Von Julia Kuchelmeister

Recht und Gerechtigkeit sind längst nicht dasselbe. Aber durch das Recht wird versucht, objektiv einen annehmbaren Lösungsweg für das subjektiv so unterschiedlich ausgeprägte Gerechtigkeitsempfinden von uns Menschen zu finden, wenn wir diesen selbst nicht erkennen können oder wollen.

Das Interesse wird geweckt

Als ich 13 war, drohte meinem Vater durch seinen langjährigen Arbeitgeber die Kündigung. Das belastete die gesamte Familie sehr. Fragen stellen durfte ich jedoch nicht. Allerdings war zu dieser Zeit der Drucker im Büro meiner Eltern defekt. Für einen Gerichtstermin wollte mein Vater jedoch vorab Unterlagen ausdrucken. So kam es, dass diese über mein Laptop gedruckt werden mussten. Meine Eltern achteten zwar akribisch darauf, dass die Datei danach sofort gelöscht wurde – ich wusste aber, dass es ihnen nicht auffallen würde, wenn ich diese einfach nur in den Papierkorb verschieben, anstatt sie unwiderruflich löschen würde. In einem ruhigen Moment stellte ich die Datei wieder her, vielleicht bekam ich ja so von den Entwicklungen endlich etwas mit…? Mein Triumph währte jedoch nicht lang – das Karma schlug zurück, und ich konnte nur sehr wenig von der PDF-Datei lesen. Damals war der Screenreader mit PDF-Formaten einfach noch überfordert. Doch die juristische Ausdrucksweise beeindruckte mich sehr. Wie war es möglich, dass da jemand ein so hoch emotional aufgeladenes Thema in schlüssige, sachliche, präzise und überzeugende Sätze umwandeln konnte?! Das wollte ich auch können.

Andererseits merkte ich zu dieser Zeit auch, wie weit ein zu Papier gebrachtes Gesetz, Richtlinien oder Verordnungen von der Realität und der eigentlichen Umsetzung entfernt sein können: Man denke nur an die UN-Behindertenrechtskonvention…

So beschloss ich ein paar Jahre später, mein Schülerpraktikum in der Justiz zu absolvieren, nämlich beim Amtsgericht. Vorab dachte ich an keinen konkreten Beruf, träumte jedoch schon ein bisschen vom Jura-Studium, wovor ich jedoch einen Heidenrespekt hatte.

Am ersten Tag meines Praktikums wurde ich dann allerdings mit einem Berufsfeld konfrontiert, das ich zuvor noch nie gehört hatte: Rechtspfleger*innen. Zu dieser Zeit waren zwei Anwärterinnen da, die die ganze Woche für mich zuständig waren und mir auch viel von ihrem Studium erzählten. Mich beeindruckten die vielseitigen Tätigkeitsbereiche – von Zwangsversteigerungen über familienrechtliche Angelegenheiten bis hin zu Aufgaben beim Handelsregister – sehr. Von da an war für mich klar: Das möchte ich auch einmal werden.

