Seit Jahrtausenden gibt es eine enge Verbindung zwischen Menschen und Hunden. Wem zuerst einfiel, einen Hund zum Führen eines blinden Menschen abzurichten, bleibt im Dunkeln. Aber es ist lange her, denn schon in der Straßburger Bettelordnung steht ums Jahr 1500, dass Bettler fortan keine Hunde mehr haben sollen, es sei denn, sie seien blind und bräuchten daher einen. Aha!
Ende des 18. Jahrhunderts dürften in einem Pariser Blindenhospital erstmals systematisch Führhunde ausgebildet worden sein. Und 1813 erfahren wir von einem Wiener Augenarzt, es habe sich ein junger blinder Mann einen Spitz zum Führhund trainiert.
In Deutschland wurden Führhunde ab 1916 in Oldenburg ausgebildet, wurden doch im Ersten Weltkrieg viele Soldaten an den Augen verletzt. Potsdam folgte 1923. Und ab den 1950er-Jahren wird die Landschaft deutscher Führhundschulen recht unübersichtlich.
Aber weg von der Historie. Warum binden sich blinde Frauen und Männer an einen Hund? Das wollte der horus von Mirien Carvalho Rodrigues wissen. Die 56-jährige Übersetzerin und Schriftdolmetscherin verlässt sich seit Jahrzehnten auf ihre Führhunde.
horus: Wann und warum hast du dich für einen Hund entschieden?
Mirien: Ich bin jetzt beim dritten Führhund. 1999 hatte ich den Ersten. Die Entscheidung, einen Führhund zu wollen, dauerte etwa zwei Jahre. Ich bin gern unterwegs und mag Tiere. Die wichtigste Frage damals war: Kann und will ich mit irgendeinem Lebewesen rund um die Uhr zusammen sein? Und ich kam zu dem Schluss, dass es mit einem Hund gehen könnte - obwohl ich nie Hunde hatte. Danach machte ich mich auf die Suche nach dem richtigen Hund für mich.
h.: Wie hast du den Hund für deinen Typ gefunden, es gibt ja haufenweise Führhund-Schulen?
M.: Ich habe mir nur zwei oder drei angesehen und bin Probe gelaufen. Natürlich wusste ich anfangs Vieles nicht. Und als dann der Jack vor mir stand, war er einfach der richtige Hund. Die Trainerin hat in Vorgesprächen zu ergründen versucht, welcher Hund passt: Ich bin viel unterwegs, bin an unterschiedlichsten Orten, und die Trainerin überlegte auch, welches Tier passt zu einer Erst-Halterin.
h.: Wie muss ein Hund sein, der deinem Typ entspricht?
M.: Er darf sich über nichts wundern. Es gibt so viele Kriterien, beginnend mit dem Lauftempo, damit der Hund nicht immer zieht oder mich ausbremst. Ich brauchte einen Hund, dem es egal ist, für längere Zeit in Konferenzsälen zu liegen, der aber andererseits locker durch den Hamburger Hauptbahnhof oder den Frankfurter Flughafen führt, als wäre er da auch zu Hause. Von meinem ersten Hund habe ich mehr gelernt als von allen Trainerinnen zusammen. Der war megaschlau, er hat mir durchaus auch gezeigt, was passiert, wenn ich nicht konsequent mit ihm bin. Denn dann testet der Hund, wer im Gespann der Chef ist. Ich wusste am Anfang, dass es Hörzeichen gibt, auf die hin der Hund eine Treppe, eine Tür oder ein Fahrzeug ansteuert. Aber der Hund hat mich gelehrt, dass er sehr viel mehr kann und ein unglaubliches Orientierungsvermögen mitbringt. Wenn man versteht, dieses zu nutzen, kann man als Team wunderbare Dinge erleben.
h.: Hast du ein Beispiel?
M.: Ich erinnere mich an eine Busfahrt in Heidelberg, damals eine neue Stadt für mich. Die Ansage im Bus ging falsch und ich stieg eine Station zu spät aus, dachte aber, ich sei richtig. Als mir der Irrtum klar wurde, dachte ich nach, wie ich jetzt laufen sollte. Der Hund aber reagierte ganz gelassen und lief los. Ich ließ mich darauf ein und wir landeten an einer geriffelten Gummimatte vor meiner Bank, denn das war einer der wenigen Orte, die wir zum damaligen Zeitpunkt kannten. Und von dort aus konnte ich mich dann wieder orientieren. Das war ein grandioses Erlebnis, denn damals konnte ich noch kein Navi-System fragen, wo ich mich gerade befinde.
