Isabella Brawata (IB): Wann und wie wurde Ihnen bewusst, dass Sie eine Sehbeeinträchtigung haben?

Gertrud Herold (GH): Ich erhielt die Diagnose eher zufällig. Ich bekam schon in der Grundschule eine Brille, weil ich leicht weitsichtig war. Als ich wieder einmal eine neue Brille anpassen ließ, informierte der Augenarzt meine Eltern, dass ich von der ererbten Augenkrankheit Retinitis Pigmentosa betroffen sei und dass man das bei der künftigen Familienplanung beachten sollte. Zu dieser Zeit war allerdings noch wenig über die verschiedenen Vererbungs- und Verlaufsformen dieser Augenerkrankung bekannt.

Es gab eigentlich schon erste Vorboten, dass mit meinen Augen etwas nicht in Ordnung war. Als Jugendliche konnte ich tagsüber noch normal sehen, aber nachts waren die Straßen auf dem Dorf, wo ich wohnte, schlecht beleuchtet und da merkte ich, dass ich weniger sah als andere Menschen. Ich behalf mir mit einer Taschenlampe. In den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren gab es noch keine Schulungen in Orientierung und Mobilität. Heute denke ich, dass mir damals ein Langstock wesentlich besser geholfen hätte. Bei Ballspielen habe ich z. B. stets den Kürzeren gezogen, weil mir der Überblick fehlte.

Meine Sehbehinderung zeigte sich im klassischen Tunnelblick. Das Tückische an dieser Erkrankung ist, dass das Gesichtsfeld immer kleiner wird, man es selbst jedoch kaum merkt. Solange das Sehzentrum noch gut funktioniert, denkt man immer, dass alle anderen rücksichtslos sind, nimmt aber nicht wahr, dass man aufgrund des Sehverlustes selbst nicht mehr rechtzeitig reagieren kann.

Meinen Berufswunsch, Lehrerin zu werden, hat hingegen niemand in Frage gestellt. Die Ärzte sagten mir, ich solle ruhig Lehrerin werden, und sollte sich mein Sehen verschlechtern, könnte ich ja immer noch einen anderen Berufsweg einschlagen. In der Rückschau hätte mir eine Berufsberatung mehr geholfen als ein Rat zur Familienplanung. 

IB: Wie verlief Ihr beruflicher Werdegang?

GH: Ich war 25 Jahre, die Referendarzeit mitgerechnet, im Schuldienst tätig. 1963 habe ich Abitur gemacht. Es war das Jahr, in welchem die deutsch-französische Freundschaft begründet wurde. Ich habe es als ein Wunder empfunden, dass eine Aussöhnung möglich war, und wollte an der Völkerverständigung mitwirken. So beschloss ich, Französisch auf Lehramt zu studieren. Auch mein zweites Studienfach war mit meiner Biografie und der Geschichte verknüpft. Ich bin in Nordbayern in der Nähe des Eisernen Vorhangs aufgewachsen, an der Grenze zur ehemaligen DDR. Der Eiserne Vorhang schnitt uns buchstäblich den Weg ab. Da Deutschland in der Zeit begann, mit der damaligen Sowjetunion Handelsbeziehungen aufzubauen, entschloss ich mich, als zweite Sprache Russisch zu studieren.

Zunächst war es schwierig, eine geeignete Schule zu finden, denn ich wollte beide Fächer unterrichten, aber Russisch wurde an vielen Schulen bloß als AG angeboten, und es gab bereits eine Lehrkraft, die diese AGs leitete. Also ergriff ich die Flucht nach vorn und bewarb mich bei verschiedenen Ministerien, nicht nur in Bayern, sondern auch in Baden-Württemberg und Hessen. Ich hatte unglaubliches Glück, denn ich habe sehr schnell eine Zusage von einem humanistischen Gymnasium in Ulm (BW) bekommen. Dort hatte sich eine Elterninitiative dafür stark gemacht, dass an der Schule Russisch gelehrt werden sollte, und so wurde genau meine Fächerkombination – Russisch und Französisch – gebraucht. Mein Unterrichtsfach Russisch war eng mit der Einwanderungsgeschichte Deutschlands verankert. Zunächst unterrichtete ich Schüler/innen, die neben Latein und Englisch Russisch als dritte Fremdsprache lernen wollten, dann Menschen, die aus der ehemaligen DDR geflüchtet waren und eine zweite Fremdsprache brauchten. Später brachte ich Russlanddeutschen und Kontingenzflüchtlingen, also Jüdinnen und Juden, die aus Russland geflohen waren, Deutsch bei. 