Die Bewerbungsphase

Bereits in meinen Sommerferien vor meinem letzten Schuljahr schrieb ich Bewerbungen an die zwei Oberlandesgerichte in meinem Bundesland. Sehnsüchtig fieberte ich zuvor auf den Termin hin, an welchem die Bewerbungsportale geöffnet wurden. Danach begann eine lange, kaum auszuhaltende Wartezeit. Die erste Rückmeldung hatte ich dann vor den Herbstferien, und Anfang Januar durchlief ich den ersten Eignungstest im Vorfeld des eigentlichen Bewerbungsgesprächs. Nach dem Test fühlte ich mich als völlige Versagerin und glaubte, meinen Berufswunsch davonschweben zu sehen. Doch ich hatte den Test bestanden, und wurde Anfang Februar zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Dieses fand coronabedingt online statt. Es war sehr knifflig, da mir verschiedene (juristische) Situationen geschildert wurden und ich schnell eine Entscheidung treffen musste, aber die Personalerin war mir gegenüber sehr aufgeschlossen. Mein zweites Vorstellungsgespräch folgte Ende Februar. Hätte ich einen Tag zuvor nicht die Zusage meines Wunsch-Oberlandesgerichts im Briefkasten gehabt, wäre ich wohl aus diesem Gespräch sehr eingeschüchtert herausgegangen. Sowohl der Rektor der Hochschule als auch die Hauptvertrauensperson der Schwerbehinderten äußerten sich mir gegenüber sehr skeptisch. Es habe da in der Vergangenheit blinde Studierende gegeben – ja, aber die seien kläglich gescheitert und hätten überdies von ihren Kommiliton*innen viel zu viel erwartet. Ich solle die enorme Fallhöhe bei Nichtbestehen des Studiums bedenken. Das Problem sei die hohe Stoffmenge, die Praxis selbst sei nicht die Schwierigkeit. Natürlich frustrierten mich diese Worte dennoch. Sie lösten in mir aber auch eine etwas trotzige Motivation aus, die mich auch oft durch herausfordernde Zeiten meines Studiums trug: „Euch werde ich es zeigen, dass ich das Studium auch trotz Blindheit schaffe! Vielleicht seid Ihr dann zukünftig gegenüber Bewerber*innen mit Behinderung aufgeschlossener!“ Dreieinhalb Jahre später sollte es ausgerechnet der Hochschulrektor sein, der mir gegenüber äußerte, dass ich mein Studium schaffe, daran habe er von Anfang an nicht gezweifelt, aber so gut… 

Es war für mich sehr von Vorteil, die Zusage für meinen Studienplatz bereits Ende Februar für September zu haben. So konnte ich mit genügend zeitlichem Vorlauf Dienststellen zwecks einer Assistenzkraft anschreiben, auf die Kostenträger zugehen, Angebote für die Computerausstattung für mich und die Assistenzkraft einholen und mich um einen Wohnheimplatz beim Studierendenwerk bemühen. Tatsächlich hatte ich auch Anfang Juli alles gefunden, und die Kostenübernahme ging auch durch, was großes Glück war, und leider alles andere als selbstverständlich ist.

Mein Studium

Das erste Jahr fand vollständig an der Hochschule statt. Da ich im Herbst 2021 in mein Studium startete, war lange pandemiebedingt unsicher, ob wir in Präsenz oder online würden beginnen können. Schließlich war es dann jedoch für die ersten drei Monate in Präsenz möglich.

Mit meinen Kommiliton*innen verstand ich mich gut, ohne dass sich jedoch feste Kontakte oder regelmäßige Aktivitäten entwickelten, was ich sehr bedauerte. Ein Großteil blieb zuhause wohnen und hatte dort bereits einen Freundeskreis, eine Beziehung und Freizeitaktivitäten, sodass viele nicht auf zusätzliche Kontakte „angewiesen“ waren. Anfangs trafen wir uns öfter mal, um gemeinsam zu lernen, aber das ebbte schnell wieder ab, und es fand dann eher der Austausch über WhatsApp statt.

Es war schon eine enorme Stoffmenge in den verschiedensten Rechtsgebieten, die da von Anfang an auf uns Studierende einprasselte. Alle vorlesungsbegleitenden Materialien, hauptsächlich PowerPoint-Folien mit Stichwörtern und Übungsfälle, wurden auf einer digitalen Lernplattform (ILIAS) hochgeladen. Diese war auch für mich zugänglich. Waren vorlesungsbegleitende Materialien nicht gut auslesbar, wandelte sie mir meine Assistenzkraft vorab um. Es war zunächst ein neues Übungsfeld, den Dozierenden zuzuhören, in den Folien mitzulesen, wichtige Dinge mitzuschreiben und zugleich dann auch noch die mündliche Beteiligung, die bei uns benotet wurde, nicht ganz zu vernachlässigen. Glücklicherweise war ich eine schnelle Tipperin: Die vielen Online-Unterrichtsstunden während der Corona-Pandemie, in denen ich den geteilten Bildschirm der Lehrer*innen nicht sehen konnte, hatten mich dafür bereits fit gemacht. 