Bei technischen Geräten gibt es die Backtrack-Funktion, der Hund hat die auch. Wenn ich meinetwegen eine Station der Frankfurter U-Bahn verlasse und mit einer Wegbeschreibung ein Ziel ansteuere, kann mich der Hund hinterher genau zur selben U-Bahn-Treppe zurückführen. Voraussetzung ist natürlich, dass es in dieser Gegend keinen anderen Ort gibt, den ich kenne und wohin ich eventuell wollen könnte.
Solche wunderbaren Erlebnisse kann man haben, wenn die Bindung stimmt und man sich selbst und dem Hund diese Fähigkeiten zutraut.
h.: Ist ein Hund in erster Linie Haustier, Freund oder Hilfsmittel?
M.: Gut, dass ich mich da nicht entscheiden muss. Wir sind beide Teil eines Sechs-Pfoten-Teams. Unterwegs ist er Mobilitätshilfe und Begleiter, zu Hause ist er Hund. Wenn ich's gewichten müsste, müsste ich mich fragen, ob ich wohl einen Hund nur als Haustier haben wollte. Wahrscheinlich nicht, also kommt die Mobilitätshilfe schon recht weit vorn. Natürlich muss ich mir klar darüber sein, welche Bedürfnisse der Hund hat: Er muss raus bei Wind und Wetter, er braucht Zuwendung, Futter, also Zeit. Und das hat alles mit der Frage vom Anfang zu tun: Bin ich bereit, meinen gesamten Tag mit einem anderen Lebewesen zu teilen und Verantwortung zu tragen?
h.: Könnten alle blinden Menschen einen Führhund haben?
M.: Wer volle Arbeitstage in einer Innenstadt hat und fast jeden Abend in die Disco gehen möchte, hätte zwar vermutlich viel Führarbeit für den Hund, aber einen Lebensstil, zu dem täglicher Auslauf und Kontakte zu anderen Hunden nicht passen.
Und da sind wir beim nächsten entscheidenden Punkt: Es muss genügend Arbeit für den Hund geben. Die blinde Person muss also regelmäßig allein Wege zurücklegen, auf denen sie den Führhund als Mobilitätshilfe einsetzt und braucht. Im einzelnen kann sich das natürlich stark unterscheiden. Manche gehen täglich dieselben Wege, andere sind an wechselnden Orten unterwegs. Deshalb ist es so wichtig, den richtigen Hund für jeden Menschen zu finden.
h.: Wie wichtig ist eine gute eigene Orientierung für das Gehen mit einem Führhund?
M.: Ich habe keinen guten Orientierungssinn. Mit Himmelsrichtungen fange ich nichts an, ich lerne meine Wege auswendig. Aber natürlich muss ich wissen, wo ich bin, da ich dem Hund sagen muss, wohin es gehen soll. Also rechts abbiegen, links eine Haltestelle oder Ampel suchen. Anders als beim Gehen mit dem Stock mache ich mit dem Hund nicht mehr Bekanntschaft mit jedem Schild oder Fahrradständer. Und auch die vielen abgestellten E-Scooter sind für mich gar nicht da. Ich bin auch schneller unterwegs als mit dem Stock. Am Anfang war ich an meinem Ziel oft schon vorbei, wenn ich mir dachte, es müsste jetzt mal kommen. Da Hunde neugierig sind, zeigen sie mir auch immer mal was Neues, worauf ich selbst nie gekommen wäre. Vorzugsweise Metzgereien und Würstchenbuden.
h.: Verliere ich die Fähigkeit, mich selbst zu orientieren, wenn ich lange Zeit mit einem Hund gegangen bin?
M.: Ich habe nie verlernt, mich mit dem Langstock und anhand meiner Sinne zu orientieren. Allerdings merke ich, wie viel entspannter und schneller ich mit dem Hund laufe und welche Anstrengung es kostet, wenn E-Roller, Fahrräder und Schilder plötzlich wieder überall im Weg stehen oder ich lange nach Eingängen tasten muss.
