Von Karina Schaude

Mobbing ist ein großes Problem in der Gesellschaft und fast jeder oder jede ist mit diesem Phänomen schon einmal in Berührung gekommen. Auch umgangssprachlich wird dieser Begriff immer wieder verwendet, wenn z.B. Spannungen in der Schule oder am Arbeitsplatz aufkommen. Formal betrachtet handelt es sich bei Mobbing aber um ein sehr ernstzunehmendes, destruktives Verhalten. Laut Dan Olweus (1993), einem der führenden Forscher in diesem Bereich, wird eine Person gemobbt, wenn sie über einen längeren Zeitraum hinweg negativen Handlungen einer oder mehrerer anderer Personen schutzlos ausgesetzt ist. Diese negativen Handlungen stellen Formen von Gewalt dar z.B. durch Schlagen, Treten oder das Zerstören von Eigentum (physisches Mobbing). Doch auch psychische Formen des Mobbings wie z.B. Hänseleien oder das Verbreiten von Gerüchten gehören dazu, ebenso wie indirekte Formen, etwa die vorsätzliche Ausgrenzung aus sozialen Gruppen. Wichtig ist außerdem, dass ein Ungleichgewicht der Macht zwischen Täter und Opfer bestehen muss, sodass keine Möglichkeit zur Gegenwehr besteht.

Risikofaktoren, die Mobbing begünstigen

Mobbing hat also viele Gesichter und geht weit über einen einmaligen Streit auf dem Pausenhof hinaus. Den einen spezifischen Auslöser, warum eine Person zum Mobbing-Opfer wird, gibt es jedoch nicht. Trotzdem konnten bereits einige Risikofaktoren identifiziert werden, die es besonders wahrscheinlich machen als Opfer von Viktimisierung ausgewählt zu werden. Zu diesen Faktoren zählen unter anderem die Hautfarbe, die Religionszugehörigkeit oder die sexuelle Orientierung, aber auch eine Sehbeeinträchtigung oder eine sonstige psychische, kognitive oder motorische Behinderung (Vanderbilt & Augustyn, 2010; Pittet et al. 2010).

Die Fragestellung meiner Studie

Aus persönlichen Beobachtungen meiner eigenen Schulzeit habe ich erlebt, dass Mobbing auch an Sonderschulen durchaus vorkommt, und auch viele meiner damaligen Mitschüler aus der Inklusion berichteten davon. Jedoch waren nicht alle von ihnen von Mobbing betroffen, und auch in der Forschung gibt es bisher keine eindeutigen Befunde darüber, warum manche Menschen mit Sehbehinderung oder Blindheit Mobbing in der Schule erleben, andere aber davon verschont bleiben. Dieser Frage wollte ich im Rahmen meiner Masterarbeit auf den Grund gehen.

Aus einer Studie von Baldry und Farrington (2005) ist bekannt, dass bestimmte Arten der Stressverarbeitung (auch Coping genannt) einen Einfluss darauf haben, ob und wie häufig Kinder Mobbing erfahren, wenn sie in einem konfliktbehafteten Elternhaus aufwachsen. Konflikte zwischen den Eltern stellen ebenfalls einen Risikofaktor von Mobbing dar, und ich wollte wissen, ob sich diese Ergebnisse auch auf den Risikofaktor der Sehbehinderung übertragen lassen. Ich wollte außerdem prüfen, ob eine zusätzliche Behinderung zu mehr Mobbing führt, wie es bereits in verschiedenen Studien zuvor nachgewiesen wurde (z.B. Brunes et al., 2018). Meine Hypothesen waren also:

  1. Personen, die eine zusätzliche Behinderung angeben, haben eine höhere Mobbing-Häufigkeit als Personen, die keine zusätzliche Behinderung angeben
  2. Personen, die häufig Problemlöseorientiertes Coping nutzen (wenn sie Stress und Probleme direkt und lösungsorientiert angehen und sich bei Bedarf Unterstützung suchen), erfahren weniger Mobbing verglichen mit Personen, die diese Copingstrategie wenig nutzen
  3. Personen, die häufig Emotionsorientiertes Coping nutzen (wenn sie Stress z.B. durch Wut, Traurigkeit oder andere Gefühlsausbrüche regulieren), erfahren auch öfter Mobbing verglichen mit Personen, die diese Copingstrategie wenig nutzen

Um mögliche Zusammenhänge von Mobbing und verschiedenen Copingstrategien bei Menschen mit Sehbeeinträchtigung zu untersuchen, erstellte ich einen Onlinefragebogen aus dem Retrospective Bullying Questionaire von Schäfer et al. (2004) und dem Coping-Inventar zum Umgang mit Stresssituationen (CISS) von Kälin und Semmer (2020). Es wurden die Mobbingerfahrungen während der Schulzeit erfasst, wie die Testpersonen im Alltag generell mit stressigen Situationen umgehen und ob sie zusätzlich zu ihrer Sehbeeinträchtigung noch eine weitere Beeinträchtigung oder Erkrankung haben. An der Studie nahmen 32 blinde und sehbehinderte Versuchspersonen im Alter zwischen 18 und 61 Jahren aus ganz Deutschland teil. Da die Studie mit Hilfe eines Onlinefragebogens stattfand, konnten die Versuchspersonen das Testmaterial barrierefrei und von zu Hause aus bearbeiten.