Ich kümmerte mich auch gleich in den ersten Tagen um die Formalitäten bzgl. des Nachteilsausgleiches, da die ersten Klausuren bereits Ende November geschrieben wurden. Weil ich das Abitur zuvor inklusiv an einem beruflichen Gymnasium absolviert hatte, war mir dieses Prozedere nicht fremd, nur mit dem Unterschied, dass ich jetzt selbst meinen Bedarf formulieren und gut begründen musste. Bewilligt wurde dann eine Schreibverlängerung von 33%, die Schreibsituation in einem separaten Raum mit meiner Assistenzkraft sowie die Bereitstellung der Klausurtexte im Word- und PDF-Format.

Glücklicherweise wurde mir zugebilligt, die Klausuren auch in der coronabedingten dreimonatigen Online-Lehrphase vor Ort an der Hochschule schreiben zu dürfen.

Die ersten Klausuren (allgemeiner Teil des BGBs, Zivilprozessrecht, Immobiliarsachenrecht, Erbrecht) waren sehr textlastig, und ich hatte keine größeren Zeitnöte. Es ist ja für juristische Klausuren typisch, dass die Zeit grundsätzlich schon bewusst knapp bemessen ist, das muss man natürlich dazu sagen. Zudem ist die juristische Notenskala auch alles andere als motivierend: Zwar geht diese im Rechtspfleger-Studium nur bis 15 Punkte und nicht wie im Jura-Studium bis 18 Punkte, aber wenn ich bedenke, wie viel Zeit und Ausdauer ich in das Lernen steckte, konnte das durch die erzielte Note selten entlohnt werden.

Schwieriger wurde es dann in den Fächern Handelsregister, Grundbuch, Zwangsvollstreckung und Zwangsversteigerung. Hier waren dem eigentlichen Klausurtext einige Anlagen beigefügt. Bis ein Grundbuch- oder Handelsregisterauszug von mir einigermaßen erschlossen und verstanden war, dauerte es. Mir ist es als blinde Person z.B. nicht möglich, einen Grundbuchauszug auf einen Blick mit all seinen Eintragungen, Löschungen und Veränderungen zu überfliegen. Diese musste ich dann peu à peu mit meiner Assistenzkraft durchgehen und mir nebenher alles Wichtige notieren, damit ich nicht jedes Mal nachfragen musste. Formulare bzgl. der Zwangsvollstreckung waren teils durch den Screenreader gar nicht auslesbar und beanspruchten auch sehr viel Erschließungszeit. Auch war es in Klausuren regelmäßig Aufgabe, eigene Grundbuch- oder Handelsregister-Eintragungen zu entwerfen und an der richtigen Stelle einzutragen. Es war am Anfang mehr ein Auswendiglernen, in welche Spalte was kommt, wann Texte halbspaltig einzutragen sind, wann man etwas röten bzw. unterstreichen musste, als dass ich es tatsächlich auch verstanden hätte. Dies funktionierte am Computer auch mehr schlecht als recht, oder kam nach dem Ausdrucken der Klausur auf dem Papier nicht gut genug zur Geltung, sodass ich meiner Assistenzkraft alles diktierte und diese meine Texte, Unterstreichungen etc. dann auf Papier mit farbigen Stiften in das dafür vorgesehene Registerblatt eintrug, was natürlich auch sehr viel Zeit kostete.

Trotz der vielen Stoffmenge und dem Klausuren-Marathon am Ende des ersten Jahres war ich mir trotz aller Mühen weiterhin sicher, diesen Beruf unbedingt erlernen zu wollen. Wenn ich zweifelte, dann eher an meiner Auffassungsgabe, meinem Wissen und tatsächlichen Können. 