Was schon passieren kann, ist, dass ich mich etwa auf einem großen Platz nicht mehr zurechtfinde, den ich mit dem Führhund zielsicher überqueren konnte. Nur hätte ich das ohnehin mit Langstock nicht oder nur auf Umwegen hinbekommen.
Wo ich ohne Führhund mittlerweile extrem unsicher bin, ist tatsächlich auf Bahnsteigen. Das liegt aber vermutlich eher daran, dass ich früher mit einem minimalen Sehrest erahnen konnte, wie weit die Bahnsteigkante entfernt ist.
h.: Gibt es irgendwelche Nachteile, wenn du mit einem Hund unterwegs bist?
M.: Klar, mit der Verantwortung kommen Aufgaben. Der Hund kann krank werden, dann muss umgeplant werden. Auf Reisen muss ich überall einen Platz finden, an dem der Hund sein Geschäft machen kann, und Zugfahrten von acht Stunden oder mehr machen eben auch Probleme. Das könnte man als Nachteil werten. Ich bin mit meinen Hunden auch geflogen, teils bis Brasilien. So etwas kommt überhaupt nur in Betracht, weil der Führhund bei mir in der Kabine liegen darf und nicht im Frachtraum transportiert wird. Ich würde meinen Hund aber nicht mitnehmen, wenn ich eine solch weite Reise nur für eine Woche mache.
h.: Gibt es Lebenssituationen oder Wohnverhältnisse, in denen ein Hund schwer zu halten ist?
M.: Ich persönlich fände es schwierig, wenn ich in einer Großstadt für jeden Hundegang erst einmal eine halbe Stunde mit der Straßenbahn fahren müsste. Seit ich Führhunde habe, habe ich immer sehr nahe an Wald, Feld oder Park gewohnt. Wenn man die Zeit hat und je nachdem, wie wichtig es einem ist, kann man aber sicher vieles einrichten.
Jedoch werden alle Schwierigkeiten, denen ich begegnet bin, vielfach aufgewogen durch die Unabhängigkeit, die ich bekomme, wenn ich zum Beispiel auf einem Weg auch mal vor mich hinträumen kann, was mit Stock kaum geht, wenn mein Hund ganz selbstverständlich den Ausgang aus einem fremden Supermarkt oder Bahnhof findet, oder wenn ich mit ihm im Führgeschirr eine lange, gerade Strecke einfach mal richtig entspannt sausen kann. Selbst im Schnee, wo sich blinde Menschen zuweilen jeglicher Orientierungspunkte beraubt finden, kann ich darauf vertrauen, dass mein Führhund mich sicher ans Ziel bringt.
All das gilt für ein gut eingespieltes Team. Wenn ich mir einen neuen Stock hole, geht es ebenso weiter wie mit dem bisherigen. Beim neuen Hund fängt alles von vorne an. Es gibt noch keinen USB-Stick, mit dem ich die Fähigkeiten und Erkenntnisse, die ich mit dem alten Hund gewonnen habe, einfach auf den neuen übertragen kann. Hunde werden einfach nicht so alt. Sie führen im Schnitt sieben bis acht Jahre. Dann kommt ein Wechsel und ein Abschied, und das strengt schon an, und mancher sagt sich dann, „Das schaffe ich nicht mehr, ich will jetzt keinen Hund mehr". Das ist sicher der größte Nachteil.
h.: Es gibt viele Führhundehalter, die behaupten, der Hund baue ihnen Brücken zu anderen Menschen. Würdest du das auch sagen?
M.: Mehr Kontakt hat man auf jeden Fall. Es gehört zum Leben, regelmäßig bei flüchtigen Begegnungen zu erklären, dass der Hund im Dienst ist und nicht durch Ansprache oder Streicheln abgelenkt werden darf. Manchmal kommt es zu kuriosen Situationen. Einmal fragte ich jemanden nach dem Weg, und er stellte sich vor meinen Hund, zeigte in eine Richtung und erklärte ihm: Da musst du dein Frauchen hinführen.