IB: Wie wirkte sich Ihre Sehbehinderung auf Ihren Berufsalltag aus?

GH: Zunächst wenig, und ich hatte auch keine Ahnung, welche Hilfen es für Menschen mit einer Schwerbehinderung gibt. Erst ab 1986, als ich Mitglied bei der „Deutschen Retinitis Pigmentosa Vereinigung“ (heute „PRO RETINA“) geworden war, wurde ich über Nachteilsausgleiche und Hilfsmittel informiert. Dort riet man mir, mich als schwerbehindert einstufen zu lassen. Ich erhielt einen GdB von 80% und später 100%, allerdings wollte man mir das Merkzeichen „bl“ zunächst nicht zuerkennen.

Meinen Beruf als Lehrerin konnte ich gut ausüben, allerdings machte sich der Sehverlust zunehmend bemerkbar. Ich brauchte viel länger, um Klassenarbeiten zu korrigieren, und benützte zunehmend vergrößernde Brillen und Lupen. Später konnte ich Klassenarbeiten unter einem damals noch riesigen Bildschirmlesegerät bearbeiten. Irgendwann war mir die Beaufsichtigung von Jugendlichen bei außerschulischen Veranstaltungen zu riskant, da ich auf mich selbst aufpassen musste. Ich stellte einen Antrag auf eine Assistenz, die für mich die Aufsicht übernimmt. Eine rechtlich abgesicherte Begleitung wurde zwar bewilligt, ich hätte jedoch jedes Mal vor einem Ausflug einen Antrag stellen müssen, was völlig weltfremd war. Ich hatte ein nettes Kollegium, das mir unter die Arme gegriffen hatte, sodass ich an Reisen nach Frankreich und Russland teilgenommen habe, allerdings war ich bei der Beaufsichtigung der Jugendlichen keine große Hilfe.

1995 bin ich aus dem aktiven Schuldienst ausgeschieden. Ich hatte mehrere Erkrankungen, die, wie mein Arzt mir sagte, stressbedingt waren. Er riet mir dringend dazu, meine Berufslaufbahn zu beenden. 

IB: Was haben Sie getan, nachdem Sie in den Ruhestand gegangen sind?

GH: Ich habe zunächst noch Nachhilfeunterricht gegeben und mich dann 15 Jahre lang ehrenamtlich für die PRO RETINA Regionalgruppe im Raum Ulm engagiert. Was Hilfsmittel betrifft, so hat mir Frau Prof. Blankenagel von der Universitätsaugenklinik Heidelberg sehr geholfen. Sie hat als eine der Wenigen die Einstellung gehabt: Sag mir, was du machen möchtest, und ich finde ein passendes Hilfsmittel für dich. Sie hat also nicht nur danach geschaut, was man nicht kann, sondern danach, was noch möglich ist.

Auch die Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe hat mir sehr viel weitergeholfen. 2004, als ich 60 wurde, habe ich an einem Computerkurs für sehbehinderte Menschen teilgenommen, der von PRO RETINA angeboten wurde. Damals erfolgte der Umstieg von DOS auf Windows. Ein selbst sehbehinderter Physiker hat in Bielefeld einen Wochenendkurs gegeben. Wir arbeiteten an riesengroßen Bildschirmen. Ich konnte noch den Mauszeiger erkennen, weil man ihn stark vergrößern konnte, und die Symbole auf dem Bildschirm, aber es gelang mir aufgrund meines kleinen Gesichtsfeldes nicht, die Maus an eine bestimmte Stelle zu führen. Und es geschah etwas, was ich so nicht kannte: Nach einem halben Tag bekam ich fürchterliche Kopfschmerzen und mir wurde sehr übel.

Wieder bekam ich Hilfe, diesmal vom Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund. Ich nahm in Saulgrub an einem Computerkurs teil, den Werner Krauße geleitet hat. Ich lernte, mit der Sprachausgabe JAWS zu arbeiten und mit verschiedenen Computerprogrammen umzugehen. Dort sah ich auch zum ersten Mal eine Braillezeile und versuchte, meine vorher schon erworbenen Brailleschrift-Kenntnisse auszuprobieren. Ich erfuhr dort auch von der IG Ruhestand des DVBS.

IB: Wie haben Sie die Brailleschrift erlernt?

