Von Vivian Aldridge

Für Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung ist der Zugang zu Dokumenten, Webseiten und Anwendungen am Computer und Smartphone ein Dauerbrenner. In dieser Situation sind Braillelesende oft um alles froh, was ihnen auf Papier oder an der Braillezeile in Punkten angeboten wird.

Aber was, wenn die Brailleschrift den Text gar nicht eindeutig wiedergeben kann?

Ein Name ohne Kopf

Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten auf einem Gemeindeamt, das Personaldaten bearbeitet. Dort müssen Sie eine Anpassung der Daten einer gewissen Person mit rumänischem Pass vornehmen. Den Vornamen lesen Sie mit Ihrem Screenreader – sagen wir mit JAWS oder NVDA –, der Ihnen alles über die Sprachausgabe vorliest und an der Braillezeile in Computerbraille anzeigt. Oder doch nicht alles? Der Vorname kommt Ihnen komisch vor: „tefan“ mit kleinem t! Sie gehen auf die Stelle vor dem t und können schon feststellen, dass dort etwas steht. Aber was? Das wird Ihnen weder über die Ohren noch über die Finger verraten. Auf der Braillezeile steht eine Lücke (bei JAWS) bzw. eine kryptische Zeichenfolge (bei NVDA). Eine sehende Kollegin lüftet das Geheimnis: Es steht zwar ein großes S, aber darunter ist ein Komma. Zumindest für Rumänischkundige wird damit klar, wie das S ausgesprochen wird. Ihnen geht es aber nicht um die Aussprache, sondern um die richtige Schreibweise.

Gemäß EU-Vorschriften müssen Behörden alle Namen so verarbeiten und speichern, dass die Daten in der ganzen EU austauschbar sind. Daher muss man in Deutschland auch mit rumänischen Buchstaben umgehen können. 

Hier ein Beispiel andersherum: Eine gewisse Anna Strauß lebt nun in Spanien. Die dortigen Behörden wollen wissen, welche Sozialversicherungsbeiträge in Deutschland entrichtet wurden und in Spanien anerkannt werden müssen. ß kommt in keiner anderen europäischen Amtssprache vor. Auf den spanischen Tastaturen gibt es kein ß, und die meisten Deutschunkundigen könnten den Buchstaben sogar für ein großes B halten. Man könnte zwar auf die Idee kommen, „Strauss“ zu schreiben. Aber wenn in der spanischen Anfrage „Strauss“ – oder erst recht „StrauB“ mit großem B – steht, wird es schwierig. Es ist also wichtig, dass auch in spanischen Amtsstuben mit dem ß umgegangen werden kann.

Keine Punkte mehr vorrätig

Aber zurück zu unserem „tefan“ mit der vermeintlichen Lücke vor dem t. Nur die wenigsten Nutzerinnen und Nutzer von Screenreadern in Deutschland werden Rumänisch lesen können. Daher fehlt bei der Standardinstallation für Deutsch die Wiedergabe des Buchstaben S mit Komma darunter mittels Sprachausgabe und Brailleschrift. Technisch ließe sich dies einpflegen. Bei der Brailleschrift kommt aber jetzt die schwierige Frage: Welche Punktkombination soll für diesen Buchstaben stehen?

Das Problem liegt darin begründet, dass alle möglichen Braillezeichen schon belegt sind. An der Braillezeile liest man Computerbraille. Dessen Zeichen bestehen nicht aus Kombinationen aus 6, sondern aus 8 Punkten. So sind 256 verschiedene Zeichen möglich. Bei den Standardinstallationen der Screenreader werden diese für etwa tausend Zeichen am Bildschirm verwendet. Deswegen müssen viele Punktkombinationen für mehr als ein Bildschirmzeichen herhalten. Der Spitzenreiter in JAWS ist ein Braillezeichen, das für mehr als 15 Bildschirmzeichen stehen kann!