Ergebnisse

Meine Studie konnte zeigen, dass Personen mit zusätzlichen Beeinträchtigungen zu ihrer Sehbeeinträchtigung tatsächlich signifikant häufiger von Mobbing betroffen waren. Ein Zusammenhang von problemlöseorientiertem Coping und der Häufigkeit des Mobbings bestand jedoch nicht. Versuchspersonen mit niedrigen Werten für diese Art von Coping suchten in einer Mobbingsituation aber trotzdem oft soziale Unterstützung. Es konnte ein positiver Zusammenhang von Emotionsorientiertem Coping und der Mobbing-Häufigkeit gezeigt werden. Das bedeutet, dass Personen, die eher auf emotionale Weise mit Stress umgehen, auch nachgewiesen häufiger von Mobbing berichtet haben. Die Versuchspersonen hatten außerdem die Möglichkeit anzugeben, was ihrer Meinung nach der Grund für das Mobbing war. Hier wurde besonders oft die Sehbehinderung als Grund genannt. Die Probanden machten also ihre Beeinträchtigung für das Mobbing verantwortlich. Außerdem konnten keine signifikanten Geschlechterunterschiede nachgewiesen werden. Es war also egal, ob die Probanden Frauen oder Männer waren, das Geschlecht war nicht ausschlaggebend dafür, dass eine Versuchsperson Mobbing erfahren hatte.

Was die Ergebnisse bedeuten

Dass eine problemlöseorientierte Art der Stressverarbeitung vor Mobbing schützt, konnte ich in meiner Studie also leider nicht herausfinden, denn meine Ergebnisse dazu, dass ein solcher Umgang mit Stress zu weniger Mobbing geführt hat, wurden leider nicht bestätigt. Ein Grund dafür könnte die sehr kleine Stichprobe gewesen sein. Deshalb wird hier weitere Forschung mit mehr Versuchspersonen nötig sein, um präzisere Ergebnisse zu erhalten. Meine beiden anderen Hypothesen konnte ich jedoch bestätigen. Wie lassen sich diese Ergebnisse erklären?

Einen möglichen Erklärungsansatz dafür, warum Menschen mit zusätzlicher Beeinträchtigung häufiger von Viktimisierung betroffen sind, liefert die Social-Misfit-Hypothese von Wright et al. (1986). Laut dieser Theorie legen soziale Gruppen selbst fest, welches Verhalten innerhalb der Gruppe als akzeptabel angesehen wird und welches nicht. Welche Verhaltensweisen von einer Gruppe akzeptiert werden, ist also sehr selektiv. Deshalb ist es wahrscheinlich, dass jemand, der sich z.B. aufgrund einer Behinderung nicht so leicht an die Gruppe anpassen kann, von den anderen Gruppenmitgliedern als nicht passend zu den Normen der Gruppe gebrandmarkt wird. Das macht Mobbing dann ebenfalls um einiges wahrscheinlicher. 

Dass auch Schülerinnen und Schüler eigene soziale Regeln in der Schule etablieren, konnte bereits in einer Studie von Cranham und Carroll (2003) gezeigt werden, somit könnte die Social-Misfit-Hypothese auch einen überzeugenden Ansatz dazu liefern, warum Mobbing auch an Sonderschulen ein Problem ist. Nämlich, weil auch hier Menschen aufeinandertreffen, von denen manche mehr Beeinträchtigungen haben und deshalb die Gefahr besteht, dass auch sie als nicht passend zur etablierten Gruppennorm wahrgenommen werden.

Warum sind nun Menschen mit emotionsorientierten Copingstrategien häufiger von Mobbing betroffen? Wie weiter oben bereits kurz erwähnt, haben Versuchspersonen, die diese Art der Stressverarbeitung besonders häufig genutzt haben, auch angegeben, dass sie in einer Mobbingsituation trotzdem oft soziale Unterstützung aufsuchten, z.B. bei der Familie, Freunden oder Lehrerinnen und Lehrern. Das lässt darauf schließen, dass sie zunächst versucht haben, aktiv und lösungsorientiert etwas an ihrer Situation zu ändern (was wiederum ja eigentlich zur zweiten Copingstrategie gehört). Vermutlich haben die Personen also eher unzureichende Unterstützung auf diese Hilfegesuche erfahren und so die sogenannte erlernte Hilflosigkeit entwickelt. Die Theorie der erlernten Hilflosigkeit geht auf Seligman (1972) zurück und beschreibt, dass Individuen, die sich zunächst nicht aus einer negativen Situation befreien können oder keine Hilfe erhalten, irgendwann resignieren, selbst wenn ihnen zu einem späteren Zeitpunkt Unterstützung angeboten wird. Das bedeutet für die Testergebnisse also, dass sich die Copingstrategie ggf. aufgrund des Mobbings verändert hat und durch die erlernte Hilflosigkeit emotionsorientiertes Coping letztendlich das einzige Mittel war, das die Betroffenen zu ihrer Verfügung hatten. Es ist also wahrscheinlich, dass emotionsorientiertes Coping nicht allein die Mobbing-Häufigkeit bestimmt, sondern, dass die Mobbing-Häufigkeit gleichermaßen auch das emotionsorientierte Coping beeinflusst und verstärkt. Beide Phänomene könnten also miteinander in Wechselwirkung stehen. Um das genauer zu untersuchen, ist jedoch noch weitere Forschung nötig.