Bereits im Laufe des ersten Jahres an der Hochschule konnten wir Wünsche äußern, an welchem Gericht wir das Praxisjahr absolvieren wollten. Auch fand ein ausführliches Online-Gespräch mit dem Oberlandesgericht statt, in welchem meine Rahmenbedingungen für die Studienpraxis (ausgestattetes Dienstlaptop, Begleitung durch eine Assistenzkraft, Nachteilsausgleich im Begleitlehrgang etc.) besprochen wurde. Als wir dann jedoch im September in das praktische Jahr starteten, war mein Dienstlaptop zwar da, bis er jedoch mit Screenreader und Braillezeile ausgestattet werden konnte, sollte es noch über einen Monat dauern. So kam es, dass ich die Zivil-Abteilung irgendwie mit meinem eigenen Laptop bestritt, um mir so zumindest Unterlagen einscannen und mitlesen zu können. 

Auf der Familienabteilung musste ich dann feststellen, dass das bei Gericht häufig verwendete Programm „ForumSTAR“ für Screenreader-Nutzer*innen nicht besonders zugänglich ist. Da kam ich dann das erste Mal ins Zweifeln, ob ich in der Justiz als blinde Person überhaupt eine Perspektive hatte. Die E-Akte über VIS-Justiz fand ich hingegen ganz gut händelbar. Dazu muss ich aber auch sagen, dass ich keine Schulung erhalten habe. Wir hatten zwar eine Online-Schulung in ForumSTAR und der E-Akte, allerdings über den Privat-PC und ohne Zugriff auf die Programme und natürlich auch auf Maus-Bediener ausgelegt. Meine Assistenzkraft war jedoch technisch sehr affin und erschloss sich mit mir in Ruhe die beiden Programme. 

Auf der Grundbuch- und Handelsregisterabteilung war ich am Höhepunkt meiner Frustration angekommen: Weder die Software „Folia“ noch „RegiSTAR“ waren mit dem Screenreader zugänglich. Sobald das jeweilige Programm geöffnet wurde, verstummte mein Screenreader, und die Zeile lief nicht mit. Ich erhielt also digital Fälle, prüfte sie nach dem Prüfungsschema theoretisch durch und formulierte die Eintragungen, sah jedoch nie ein Grundbuch oder ein Handelsregister in echt. Da die Grundbuch- und Handelsregisterblätter sowie die Antragsunterlagen von den Notaren oftmals nicht gut vom Screenreader ausgelesen werden konnten, musste diese entweder meine Assistenzkraft umwandeln, oder ich musste mir mit allen möglichen Tricks, wie etwa dem Umwandeln via OpenBook, behelfen, wodurch aber mein Arbeitsspeicher regelmäßig völlig überlastet war und ich sehr viel Zeit für Computer-Abstürze usw. verwenden musste.

Befeuert wurde meine zunehmende Überzeugung, keine Jobperspektive als blinde Person zu haben, zusätzlich noch durch einen Besichtigungstermin von Vertretern des Justizministeriums. Diese wollten die Barrierefreiheit der E-Akte aufgrund meiner Erfahrungen vor Ort am Gericht beurteilen. Leider wurde dieser Termin von Mitarbeitenden genutzt, um sehr deutlich zum Ausdruck zu bringen, dass aufgrund der mangelnden Barrierefreiheit der Grundbuch- und Handelsregistersoftware für mich an diesem Gericht keine Verwendung gesehen wird, andere Gerichte zukünftig auch völlig überfordert mit mir wären, und das Oberlandesgericht sich im Vorfeld meiner Einstellung keine Gedanken gemacht sowie mein Ausbildungsgericht alleine gelassen hätte. Das machte mir alles keinen Mut. Zwar glaubte ich nicht, dass die Aussagen persönlich gegen mich gerichtet waren, sondern vielmehr aus Unsicherheit und Überforderung entstanden, ich fragte mich aber schon, wofür ich das machte, und ob es sich lohnte. Trotzdem wollte ich das Studium keinesfalls abbrechen.

