Von Barbara Levc
Einleitung
Behinderung, Geschlecht, Hautfarbe, ethnische bzw. kulturelle Zugehörigkeit, sozialökonomische Herkunft und sexuelle Orientierung werden oftmals als gesonderte Kategorien von Diversität dargestellt. Im Leben vieler Menschen wirken jedoch mehrere Zugehörigkeiten zu diesen Kategorien zusammen. Insbesondere benachteiligende Zuordnungen können einander bedingen oder verstärken. Menschen mit Sehbehinderung oder Blindheit leben und erleben in einer diversen Gesellschaft ebenso intersektionelle Zugehörigkeiten, die sich nicht selten in mehrfacher Benachteiligung auswirken. Da aber die Sehbehinderung oder Blindheit oftmals als primäre Eigenschaft wahrgenommen wird, besteht die Tendenz, weitere Diversitätsaspekte und deren Auswirkungen nicht oder nicht ausreichend wahrzunehmen, da deren Folgen der Behinderung zugeschrieben werden. Im Folgenden werden die Diversitätsbereiche Geschlecht, sozialökonomische Herkunft und Flucht- bzw. Migrationshintergrund im Zusammenhang mit Behinderung genauer betrachtet.
Begriffsklärung
Der Begriff Intersektionalität stammt von der US-amerikanischen Rechtswissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw (1989), die in Bezug auf Diskriminierungserfahrungen schwarzer Frauen das Bild einer Straßenkreuzung (engl. Intersection) verwendet: Auf jeder der zur Kreuzung führenden Straßen, die hier für Geschlecht und Hautfarbe stehen, kann ein Unfall im Sinne von Diskriminierung passieren, am größten ist die Gefahr aber im Kreuzungsbereich. Das bedeutet, dass aus dem Zusammenwirken mehrerer Diversitätsaspekte spezifische Benachteiligungen oder Probleme entstehen, die nicht mit einem der vorhandenen Aspekte allein erklärt werden können (Kerner, 2010, 312).
Behinderungsaspekte im Zusammenhang mit Intersektionalität
Fügt man nun in das Bild der Straßenkreuzung Behinderung als eine „Straße“ ein, so wird diese meist als „Hauptstraße“ wahrgenommen, die sich mit unbedeutenden „Nebenwegen“ schneidet. Tatsächlich stellen diese vermeintlichen Nebenwege aber eine deutliche Unfall/Diskriminierungsgefährdung dar.
Geschlecht
Ich bin mit Blindenlangstock in der einen und einem vollen Einkaufskorb in der anderen Hand kurz vor meiner Haustür. Plötzlich umfassen zwei Hände von hinten meine Taille. Ich drehe mich sehr energisch aus diesem Griff, und bekomme von dem Mann zu hören, dass er nur verhindern wollte, dass ich über eine Schwelle stolpere. Es erübrigt sich, hier alle anderen Möglichkeiten aufzuzählen, wie ich hätte gewarnt werden können, sofern die Gefahr überhaupt bestanden hat. Der Zusammenhang ist klar: Ein sexistischer Übergriff wird als Hilfeleistung verharmlost. Solche und oftmals viel drastischere Erfahrungen machen viele Frauen mit Behinderungen und wurden auch im Rahmen des Workshops beim VBS-Kongress 2023 mehrfach berichtet.
Während das Geschlecht allgemein in sozialen Situationen eine zentrale Rolle spielt, wird es bei Menschen mit Behinderung häufig ausgeblendet und die Behinderung zum alles dominierenden Merkmal stilisiert. Mädchen und Frauen mit Behinderung sind oft mit ambivalenten Erwartungen und Verhaltensweisen der Umwelt konfrontiert: Einerseits werden sog. weibliche Tugenden – Freundlichkeit, Geduld, sich zurücknehmen usw. – von ihnen erwartet, gleichzeitig wird die Betonung von Weiblichkeit im Aussehen vom Umfeld abgelehnt und es wird vermittelt, dass sie nie „ganz Frau“ sein werden. Diese gesellschaftliche quasi Neutralisierung in Verbindung mit erwarteter Wehrlosigkeit und der Tatsache, in bestimmten Situationen auf Hilfe angewiesen zu sein, führt dazu, dass Frauen mit Behinderung zwei bis drei Mal häufiger von Gewalt betroffen sind als Frauen ohne Behinderung.
