Von Andrea Katemann

Wer mit Dr. Otto Hauck, Richter i. R., und Christiane Möller, Justiziarin und stellvertretende Geschäftsführerin beim Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband e. V., spricht, gewinnt schnell einen Einblick, wie viel Beharrlichkeit, Einsatz und Verhandlungsgeschick nötig sind und waren, um Rechte für blinde und sehbehinderte Menschen zu erkämpfen. Vieles erscheint uns heute als selbstverständlich – aber wer denkt zum Beispiel daran, dass das Recht auf Arbeitsplatzassistenz nicht immer existierte, sondern hart erstritten werden musste? Oder dass es für blinde und sehbehinderte Menschen ein langer Weg war, Unterstützungen wie das Blindengeld dauerhaft abzusichern – ein Anspruch, der in Niedersachsen zeitweise sogar ganz abgeschafft war, wie Christiane Möller anschließend im Interview berichtet.

Ohne die jahrzehntelange Vorstandstätigkeit von Otto Hauck, der den Deutschen Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS) von 1979 bis 2004 als Vorsitzender entscheidend geprägt hat, wäre vieles von dem, was wir heute als gegeben hinnehmen, nicht Realität. Seit 1971 setzt er sich mit unermüdlichem Engagement für die Belange der Selbsthilfe ein. Fragt man ihn nach wichtigen Gesetzesvorhaben, auf die er zurückblicken kann, nennt er Dinge, die bis heute von zentraler Bedeutung für die Umsetzung politischer Vorhaben sind. Um seine Ziele zu erreichen, war ihm immer eine enge, tragfähige Beziehung zu den verschiedenen Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung wichtig. So kam man u. a. über Umwege durchaus an wertvolle Informationen aus unterschiedlichen Ministerien heran, und es ließen sich langfristig tragfähige Kontakte knüpfen. Diese Besuche mussten stets gut vorbereitet sein: mit klaren, schriftlich ausgearbeiteten Forderungen, die so überzeugend waren, dass sich ein Beauftragter diese zu eigen machen konnte.

Von besonderer Bedeutung waren für Otto Hauck dabei immer blinde und sehbehinderte Menschen aus der Fachgruppe Jura, der enge Austausch im gemeinsamen Arbeitskreis Rechtspolitik – in dem DVBS und der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) eng mit Juristinnen und Juristen, Journalistinnen und Journalisten sowie den Geschäftsführerinnen und Geschäftsführern zusammenarbeiteten – und der Arbeitskreis Nachteilsausgleiche, der stark durch den DVBS geprägt wurde. In beiden Arbeitskreisen fand ein fachlich konstruktiver Austausch statt, bei dem Ideen entwickelt, Positionen formuliert und Lösungen abgewogen wurden. Besonders im Arbeitskreis Rechtspolitik wurde sehr konkret über die jeweils nächsten Schritte beraten, während der Arbeitskreis Nachteilsausgleiche immer auch den Blick auf längerfristige Entwicklungen richtete. Hier wurde kompetent gestritten, abgewogen und gemeinsam daran gearbeitet, wichtige Verbesserungen vorzubereiten.

Einen seiner bedeutendsten Meilensteine sieht Otto Hauck darin, dass es gelungen ist, für Menschen mit Behinderung ein gesetzlich verankertes Recht auf Arbeitsplatzassistenz zu erkämpfen – ein Ziel, für das man sich bereits seit 1980 eingesetzt hat und dessen Umsetzung über zwei Jahrzehnte dauerte. 

Ein ganz zentraler Schwerpunkt seiner Arbeit war außerdem das Verhandeln um die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), die in Deutschland am 26. März 2009 in Kraft trat. Zwei weitere wichtige gesetzliche Grundlagen, mit denen er sich beschäftigt hat, sind das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG), das am 1. Mai 2002 in Kraft trat, und das Bundesteilhabegesetz (BTHG), das seit dem 30. Dezember 2016 gilt.

An diese Errungenschaften knüpft auch Christiane Möller an, die als Juristin die politische Arbeit des DBSV heute maßgeblich mitgestaltet. Mit ihr blicken wir im nächsten Teil darauf, welche Themen bis heute wichtig geblieben sind – und warum unser Einsatz auch weiterhin gebraucht wird.

Interview mit Christiane Möller

Andrea Katemann: Christiane, wann bist du zur Selbsthilfe gekommen?

Christiane Möller: 2000 habe ich mein Studium begonnen und suchte einen Austausch mit anderen blinden Juristen, den ich in der Fachgruppe Jura des DVBS gefunden habe. 

Hast du damals schon an politische Arbeit gedacht?