GH: Nachdem ich gemerkt habe, dass mich das Arbeiten mit den Augen am Computer so anstrengt, dass es nicht mehr geht, habe ich beschlossen, Brailleschrift zu lernen. Ich habe mir ein Buch zum Erlernen der Vollschrift gekauft und es vor allem im Urlaub durchgearbeitet. Im Naturheilsanatorium hatte ich ganz viel Zeit und Muße und habe meine schlaflosen Nächte damit zugebracht, mir die Brailleschrift im Laufe von Wochen und Monaten beizubringen. Da es aber in Vollschrift nichts Gescheites zu lesen gab, beschloss ich, auch Kurzschrift zu lernen.

In Saulgrub und Boltenhagen, aber auch in der Geschäftsstelle des BBSB, wurden Kurse angeboten. Aber die Kursleiterin des Kurses in München ermutigte mich, da ich mir schon eigenständig die Vollschrift beigebracht habe, mir auch selbst Kurzschrift beizubringen, damit ich nicht hin- und herfahren müsste. Also kaufte ich mir erneut Lehrmaterial und lernte Kurzschrift. Nach etwa zwei Jahren konnte ich Kurzschrift lesen. Ich beantragte eine Braillezeile, lernte Computerbraille und nutze die Zeile, um die Schreibweise von Namen nachzuschauen. Ich habe mir auch eine Punktschriftmaschine gekauft, eine Erika Picht, um mir Dinge im Haushalt zu beschriften. Das ist jedoch zunehmend anstrengend, sodass ich vielleicht demnächst auf einen Audio Labeler umsteigen werde. 

Sobald es akustische Hilfsmittel gab, habe ich mir ein Diktiergerät und einen Daisy-Player zugelegt und höre leidenschaftlich gerne Hörbücher. 

IB: Welche Erkenntnisse haben Sie beim Erwerb der Brailleschrift gesammelt?

GH: Das Erlernen der Voll- und Kurzschrift gelang mir, wie ich denke, vor allem deshalb, weil ich mir selbst keinen Druck gemacht habe. Ich konnte mir Zeit lassen und musste nicht auf ein bestimmtes Ziel hin lernen. Es ist von Vorteil, wenn man es gewohnt ist, zu lernen. Das war bei mir der Fall, da ich für meine fremdsprachlichen Fächer Vokabeln und Grammatik lernen musste. Ich bin froh, dass ich Kurzschrift gelernt habe. Das ist mir klargeworden, als ich mir einen Kalender aus Leipzig bestellt habe, der fühlbare Abbildungen von bedrohten Tieren und Pflanzen enthält und in Vollschrift gedruckt ist. Wenn man erst mal Kurzschrift gelernt hat, empfindet man die Vollschrift als hinderlich, weil die Wörter so unendlich lang sind.

Ich habe gemerkt, dass es wichtig ist, Brailleschrift regelmäßig zu lesen, damit man in Übung bleibt. Ich hatte mir eine Zeitschrift aus Leipzig bestellt, die sich an Menschen richtete, die die Brailleschrift neu erlernt hatten. Sie enthielt kleine Artikel zum Blindenwesen, Geschichten von Leserinnen und Lesern, Rätsel, Kochrezepte sowie allerlei Vermischtes. Dadurch blieb ich in Übung. Allerdings fällt es mir bei engzeilig gedruckten Texten manchmal schwer, die Zeile zu halten. Ich habe sogar vom BIT-Zentrum eine Auswahl von Artikeln aus einer französischen Tageszeitung gelesen. Auch wollte ich mir aus Leipzig russischsprachige Punktschriftbücher ausleihen, aber die Auswahl war leider recht klein.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass späterblindete Menschen die Brailleschrift sehr unterschiedlich nutzen können. Ein schon betagter Herr hat mir sehr leidgetan. Er hat in Boltenhagen einen Braillekurs belegt und in der Theorie alles gewusst, aber es gelang ihm beim besten Willen nicht, die Punkte zu erfühlen. Ein anderer späterblindeter Mann hingegen liest Punktschrift in einer unglaublichen Geschwindigkeit und hört keine Hörbücher, weil das Lesen der Brailleschrift ihm solche Freude bereitet. 

Ich finde es enorm wichtig, dass man als späterblindeter Mensch, auch im höheren Alter, die Brailleschrift lernt. Man muss keine langen Texte lesen, aber um sich etwas aufschreiben zu können, ist das Können der Brailleschrift unerlässlich. So kann man sich Dinge im Haushalt beschriften, sich ein Telefonbuch oder einen Terminkalender anlegen. Man verliert so auch nicht so leicht die Erinnerung an die Rechtschreibung. Ich bin froh, dass ich die Brailleschrift kann, auch, wenn ich etwas traurig darüber bin, dass ich nicht die Notenschrift gelernt habe. 

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