Bei Mädchen und Frauen mit Sehbehinderung oder Blindheit stellt die eingeschränkte Kontrolle über das eigene Aussehen und damit der Eindruck, der in einer optisch orientierten Umwelt gesetzt wird, eine spezifische Problematik dar: Eine Mitarbeiterin in der Berufseingliederung berichtete von deutlichen Unterschieden in der Unterstützung von jungen Männern und Frauen durch das familiäre Umfeld – vornehmlich der Mütter – in diesem Bereich. Während junge Männer immer attraktiv gekleidet zu Terminen erscheinen, muss sie bei jungen Frauen immer wieder eingreifen, damit die Kleidung – z.B. für einen Vorstellungstermin - altersgemäß und passend ist. Hier wirken geschlechtsspezifische Rollenerwartungen mit Behinderungsstereotypien zusammen. Mit einer beruflichen Karriere und einer „fürsorglichen“ sehenden Partnerin entsprechen Männer mit Sehbehinderung oder Blindheit dem männlichen Rollenbild. Im Gegensatz dazu wird die erwartete weibliche Rolle in Partnerschaft und Familie Frauen mit Behinderung abgesprochen, gleichzeitig aber die Vorstellung der untergeordneten Bedeutung einer beruflichen Karriere für Frauen aufrechterhalten.
Die intersektionelle Benachteiligung von Frauen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland wurde 2021 durch eine Studie des SINUS-Institutes im Auftrag der Aktion Mensch deutlich: Nur 48% aller Frauen mit Behinderung sind berufstätig. Frauen mit Behinderung erhalten im Gruppenvergleich mit Frauen ohne Behinderung sowie Männern mit Behinderung den niedrigsten Lohn. Ihr monatliches Einkommen ist durchschnittlich um € 667,- geringer als das von Männern mit Behinderung. Frauen arbeiten generell häufiger in Teilzeit als Männer. Mit 37% weisen Frauen mit Behinderung den höchsten Anteil an Teilzeitarbeit der verglichenen Gruppen auf (SINUS-Institut 2021).
Daraus folgt, dass Frauen mit Behinderung ein besonders hohes Armutsrisiko haben.
In Österreich sind die Werte in etwa gleich, und hier hat die geringere Erwerbsbeteiligung von Frauen mit Behinderung auch Auswirkungen auf den Zugang zu Rehabilitationsmaßnahmen und Hilfsmitteln, der teilweise an die Berufstätigkeit gebunden ist.
Sozial-ökonomischer Status
So fügt sich dem Bild der Kreuzung eine zusätzliche Straße hinzu – der sozialökonomische Status.
Zahlen aus Österreich bestätigen Behinderung als Faktor für sozialökonomische Benachteiligung:
Das durchschnittliche Einkommen eines Haushaltes mit einem Mitglied mit Behinderung liegt inklusive behinderungsbezogener Sozialleistungen 12% unter dem allgemeinen durchschnittlichen Haushaltseinkommen. 19% aller Menschen mit Behinderung sind armutsgefährdet, d.h. ihr Haushaltseinkommen liegt mehr als 60% unter dem Einkommen eines Haushaltes gleicher Größe.
Umgekehrt gibt es einen nachweislichen Zusammenhang zwischen sozialökonomischer Benachteiligung und dem gehäuften Auftreten von Behinderungen bei Kindern. So kamen z.B. laut einer Erhebung bei der Einschulung im Bundesland Brandenburg 1998 Kinder mit hoher Behinderungsgefährdung zehn Mal häufiger, Kinder mit zerebralen Bewegungsbeeinträchtigungen drei Mal häufiger aus Familien mit niedrigem sozialökonomischen Status.
Die Gründe dafür sind vielfältig und beginnen oft schon vor der Geburt: Schlechterer Zugang zu medizinischer Versorgung führt zu häufigeren Frühgeburten, Komplikationen vor, während oder nach der Geburt und einem generell geringeren Geburtsgewicht bei Kindern. Weiters besteht die Gefahr, dass sich gesundheitliche Probleme aufgrund schlechterer Versorgung manifestieren und zu dauerhaften Beeinträchtigungen werden oder bei vorhandenen Behinderungen keine adäquate Versorgung und Förderung in der frühen Kindheit verfügbar ist. Die dauernde Belastung, der Eltern in unsicheren sozialökonomischen Verhältnissen ausgesetzt sind, führt häufig dazu, dass neben dem materiellen Mangel auch die emotionalen Ressourcen für kindliche Bedürfnisse fehlen, was wiederum zu psychischen und Verhaltensproblemen der Kinder führt.