Fazit

Fest steht, dass Mobbing auch unter Menschen mit Sehbeeinträchtigung ein verbreitetes Phänomen ist, das durch die oben genannten Faktoren begünstigt wird. Deshalb ist es in der Praxis umso wichtiger, Anzeichen und Sorgen zu diesem Thema ernst zu nehmen und diese nicht einfach abzutun. Ein Klima der Toleranz und das Wissen um Phänomene wie des Social-Misfit können dabei helfen, Mobbing keinen Raum in der Schule oder am Arbeitsplatz zu geben. Präventionsprogramme gegen Mobbing sind außerdem sehr effektiv und tragen - wenn sie effektiv etabliert werden - sehr zur Reduktion von Mobbing bei. Das wiederum hilft, um betroffene Personengruppen bestmöglich vor Viktimisierung zu schützen.

Zur Autorin

Karina Schaude ist Schulpsychologin an der Nikolauspflege Stuttgart und hat bis Februar 2022 Psychologie an der Universität Tübingen studiert. Da sie selbst eine Sehbeeinträchtigung hat, ist sie an Forschungsfragen für diese Zielgruppe sehr interessiert und hat daher ihre Abschlussarbeit in diesem Themenbereich verfasst. Bei ihrer Tätigkeit an der Nikolauspflege unterstützt und schult sie Schülerinnen und Schüler sowie Mitarbeitende, unter anderem bei Themen der Behinderungsbewältigung und anderen psychologischen Belangen.

Bild: Freitagvormittag in der blista-Aula: Karina Schaude hält ihren Vortrag zum Thema „Mobbing bei Menschen mit Sehbeeinträchtigung: schützen Coping-Strategien?“ Die Folie „Theoretischer Hintergrund“ wird groß auf eine Leinwand projiziert, im Vordergrund sitzen Zuhörer*innen. Foto: blista

Bild: Karina Schaude lächelt. Sie hat rotes, fast kinnlanges Haar und trägt auf der Außenaufnahme eine große, dunkel getönte Brille und einen Langstock. Foto: privat 

Literatur

Baldry, A. C., & Farrington, D. P. (2005). Protective factors as moderators of risk factors in adolescence bullying. Social Psychology of Education, 8(3), 263-284. doi.org/10.1007/s11218-005-5866-5

Brunes, A., Nielsen, M. B., & Heir, T. (2018). Bullying among people with visual impairment: prevalence, associated factors and relationship to self-efficacy and life satisfaction. World journal of psychiatry, 8(1), 43-50. doi.org/10.5498/wjp.v8.i1.43

Cranham, J., Carroll, A. (2003). Dynamics within the Bully/Victim Paradigm: a qualitative analysis. Educational Psychology in Practice, 19, 113-132.

Kälin, W., & Semmer, N. (2020). CISS: Coping-Inventar zum Umgang mit Stress-Situationen. Deutschsprachige Adaptation des Coping Inventory for Stressful Situations (CISS) von Norman S. Endler und James D. A. Parker. Bern: Hogrefe

Olweus, D. (1993). Bullying at school: What we know and what we can do. Malden, MA: BlackwellPublishers

Pinquart, M. (2017). Systematic Review: Bullying Involvement of Children With and Without Chronic Physical Illness and/or Physical/Sensory Disability – A Meta-Analytic Comparison With Healthy Nondisabled Peers. Journal of Pediatric Psychology, 42(3), 245-259.

Pittet, I., Berchtold, A., Akré, C., Michaud, P.-A., & Suris, J.-C. (2010). Are adolescents with chronic conditions particularly at risk for bullying? Arch Dis Child, 95, 711–716. doi.org/10.1136/adc.2008.146571

Schäfer, M., Korn, S., Smith, P. K., Hunter, S. C., Mora-Merchán, J. A., Singer, M. M., et al. (2004). Lonely in the crowd: Recollections of bullying. British Journal of Developmental Psychology, 22, 379–394.

Seligman, M. E. (1972). Learned helplessness. Annual review of medicine, 23(1), 407-412.

Vanderbilt, D., & Augustyn, M. (2010). The effects of bullying. Paediatrics and child health, 20(7), 315-320.

Wright, J. C., Giammarino, M., & Parad, H. W. (1986). Social status in small groups: Individual-group similarity and the social "misfit". Journal of Personality and Social Psychology, 50(3), 523- 536. https://doi.org/10.1037/0022-3514.50.3.523

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