erst denken, dann reden — oder es lieber bleiben lassen.

Verblüffend erscheint mir, welche Berühmtheit das harmlose Gesellschaftsspiel „Blinde Kuh“ erlangt hat. Es ist anscheinend, wenn auch in den verschiedensten Varianten, auf dem ganzen Globus bekannt und seit Jahrhunderten beliebt. Ein Spieler muss mit verbundenen Augen irgendeine Aufgabe lösen. Die anderen dürfen sich amüsieren, wie seltsam sich ihr Freund plötzlich anstellt, nur weil er gerade nicht sehen kann.

Oft bekamen die Leute zum Verdecken der Augen Tiermasken aufgesetzt. Sie sollten dann wohl gewisse Dämonen spielen, die es auszutricksen galt. Wenn heutzutage im Kindergarten „Blinde Kuh“ gespielt wird, denkt natürlich niemand mehr an böse Geister.

Aber es ist doch erstaunlich, wofür der Name „Blinde Kuh“ inzwischen herhalten muss, wie man im Internet nachlesen kann. Johann Strauß schrieb eine Operette „Blindekuh“. 1915 kam ein gleichnamiger Stummfilm heraus, und auch die Fernsehserie „Tatort“ hat eine Folge „Blindekuh“ zu verzeichnen. Wenn Sie gerne gut speisen, können Sie in Basel oder in Zürich ein Dunkelrestaurant „Blindekuh“ aufsuchen. Besonders überraschend fand ich schließlich, dass es von 1997 bis 2023 eine Suchmaschine für Kinder namens „Blinde Kuh“ gab. 

Warum eigentlich muss das blinde Tier ausgerechnet eine Kuh sein? Kühe haben doch nichts besonders Blindes an sich. Eine plausible Erklärung dafür habe ich nicht gefunden. Anscheinend ist das auch nur im deutschen Sprachraum so. Bei den Spaniern ist es ein Huhn, (Gallina Ciega), in Italien sogar nur eine Fliege (Mosca Cieca).

Das schönste Blinde-Kuh-Spiel hat, wie ich finde, Astrid Lindgren beschrieben: Die ganze Dorfgemeinde von Lönneberga ist nach Weihnachten auf den Hof Katthult zum Fest eingeladen. Die Lehrerin verdonnert die Feiernden zu einem Gesellschaftsspiel. Mit verbundenen Augen muss sich jemand eine Braut oder einen Bräutigam aus der Runde heraussuchen und seine Wahl mit einem Kuss besiegeln. Auch der Lausbub Michel kommt schließlich an die Reihe. Die Mitspieler sitzen im Kreis. Michel wird mit verbundenen Augen in die Mitte geführt. „Ich such mir eine Braut“, sagt er pflichtgemäß und muss sich einige Male um sich selbst drehen, damit er die Orientierung verliert. „Ist es die?“, wird er gefragt, während sein Gesicht auf eine Teilnehmerin zeigt. Mutig sagt er: „Ja!“ Als man ihm die Augenbinde abnimmt, merkt er, dass seine Wahl auf die Pfarrersfrau gefallen ist, die alle unsympathisch finden. Er könnte sich für einen Groschen freikaufen, aber nein, Michel klettert seiner „Braut“ auf den Schoß und küsst sie gleich achtmal. „Nur nicht knausern“, meint er. Der Außenseiterin hat er eine Riesenfreude gemacht, die ganze Runde klatscht Beifall, und Michel bekommt sogar endlich einmal ein Lob von seinem Vater.

Nun denn, mögen wir auch Blindschleichen, Maulwürfe, blinde Hühner oder blinde Kühe sein, aber haben wir nicht trotzdem einiges zu bieten, wofür uns unsere Mitmenschen schätzen? Also: Nur nicht knausern!

Zum Autor

Dr. Eberhard Hahn studierte nach seiner Schulzeit an der blista (Abi-Jahrgang 1962) an der Uni Tübingen Mathematik, wo er anschließend als wissenschaftlicher Angestellter am Zentrum für Datenverarbeitung tätig war. Anfang 2001 ging er in den Ruhestand. Seit 2009 redigiert Dr. Hahn das Informationsmagazin der IG Ruhestand im DVBS. Sein liebstes Hobby ist die klassische Musik.

Bild: Dr. Eberhard Hahn hat braune Augen und weißes Haar. Er trägt Hemd und Pullover in Blautönen und wendet sein Gesicht über der rechten Schulter den Betrachtenden zu. Foto: privat

Bild: Praktisch: Brillenschlange (li) mit hellem Köpfchen und Blindschleiche (re) mit dunklem Köpfchen als blaue Pfeffer- und Salzstreuer. Die Streulöcher sitzen an den erhobenen Hinterköpfen der kegelförmig geringelten Porzellan-Schlangen. Foto: privat

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