Die Betreuungs- und Nachlassabteilung sowie die Termine auf der Rechtsantragstelle gefielen mir hingegen ausgesprochen gut. Dort konnte ich mit der E-Akte und ForumSTAR überwiegend selbstständig arbeiten, die Ausbilder*innen trauten mir genügend zu, und ich schätzte vor allem den direkten Kontakt zu Bürger*innen.

Als ich für mein letztes Jahr im Studium wieder zurück an der Hochschule war, kümmerte ich mich zügig um die Beantragung für den Nachteilsausgleich der Diplom-Prüfungen. Ich beantragte insbesondere in den formular- und eintragungslastigen Prüfungen einen Nachteilsausgleich von 50%. Ich erhielt leider wieder „nur“ 33%, mit der Begründung, dass ein Großteil der juristischen Prüfungen auf eigene Denkarbeit auch unter Zeitdruck ausgelegt sei und ich daher nicht gegenüber meinen Kommiliton*innen bevorteilt werden sollte. Besonders herausfordernd war jedoch die Diplom-Prüfung im Bereich des Vollstreckungsrechts, da dieses Mal seitenweise ausgefüllter Formulare zu bearbeiten waren. Ich erhielt zwar die Prüfungen eigentlich im Word- und PDF-Format, die Formulare jedoch nur als PDF-Datei, weil diese so hätten gar nicht in Word ohne Weiteres übertragen werden können. So kam ich vor allem in dieser Prüfung zeitlich sehr ins Schwimmen, da ich jedes einzelne Formularfeld mit meiner Assistenzkraft durchgehen musste.

Doch ich bestand die Prüfungen und erhielt mein Diplom.

Auch war ich überglücklich, dass ich nach dem Studium direkt an mein Wunschgericht zugeteilt wurde. Die Kolleg*innen dort sind sehr, sehr nett, hilfsbereit und mir gegenüber absolut aufgeschlossen. Ich fühle mich wirklich seit meinem ersten Tag sehr wohl und gut aufgenommen.

Arbeiten am Wunschgericht

Meine Zuständigkeit betrifft die Zivil-Abteilung (Kostenfestsetzung, Beratungs- sowie Prozesskostenhilfe, Aufgebotsverfahren und die Rechtsantragstelle). Die Kostenfestsetzung kann ich in der E-Akte und in ForumSTAR größtenteils selbstständig und ohne sehende Hilfe bearbeiten. Alles andere wird zurzeit noch überwiegend papierhaft geführt, sodass ich da auf Unterstützung durch die Assistenzkraft, die mir glücklicherweise vorerst über das Studium hinaus erhalten geblieben ist, angewiesen bin. 

Was mir jedoch nach kurzer Zeit auffiel, war, dass ich täglich einige Stunden Leerlauf hatte. Das frustrierte mich zunehmend mehr. Schien es doch so, als ob alle Kolleg*innen um mich herum in Arbeit versanken. Ich möchte doch arbeiten, unterstützen und vor allem ausgelastet sein.