Für die Selbsthilfe zunächst nicht. Aber dann machte ich 2004 ein Praktikum bei Michael Richter, der damals Geschäftsführer des DVBS war. Dort kam ich mit sozialrechtlichen Problemen blinder und sehbehinderter Menschen in Berührung und schnupperte erste sozialpolitische Luft in der Selbsthilfearbeit. Seinerzeit lernte ich unter anderem auch Herbert Demmel kennen, ehemaliger Geschäftsführer des Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbundes (BBSB) und damals für den DVBS als Jurist in verschiedenen Gremien aktiv. Er war und ist ein großes Vorbild für mich. Ich hatte damals vor allem mit Forderungen für mehr Bildungsteilhabe zu tun. Es war aber auch die Zeit der Proteste gegen die Kürzungen des Blindengeldes. Letztlich ist es nicht zuletzt durch den hohen Druck der Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe gelungen, das Blindengeld in allen Bundesländern zu erhalten oder wieder einzuführen – in Niedersachsen und Thüringen war es zwischenzeitlich abgeschafft worden.

Für viele Mitglieder eines Selbsthilfeverbands wie dem DVBS ist politische Arbeit oft auf öffentliche Aktionen beschränkt sichtbar. Was passiert im Hintergrund, um Themen politisch wirksam zu platzieren?

Es braucht einen langen Atem, teils über Jahrzehnte, um Schritt für Schritt zu alltäglich spürbaren Verbesserungen zu kommen. Genauso wichtig ist, dass viele unterschiedliche Akteure gut zusammenarbeiten: Seien es die politisch strategischen Vordenker, Juristen, Öffentlichkeitsexperten, kreative Menschen, die sich mit ihrem spezifischen Wissen oder bei einer Demo einbringen, um nur Beispiele zu nennen. All diese Menschen haben wir in der Selbsthilfe, und es gilt, das Knowhow aufzuspüren, Menschen für die Mitwirkung zu begeistern und die Aktivitäten zu bündeln. Ausgangspunkt sind immer die alltäglichen Probleme blinder und sehbehinderter Menschen – sei es die fehlende Barrierefreiheit, der Mangel an Rehabilitationsangeboten, die soziale Ungleichheit etc. Wir haben dabei mit der Rechtsberatung der rbm (Rechte behinderter Menschen gemeinnützige GmbH) einen großen Wissensschatz, denn die dort auflaufenden Fälle zeigen uns, wo strukturelle Probleme liegen. So kann man einem Politiker z. B. glaubhaft mit Fallbeispielen belegen, wo noch eine Gesetzeslücke ist oder warum eine bestimmte Regelung in der Praxis nicht wirkt. Dann muss man erkennen, wo, wann und wie die jeweiligen Anliegen platziert werden können oder müssen. Gibt es zu einem bestimmten Thema ohnehin eine Gesetzgebungsinitiative oder muss man durch stetiges Bohren dafür sorgen, dass sich der Gesetzgeber bewegt? Wann tut sich für ein bestimmtes Anliegen der richtige Moment auf? 

Idealerweise wird man in Gesetzgebungsverfahren, die uns blinde und sehbehinderte Menschen betreffen können, direkt um eine Stellungnahme gebeten. Dafür sind die Fristen meist sehr knapp. Viel häufiger muss man aber proaktiv mit seinen Anliegen auf Verantwortliche zugehen, bei offiziellen Terminen ebenso wie informell. Wichtig sind dabei stabile Bündnisse in einem starken Netzwerk, zum Beispiel mit anderen Organisationen behinderter Menschen. Um seine Anliegen zu transportieren, schreibt man ein begründetes Forderungspapier, versucht für die Problemlagen zu sensibilisieren und praktische Lösungsansätze vorzuschlagen. Bestenfalls passiert das juristisch fundiert. Die Komplexität besteht darin, dass sich Blindheit und Sehbehinderung im ganzen Leben auswirken, und damit sind auch die rechtlichen Grundlagen, mit denen man sich im Rahmen der Interessenvertretung befasst, ebenso vielfältig. Der juristische Inhalt ist das Eine. 

Es kommt darüber hinaus auf die richtige Präsentation der Anliegen an: Ein Ministerium erhält zum Beispiel eine ausführlich begründete Stellungnahme. Für einen Abgeordneten des Bundestages oder einen Pressevertreter muss man kurz und knackig zusammenfassen, was man warum will und wie das Ergebnis erreicht werden kann - die haben nicht viel Zeit zum Lesen. 

Politische Arbeit braucht oft auch öffentlichen Druck. Infomaterial muss erstellt und über verschiedene Kanäle verbreitet werden, ggf. sind Demonstrationen zu organisieren oder andere öffentlichkeitswirksame Aktionen zu planen. 

Welche Themen beschäftigen dich in deiner politischen Arbeit bis heute?