Aber es ist auch was dran am Brückenbauen. Über den Hund finden viele sehende Personen, die sich sonst nicht trauen würden, mich anzusprechen, einen Einstieg. Dadurch sind schon mehrfach richtig gute Urlaubsbekanntschaften entstanden. Und ich habe insgesamt mehr Gelegenheiten, selbst herauszufinden, ob ich mit jemandem kann oder nicht.
h.: Wie sind denn die Menschen auf deinen Reisen mit euch als Gespann umgegangen. Gab es da Unterschiede zu Deutschland?
M.: In Brasilien hatten wir das Glück, dass zu der Zeit, als wir ankamen, gerade eine tägliche Telenovela gezeigt wurde, in der ein Führhundhalter eine große Rolle spielte. Und plötzlich war da ein echter Führhund mit seiner Halterin, und das Hallo war groß, dass es das nicht nur im Fernsehen gibt. In Brasilien wird man ohnehin häufiger angesprochen und nicht nur beobachtet. Teilweise haben sich die Taxifahrer darum gestritten, wer uns fahren dürfe. Wahrscheinlich haben die dann zu Hause ihren Kindern und Enkeln erzählt, dass sie einen richtigen Führhund an Bord hatten – wie im Fernsehen.
Grundsätzlich habe ich dort nach einem Tipp von Einheimischen nie vorher angekündigt, dass ich mit Führhund komme. Hätte ich das getan, hätte es oft geheißen: Kennen wir nicht, sind wir nicht drauf eingestellt. Wenn du aber plötzlich mit dem Hund auftauchst, dann ist alles einfach, alle sind begeistert und es wird improvisiert, denn darin sind die Menschen in Brasilien einsame Spitze. Und dann bekam ich auch schon mal im Hotel das größte Zimmer, obwohl es eigentlich schon belegt war, weil der Hund ja auch Platz braucht. Ablehnung habe ich in Brasilien kaum erlebt.
h.: Du schreibst derzeit an einem Buch, in dem dein erster Hund Jack den Erzähler gibt.
M.: Mein erster Führhund schreibt aus seiner Perspektive über seine Erlebnisse mit mir. Das wird kein Ratgeber-Buch, sondern ein humorvoller Text über Teilhabe und Inklusion, von Hunden und Menschen. Es sind kurze, abgeschlossene Episoden. Und nebenbei kann man beim Lesen lernen, dass blinde Menschen ein durchaus normales Leben führen mit Reisen, mit Freizeit und Arbeit. Mein Hund kann vieles mit einem Augenzwinkern sagen, was man mir vielleicht übel nähme, ihm aber nicht.
h.: Also wer dich kennenlernen möchte, muss deinen Hund fragen.
M.: Ja, aber alles verrät er auch nicht. Hunde können Dinge für sich behalten, die sie über einen wissen.
h.: Wie kann man das Buch bekommen?
M.: Das Buch soll als E-Book und Taschenbuch und im Idealfall auch als Hörbuch erscheinen. Hoffentlich finde ich eine Stimme, die so klingt wie mein erster Hund.
Zur Person
Mirien Carvalho Rodrigues arbeitet als Dolmetscherin, Übersetzerin und Schriftdolmetscherin für Englisch, Portugiesisch und Deutsch. Die 56-Jährige liebt Reisen und ist seit 25 Jahren mit Führhund unterwegs. Im DVBS engagiert sie sich
Bild: Mirien Carvalho Rodrigues hat glattes, hellblondes Haar und graugrüne Augen. Sie trägt ein Shirt in Türkis. Foto: DVBS
Bildcollage: Hunde haben Bedürfnisse und sind neugierig. Unar, ein schwarzer Labrador Retriever, sitzt im Führhundgeschirr auf einem öffentlichen Platz, hinter ihm steht Mirien Carvalho Rodrigues, die seine Leine hält. Mensch und Hund blicken in die gleiche Richtung (li). Beide stehen am Metzgerwagen. Unar stützt zwei Vorderpfoten auf den schmalen Tresen, so dass er groß genug ist, um in die Auslage zu blicken (o.r.). Unar wartet in Sitzposition vor dem Metzgerwagen auf das Ende des Einkaufs. Im Hintergrund der Aufsteller „Frikadelle Stck 1,-“ (u.r.). Fotos: privat (2020)