Das heißt aber, dass wir für S mit Komma kein freies Braillezeichen finden werden. Wir könnten es zwar als weitere Bedeutung eines bestehenden Braillezeichens zulassen. Nur wissen wir dann beim Lesen immer noch nicht, welches der Bildschirmzeichen gemeint ist. Dasselbe gilt schon jetzt für viele Buchstaben aus anderen Alphabeten. Mit denselben Punkten wie ein Ü kann auch ein griechisches Ypsilon mit Akzent, ein kyrillisches yu, ein h mit Akzent aus Esperanto oder sogar ein aserbaidschanischer Buchstabe wiedergegeben werden. Warum gerade aus dieser Gegend und nicht Rumänien? Zufall? Vielleicht. Auf jeden Fall ginge es auf dem Passamt filmreif zu, wenn plötzlich bulgarische Namen aus griechischen Buchstaben bestünden. Das darf einfach nicht sein.

Ein Fall für das BSKDL

Für wen? Für das BSKDL, das Brailleschriftkomitee der deutschsprachigen Länder. Dieses kleine Gremium regelt hierzulande die Brailleschrift. Es überlegt sich, wie dies und jenes geschrieben werden kann: Nicht nur Wörter, sondern auch mathematische oder chemische Formeln, neue Symbole oder was auch immer. Im BSKDL sind Organisationen der Braillenutzenden, der Brailleproduzierenden und der Brailleunterrichtenden Deutschlands, Österreichs und der Schweiz vertreten.

Aus dem Kreis der Verantwortlichen für die Umsetzung der EU-Vorschriften zur Verarbeitung von Personalien in Deutschland kam eine Anfrage an das BSKDL: Kann das deutsche Computerbraille alle vorgeschriebenen Zeichen eindeutig erkennbar wiedergeben? Natürlich nicht! Daher hat das BSKDL die Anfrage als Auftrag aufgefasst, etwas daran zu ändern.

Im Kern vertraut, am Rand ungewohnt

Die Herausforderung war es, die mehr als tausend vorgegebenen Buchstaben und Zeichen mit nur 256 Punktkombinationen wiederzugeben – und zwar so, dass keine zwei gleich dargestellt werden. Und nicht nur die Bildschirmzeichen aus der EU-Vorschrift, sondern auch diejenigen, die von Screenreadern schon berücksichtigt werden. Darüber hinaus sollte es systematisch aufgebaut sein, um das Erlernen zu erleichtern.

Das BSKDL entschied sich dafür, alle Darstellungen aus den oberen sechs Punkten so zu belassen, wie sie aus dem deutschen Computerbraille vertraut sind. Das sind die kleinen Grundbuchstaben, die Ziffern und die wichtigsten Satzzeichen. Auch die großen Grundbuchstaben und die Kleinbuchstaben ä, ö und ü sollten in bekannter Form daherkommen. Abweichungen gibt es aber schon bei Computerbraille-Darstellungen, die von vielen als willkürlich empfunden werden, etwa die Großbuchstaben Ä, Ö und Ü, das ß sowie die „deutschen“ Anführungszeichen.

Am offensichtlichsten sind die Abweichungen bei Buchstaben mit Akzenten (Diakritiken) und bei Buchstaben aus fremden Alphabeten. Durch das Voranstellen von speziellen Braillezeichen für verschiedene Fremdalphabete wird zum Beispiel gezeigt, ob ein Buchstabe aus dem griechischen, dem kyrillischen oder dem hebräischen Alphabet stammt.

Bei den Akzentbuchstaben ist ebenfalls ein Paradigmenwechsel zu verzeichnen. Die Punktedarstellung besteht nunmehr jeweils aus dem Grundbuchstaben gefolgt von zwei weiteren Braillezeichen: das erste der beiden gibt lediglich an, dass es sich beim nächsten Zeichen um einen Akzent handelt; das zweite ist der Akzent selbst. Diese Reihenfolge ist in der Brailleschrift ungewöhnlich, stimmt aber mit der internen Computerdarstellung überein und ist daher technisch gut umsetzbar. Zudem ist es wie am Bildschirm: Der Grundbuchstabe ist immer zu erkennen, und ein bestimmter Akzent sieht bei jedem Buchstaben gleich aus.

Für die genaue DETAIL-Erkennung ...