Die Themen sind extrem vielfältig. Das reicht von der Barrierefreiheit über die individuellen Teilhabeleistungen, die Sicherstellung der Rehabilitation bis zum Zugang zu Filmen. Seit meiner Anfangszeit beim DBSV, also 2015 bis heute, stand und steht das Bundesteilhabegesetz (BTHG) im Fokus. Schon 2012 und 2013 war ich im Forum behinderter Juristinnen und Juristen aktiv. Dort haben wir einen eigenen Gesetzentwurf zur sozialen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen erarbeitet und überlegt, wie ein Gesetz aussehen müsste, um ein selbstbestimmtes und gleichberechtigtes Leben zu ermöglichen. Die Realität beim Gesetzgebungsverfahren des BTHG war geprägt von einem Ringen um gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen einerseits und finanzielle Entlastungen der Eingliederungshilfeträger andererseits. Zwischenzeitlich drohten massive Leistungseinschränkungen insbesondere für sehbehinderte Menschen. Ganz stark war damals unsere Kampagne „Blinde gehen baden“, mit der wir in der Spree schwimmend demonstrierten, um auf die drohenden Verschlechterungen auch im Bereich der Bildungsteilhabe junger Menschen aufmerksam zu machen. Diese Aktion wurde in der Bundestagsdebatte wahrgenommen. Wir konnten schlussendlich durchsetzen, dass der Rechtsanspruch auf Eingliederungshilfe auch für Menschen mit Sehbehinderung gesetzlich verankert blieb. Die unabhängige Teilhabeberatung wurde durch das Gesetz möglich. Die Einkommens- und Vermögensgrenzen sind deutlich gestiegen, was den Zugang zu Leistungen wie dem Training lebenspraktischer Fähigkeiten für viele Menschen erleichtert. Taubblindheit wurde als Behinderung eigener Art anerkannt. Ein weiterer Erfolg in den letzten Jahren war die Erweiterung des Kreises der Personen, die Anspruch auf eine Sehhilfenversorgung durch ihre Krankenkassen haben. Und in einigen Bundesländern konnten Verbesserungen beim Blindengeld erwirkt werden. An anderen Baustellen wie der Schaffung eines bundesweit einheitlichen gerechten Blindengeldes gibt es leider keine Bewegung. 

Hilft bei der Durchsetzung von Interessen auch die UN-Behindertenrechtskonvention?

Die BRK ist die Basis für unsere Forderungen nach voller, wirksamer und gleichberechtigter Teilhabe in allen Lebensbereichen.Seit ihrer Ratifizierung ist das Bewusstsein für die Rechte von Menschen mit Behinderungen gestiegen und wir haben bessere Argumente, um zu erklären, dass Teilhabe keine soziale Wohltat, sondern ein Menschenrecht ist. Deutschland wurde kürzlich zum zweiten Mal zum Umsetzungsstand geprüft. Dabei wurde deutlich: Es gibt noch viel zu tun.

Gibt es denn Entwicklungen, die dir Hoffnung machen? Und was macht dir Sorgen?

Ein großer Schritt ist, dass ab dem 28. Juni mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz erstmals auch die Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit einiger Produkte und Dienstleistungen verpflichtet wird. Das bedeutet mehr Eigenständigkeit und damit Teilhabe im Alltag, sei es beim Online-Shopping oder beim Banking. Dieses Gesetz geht auf eine europäische Initiative, den „European Accessibility Act“ zurück. Es kommt nun auf eine gute Umsetzung und Durchsetzung der Regelungen an. 

Es gibt aber – machen wir uns nichts vor - immense Herausforderungen: Weltweite Konflikte, der zunehmend spürbare Klimawandel, die demographische Entwicklung in unserem Land, ein knapper Staatshaushalt und auch innerstaatlich ein Erstarken rechter Kräfte, denen weder Minderheitenschutz noch die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen wichtig sind. Unser vehementer Einsatz für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und eine vielfältige inklusive Gesellschaft ist wichtiger denn je. Investitionen in Barrierefreiheit und Rehabilitation sind nicht nur menschenrechtlich geboten, sondern für den gesellschaftlichen Zusammenhalt wichtig und pure ökonomische Notwendigkeit. Es geht darum, den Herausforderungen in einer alternden Gesellschaft mit vermehrt beeinträchtigten Menschen sowie dem demographisch bedingten Fachkräftemangel zu begegnen. Die Digitalisierung bietet – wenn sie für alle barrierefrei umgesetzt und verfügbar ist – eine große Chance: etwa bei der Informationsbeschaffung, bei Assistenzsystemen für den Alltag oder durch Robotik im Bereich Orientierung und Mobilität. Um all die Entwicklungen aktiv mitgestalten zu können, braucht es eine starke Selbsthilfe und eine starke Selbstvertretung. Gerade in Zeiten wie diesen ist das wichtiger denn je. Nur gemeinsam werden wir gehört – und nur gemeinsam können wir etwas bewegen.

Christiane, ich danke dir für das Gespräch!

Bilder (1) Dr. Otto Hauck trägt eine getönte Brille. Hemd, Krawatte und kariertes Jackett sind farblich aufeinander abgestimmt. In seinem Rücken stehen dicht an dicht Blindenschriftbände im Regal. Dr. Hauck lächelt. Foto: privat

(2) Justiziarin Christiane Möller ist seit 2021 stellvertretende Geschäftsführerin des DBSV. Das blau changierende Gestell ihrer Brille unterstreicht ihre blaue Augen. Sie hat schulterlanges blondes Haar und trägt zum roten Shirt und dunklen Blazer eine schmale Goldkette und lächelt. Foto: DBSV/Friese

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