So machte ich meiner Frustration gegenüber einer Kollegin Luft und erfuhr, dass das Oberlandesgericht mich zunächst aufgrund meiner Blindheit und der mangelnden Barrierefreiheit der Justiz-Programme als zusätzliche Arbeitskraft eingeteilt hatte, was bedeutet, dass ich in der Statistik des Gerichts gar nicht auftauche. Mit der Zeit merkte ich, dass alle anderen das um mich herum wussten, nur ich nicht. Auch mein tatsächlicher Arbeitskraftanteil musste erst noch im Laufe der Zeit festgelegt werden. Ursprünglich hätte ich wohl noch weniger Aufgaben übertragen bekommen sollen, wenn sich nicht bereits nach kurzer Zeit herausgestellt hätte, dass mein Tempo und mein Wissen etwas mehr hergaben. Mir war klar, dass das alles nicht auf Bösartigkeiten gegenüber mir fußte. Vermutlich wollte man mich in Ruhe ankommen lassen, nicht gleich überfordern und erst einmal herausfinden, wieviel ich durch die Programme tatsächlich leisten konnte. Aber es frustrierte mich trotzdem sehr, weil mir wieder einmal schmerzlich klar wurde, dass ich vermutlich ein Leben lang damit zu kämpfen haben werde, aufgrund der Blindheit mit zweierlei Maß gemessen zu werden, und potenziell weniger zugetraut zu bekommen. Die Arbeitstage waren sehr lang, denn ich musste ja trotz Leerlauf meine 41 Stunden in der Woche und ein paar Überstunden als Puffer leisten. Vermutlich kam da auch erschwerend hinzu, dass ich selbst am allermeisten von mir erwarte, mit mir selbst zu ungeduldig bin, ständig von Selbstzweifeln und Minderwertigkeitskomplexen gegenüber sämtlichen Mitmenschen begleitet werde sowie viel leisten und trotz Blindheit überzeugen möchte. Andererseits wollte ich durch das Ansprechen dieses für mich so belastenden Umstands auch nicht überheblich wirken.  

Nach vielen, vielen langen Monaten, in denen ich mich oft fragte, ob ich eigentlich gebraucht werde, wofür ich in meinem Studium alles gegeben und mich selbst oft vernachlässigt habe, steht nun eine Änderung des Geschäftsverteilungsplans zu meinen Gunsten bevor. Dann werde ich auch einen Teilbereich der Zwangsvollstreckung übernehmen, was bis auf Weiteres ausschließlich papierhaft bearbeitet wird.

Ich hoffe, dass ich dann wirklich mehr zu tun habe und abends so zufriedengestellt nach Hause gehen kann, wie aktuell nur nach ein paar Urlaubstagen, wenn ich einen ganzen Tag damit ausfüllen kann, die liegengebliebenen Akten abzuarbeiten.

Fazit

Ich habe meinen Weg nun sehr ausführlich und ehrlich skizziert. Auch, wenn gerade die etwas herausfordernden Themen einen nicht unerheblichen Raum eingenommen haben, soll sich keine blinde oder sehbehinderte Person abgeschreckt fühlen, den Berufsweg Rechtspfleger*in einzuschlagen. Es ist kein ganz leichter Weg dorthin, aber die vielseitigen Aufgabenbereiche, das Umsetzen all der vielen Theorie in der Praxis und der Austausch mit Kolleg*innen sind es allemal wert. 

Wer all die vielen Zeilen bis hierhin durchgehalten hat und sich für dieses Berufsfeld entscheidet, sollte sich vorausschauend um alle notwendigen Rahmenbedingungen kümmern, für sich einstehen können, und genug Wissensdurst sowie Durchhaltevermögen mitbringen.

Ich rate aber auch allen, im Studium auf ausreichend Ausgleich, vor allem Schlaf, Sozialkontakte, Sport und Hobbies zu achten. Das Studium ist anspruchsvoll, aber ohne Pausen zwischendurch schadet man am Ende leider „nur“ sich selbst, der eigenen Gesundheit und möglicherweise auch den Leistungen. Vernachlässigt Euch selbst also nicht, wie ich das zuweilen bei mir selbst getan habe und auch entsprechend büßen musste.

Foto: Julia Kuchelmeister steht vor einem Tisch mit Mikrofonen, PC und schwarzen Stühlen und hält lächelnd ihre Diplom-Urkunde in beiden Händen. Sie hat schulterlanges blondes Haar und trägt einen dunklen Blazer und eine Hose in Pepita-Muster. Auf der Wand im Hintergrund befindet sich das stilisierte Wappen Baden-Württembergs. Foto: privat 

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