Von Annette Pavkovic

„Wozu braucht man heute noch Steno?“ Diese Frage taucht häufig auf, wenn Eltern in Klasse 5 das neue Fach auf der Stundentafel entdecken bzw. Lehrkräfte im Mobilen Sonderpädagogischen Dienst (MSD) das Thema Kurzschrift aufs Tapet bringen. Weist man dann darauf hin, dass Stenografie noch kürzer und sogar in einer 8-Punkt-Variante geschrieben werden könne, ist die Verwirrung in der Punktewüste erst mal komplett.

Vielleicht liegt hier ja auch schon ein Teil des Problems. Warum soll man eine Schrift lernen, die nicht mehr Buchstabe für Buchstabe erschließt. Dazu muss das Konzept Buchstabe, Silbe, Wort verinnerlicht worden sein. Hierzu sei angemerkt, dass mir in den letzten Jahren immer mehr geburtsblinde Schüler begegnen, die auch in den oberen Klassen der Grundschulstufe noch Buchstaben „spiegeln“, also beispielsweise Probleme mit d, f, h und j haben oder e und i vertauschen. Auf ein derartiges Fundament kann man keine Silbenkürzungen aufbauen, da sich die Verwechslungsgefahr ja quasi potenziert. 

Und genau hier trennt sich die Spreu vom Weizen! Das meine ich völlig unabhängig von Bildungsgrad oder Schulabschluss. Effektives Lesen der Kurzschrift setzt sicheren Umgang mit der Sprache voraus. Ich hatte immer wieder Schüler mit psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie, bei denen sich der Wortschatz und damit auch die Lesefähigkeit der Kurzschrift in oder nach der Pubertät rapide verschlechterte.

Für gute Braille-Leser ist die Kurzschrift dagegen eine große Chance, mit weniger Punkten mehr Text unter die Finger zu bekommen und rascher decodieren zu können, was das Lesetempo erheblich steigert. Dies gilt gleichermaßen für Texte in gedruckter und elektronischer Form. Den wissenschaftlichen Beweis hierzu lieferte die Studie zur Zukunft der Brailleschrift (ZuBra).

Während allerdings die Kurzschrift in den Stundentafeln von Mittel- und Realschule an Förderzentren mit 2 (MS) und 1 (RS) Wochenstunden einen festen Platz einnimmt, gestaltet sich die Vermittlung bei inklusiv beschulten Kindern und Jugendlichen häufig schwieriger, da MSD-Lehrkräfte meist nicht so regelmäßig vor Ort sein können, um ein sicheres kontinuierliches Üben zu ermöglichen. Hier können unterstützende Online-Kurse eine gute Hilfe sein. Allerdings ist in Zeiten auditiver Medien die Notwendigkeit des selbständigen Lesens häufig nur schwer zu vermitteln. Das Hauptargument früherer Generationen (Papierersparnis) greift heute kaum mehr. Schon die Autorin der „Kurzschriftfibel“ von 1986, Blindenoberlehrerin Dorothea Lutter, meinte 1972 auf einer Tagung des Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbundes: „Die Kurzschrift ist keine Jedermann-Schrift.“

„Prognosen sind besonders dann schwierig, wenn sie die Zukunft betreffen“, lautet ein dem Komiker Karl Valentin zugeschriebenes Bonmot. Mittelfristig hat die Kurzschrift nach meinem Dafürhalten eine Zukunft als Leseschrift vor sich und ist in geschriebener Form höchstens zur digitalen Rückübersetzung interessant, was aufgrund der Komplexität der Systematik bisher aber noch fehleranfällig ist. Auch dieser Weg ist sicherlich nur für einen Teil der Braillelesenden praktikabel, was aber noch lange nicht bedeuten muss, dass die Kurzschrift ausstirbt. Sie findet nur immer wieder neue Nischen, jedenfalls hoffe ich das!

Zur Autorin

Annette Pavkovic (46) ist Lehrerin am Sehbehinderten- und Blindenzentrum Unterschleißheim (www.sbz.de) und Geschäftsführerin des Blindenschrift-Verlags und -Druckerei „Pauline von Mallinckrodt“ gGmbH Bonn (www.pader-braille.de). Außerdem ist sie Mitglied des Leitungsteams der AG Braille im Verband für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik e.V.

Bild: Annette Pavkovic hat dunkle Augen und dunkles, kurzes Haar und lächelt. Sie trägt einen dunkelblauen Pullover mit Musterpasse am Ausschnitt sowie eine kleine goldfarbene Kette mit Kreuzanhänger. Foto: privat

Wonach suchen Sie?