Die neue Tabelle heißt DETAIL, ein Akronym für „Detaillierte Erweiterbare Taktile AlphabetIdentifikationsListe´“ bzw. „Detailed Extendible Tactile Alphabet Identification List“. Sie ist für Situationen gedacht, in denen es wirklich darauf ankommt, Angaben oder Texte zeichengenau lesen zu können, insbesondere welche mit Fremdbuchstaben oder speziellen Symbolen. Also dort, wo das übliche Computerbraille versagt, wie im Fall des rumänischen Namens auf dem Amt.

DETAIL ist für die eindeutige Erkennung von Hunderten von Zeichen gedacht und zudem so konzipiert, dass immer mehr Zeichen hinzukommen könnten. Je mehr Zeichen möglich sind, desto umständlicher werden die einzelnen Zeichen dargestellt. Es ist wie bei Adressen: Kennen Sie sich in einem Dorf nicht aus, können Sie ohne weiteres einfach nach „Hauptstraße 2“ fragen. Versenden Sie jedoch einen Brief per Post, können Sie die Ortsangabe nicht weglassen und erwarten, dass die Post eindeutig weiß, welche „Hauptstraße 2“ gemeint ist.

... aber kaum für den alltäglichen Lesegenuss

DETAIL funktioniert also eher wie eine Postanschrift. Bei jedem Buchstaben aus einem fremden Alphabet gibt es ein Zeichen, das lediglich das betreffende Alphabet angibt, gefolgt von einem weiteren Zeichen für den einzelnen Buchstaben – und dann vielleicht noch weitere Zeichen für einen Akzent. Für die eindeutige Identifikation eines griechischen Namens ist das geeignet. Beim Lesen eines längeren griechischen Textes ist es dagegen fast immer klar, dass die Buchstaben griechische sind. Die Zusatzzeichen sind dann unnötig und nerven.

Und wie ist es beim Lesen von deutschen Texten? Zwar kommt das deutsche Alphabet auch bei DETAIL ohne Zusatzzeichen daher, da lateinische Buchstaben als der Normalfall gelten. Trotzdem könnte die Darstellung anderer Zeichen für den Alltagsgebrauch weniger attraktiv sein. 

Zum Glück muss man sich nicht fürs eine oder andere entscheiden!

Aber falls es doch einmal aufs DETAIL ankommt: Die notwendigen Dateien und Dokumentationen für die Einbindung in JAWS und NVDA stehen auf der Webseite des BSKDL (www.bskdl.org/detail) zur Verfügung.

Für das Schreiben der Zeichen, die nicht auf der Tastatur stehen, wird ebenfalls eine Lösung mitgeliefert: nämlich eine Tabelle für ein kostenloses Programm, das die Eingabe über eine Brailletastatur ermöglicht. 

Aber muss man dann immer in DETAIL lesen? Mitnichten! Einmal installiert braucht es nur wenige Tastendrücke, um zwischen dem herkömmlichen Computerbraille und DETAIL – oder umgekehrt – umzuschalten.

Das Ganze ist zwar nur ein DETAIL – aber für die Barrierefreiheit ein wichtiges.

Zum Autor

Vivian Aldridge unterrichtet bei der Schweizerischen Fachstelle für Sehbehinderte im beruflichen Umfeld (Erlenhof | SIBU) in Basel. Im BSKDL vertritt er den Verband für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik e.V.

Abb. 1: In Schwarzschrift steht der Name "Stefan" mit einem Komma unter dem großen S. Darunter steht die Wiedergabe in DETAIL: Die Buchstaben entsprechen dem üblichen Computerbraille, aber zwischen dem S und dem t wird das untergestellte Komma durch die Zeichen mit Punkten 5, 8 und Punkten 2, 7 dargestellt.

Abb. 2: Die Buchstaben a, A, c, e und z jeweils mit einem Akut-Akzent sowie deren Wiedergabe in DETAIL: Hinter dem jeweiligen Buchstaben in 8-Punkt-Braille wird der Akzent durch die Zeichen Punkte 5, 8 und Punkte 3, 5 angegeben.

Bild: Vivian Aldridge lacht. Er blickt durch eine leicht getönte schmale Brille. Er hat einen braun-melierten Haarkranz, einen kurzen grauen Kinn- und Oberlippenbart und trägt im grünen Außenbereich ein Hemd in Rosa. Foto: privat. 

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