Flucht- und Migrationshintergrund
Und nun kreuzt eine weitere Straße unser Bild. Familien mit Flucht- oder Migrationshintergrund sind überdurchschnittlich häufig von Armut bzw. sozialökonomischer Benachteiligung betroffen. Lebt nun z.B. ein Kind mit Sehbehinderung oder Blindheit in einer betroffenen Familie oder eine Person mit Sehbeeinträchtigung flüchtet nach Deutschland oder Österreich, so ergeben sich noch zusätzliche potenziell benachteiligende Faktoren:
Sprachliche Barrieren in der Kommunikation mit Medizin, Behörden, Institutionen, Pädagog*innen führen zu Verunsicherung und fehlenden Informationen über Angebote und Möglichkeiten der Unterstützung. Ein unsicherer Aufenthaltsstatus schränkt den Zugang zu behinderungsbezogenen Unterstützungsleistungen ein, und offener oder indirekter Rassismus bei Behörden und Institutionen bewirkt eine generelle Scheu, sich an diese zu wenden.
Vorurteile und Stereotype insbesondere gegenüber Menschen muslimischer Religionszugehörigkeit werden auch gegenüber Menschen mit Behinderung bzw. deren Angehörigen wirksam. Im Bereich der Behindertenhilfe und Sonderpädagogik wird stark auf kulturelle Differenzen zwischen zugewanderten und „alteingesessenen“ Familien fokussiert und hier wiederum besonders auf eine angeblich spezifische (negative) Haltung zu Behinderung in der muslimischen Religion.
Dieses Othering bewirkt, dass die Tatsache, dass Menschen mit Behinderung und Migrationshintergrund bzw. deren Familien Unterstützungsleistungen weniger in Anspruch nehmen oder im pädagogischen Setting nicht erwartungskonform kooperieren, allein mit deren ethnisch-kulturellem Hintergrund begründet wird. Es wird die Vorstellung einer quasi Selbstdiskriminierung konstruiert, die den Betroffenen die Verantwortung zuschiebt und strukturelle und institutionelle Barrieren ausblendet (Amirpur, 2015).
Diese und andere Faktoren führen zu vielfältigen Benachteiligungen von Menschen mit Behinderung und Migrationshintergrund:
In Deutschland wurden nach einer Erhebung 2014 Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf und Migrationshintergrund bis zu vier Mal häufiger in Förderschulen (Sonderschulen) verwiesen als Kinder mit SPF ohne Migrationshintergrund. Letztere profitieren überwiegend von der Inklusion, während Schüler*innen mit SPF und Migrationshintergrund mehrheitlich zu den Bildungsverlierer*innen zählen.
Umgekehrt erhalten wesentlich weniger Personen mit Behinderung und Migrationshintergrund den Status schwerbehindert und die damit verbundenen Förderungen. (Jochmaring, 2016)
Fazit
Die lebhafte Diskussion der hier beschriebenen und anderer Faktoren intersektioneller Benachteiligung von Menschen mit Sehbehinderung oder Blindheit im Workshop beim VBS-Kongress 2023 machte deutlich, dass eine Sensibilisierung und Bewusstseinsbildung für diese Themen für alle im Feld beruflich tätigen Personen wichtig und hilfreich ist. Gleichzeitig müssen vor allem junge Menschen mit Sehbehinderung oder Blindheit dabei unterstützt werden, ihre Position und Betroffenheit im gesamten Diversitätsspektrum zu reflektieren, damit sie Erfahrungen entsprechend einordnen und selbstbewusst in der Gesellschaft vertreten können, dass sie viel mehr sind als „nur behindert“.
Zur Autorin
Barbara Levc lebt und arbeitet in Graz (Österreich) und unterrichtet hier an der Pädagogischen Hochschule Steiermark die Themen Diversität und Inklusion sowie im Fach Inklusive Pädagogik zu Themen im Bereich Sehbehinderung/Blindheit. Außerdem leitet sie an der Universität Graz die Servicestelle für Studierende mit Behinderung. Sie hat auch selbst in Graz Erziehungswissenschaft studiert und sich bereits in ihrer Diplomarbeit mit einem intersektionellen Thema beschäftigt, und diesem Feld gilt auch heute noch ihr Hauptinteresse.
Bild: Portraitfoto von Barbara Levc im Freien. Sie hat langes dunkles Haar, dunkle Augen und lacht freundlich. Zum türkisfarbenen Shirt trägt sie eine helle Jacke und eine Halskette. Foto: privat