Von Dr. Michael Richter und Antonia Fischer
Mein letzter Artikel aus horus 4/2024 endete mit dem Fazit: „Die Welt könnte so einfach sein …“. In diesem Sinne möchte ich von zwei weiteren Fallkonstellationen berichten, in denen es immer wieder zu Problemen kommt, und die vielleicht Einblicke in die nötigen Argumente für erfolgreiche Anträge bieten. Beide Fälle sind vor dem Grundsatzurteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) zu betrachten, dass eine chancengleiche Teilhabe schwerbehinderter Menschen am Arbeitsleben durch Arbeitsassistenz zu gewährleisten ist (vgl. BVerwG vom 23.01.2018, Az.: BVerwG 5 C 9.16). In einem Fall konnten wir erstinstanzlich vor dem VG leider noch kein positives Urteil erwirken, sind aber in Berufung gegangen. Im zweiten Fall haben wir ein tolles und sehr instruktives Urteil im Sinne der Klägerin bekommen.
Zu den Fällen im Einzelnen:
Fall 1 „Erwerbstätigkeit oder Hobby?“
(nicht rechtskräftiges Urteil des VG Schleswig; Az.: 3 LA 67/24)
Ein Mitglied des DVBS, über 70 Jahre alt, jahrzehntelang erfolgreicher Geschäftsmann, Anwalt und Co-Autor erfolgreicher Publikationen und Bestseller, beantragt Arbeitsassistenz, um sein lange geplantes „Lebenswerk“ zu erstellen. Erwartungsgemäß lehnte das zuständige Inklusionsamt in diesem Fall die Gewährung von Arbeitsassistenz ab und begründete seine Entscheidung mit der ungewissen Aussicht auf den Erfolg dieses Werkes. Es bestritt im Wesentlichen die Erfolgsaussichten in wirtschaftlicher Hinsicht und machte geltend, dass das Vorhaben nicht geeignet sei, die Bestreitung des Lebensunterhalts zu sichern.
Das vorliegende Kernproblem, ob es sich um eine Erwerbstätigkeit oder um eine bloße „Liebhaberei“ handelt, tritt häufiger auf, insbesondere, wenn sich der Ertrag einer geplanten Aktivität erst in der Zukunft realisieren lässt. Selbstverständlich sind Förderungen des Inklusionsamtes nicht für die Unterstützung bei jeglichen Projekten von Menschen mit einer Behinderung vorgesehen, sondern es muss sich generell um eine Erwerbstätigkeit handeln, die eine zumindest realistische Aussicht auf einen lebensunterhaltsichernden Ertrag erwarten lässt.
Konkret stellt sich in der jetzt anhängigen Berufung folgende Frage (die bisher auch noch nicht von Oberverwaltungsgerichten oder gar dem Bundesverwaltungsgericht entschieden wurde): „Ist im Rahmen der Arbeitsassistenzgewährung nach § 185 Absatz 5 SGB IX noch eine neue, selbstständige Tätigkeit eines schwerbehinderten Menschen auch bei erstmaliger Aufnahme nach Vollendung des Regelrenteneintrittsalters förderbar?“ Wenn diese Frage positiv beantwortet wird, stellt sich die weitere Frage, welche konkreten Anforderungen erfüllt werden müssen, um darzulegen, dass ein wirtschaftlicher Erfolg mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eintreten wird.
Angesichts einer zunehmend alternden Bevölkerung in Deutschland und gesellschaftspolitischer Tendenzen, Erwerbstätigkeit auch nach dem Erreichen des Renteneintrittsalters zu ermöglichen (vgl. Rentenflexibilisierungsgesetz), dürfte die Frage der Inanspruchnahme von Arbeitsassistenzleistungen für schwerbehinderte Menschen im Rentenalter von grundsätzlicher und zunehmender Bedeutung sein. Denn nicht zuletzt dieser Personenkreis ist besonders häufig von „gebrochenen“ oder zumindest „unterbrochenen“ Erwerbsbiografien betroffen, z.B. durch überproportional lange Zeiten der Arbeitslosigkeit, längere Zeiten der Rehabilitation im Rahmen eines Behinderungserwerbs etc.
Für eine positive Entscheidung könnten im vorliegenden konkreten Fall die bereits sehr weitgeschrittene Planung des Projektes und die unbestreitbaren Qualifikationen und erzielten Erfolge des Klägers sprechen. Gegen eine positive Entscheidung könnten eventuell sein Alter und die Angst der öffentlichen Hand, in ähnlichen Fällen das unbestreitbare Risiko der zweckverfehlenden Mittelverwendung zu tragen, sprechen. Wir werden weiter berichten!
Fall 2 „Assistenz und Elternzeit statt Doppelbelastung“;
(VG Mainz vom 10.10.2024; Az.: 1 K 140/24.Mz)
Eine blinde Mutter in Elternzeit beantragte Arbeitsassistenz für eine Wiedereingliederungsphase. Problem: Anstatt der arbeitsvertraglich grundsätzlich geschuldeten 20 Arbeitsstunden pro Woche sollte in dieser Phase die Arbeitszeit nur 10 Stunden betragen. Das Inklusionsamt verwies auf den Umstand, dass es sich bei diesem geplanten Stundenumfang nicht um eine Erwerbstätigkeit handeln könne, und lehnte den Antrag ab.
Das VG Mainz sprach einen Anspruch zu und begründete u.a. wie folgt:
„Es ist insbesondere zur Erreichung des Zwecks, dass sich schwerbehinderte Menschen im Wettbewerb mit nichtbehinderten Arbeitnehmern behaupten können, unerlässlich, auch für die Fälle einer elternzeitbedingten Arbeitszeitreduzierung den Anspruch auf Kostenübernahme für eine Arbeitsassistenz zu behalten. Ansonsten könnte aufgrund der lediglich temporär geringeren Arbeitszeit die Erfüllung der arbeitsvertraglichen Pflichten und damit auch der (absehbare) Wiedereinstieg in eine Tätigkeit im Umfang über dem Schwellenwert des § 185 Abs. 2 Satz 3 SGB IX gefährdet sein.
(…) vielmehr soll dem gesetzgeberisch verfolgten Ziel der Verbesserung der Chancengleichheit schwerbehinderter Menschen im Arbeits- und Berufsleben während der gesamten Zeitdauer der Erwerbstätigkeit Rechnung getragen werden und die Norm mithin auch beruflich bereits etablierte Personen schützen (…).
(…) ist hier von einer hinreichenden Resterwerbsfähigkeit auszugehen, da das Arbeitsverhältnis lediglich im begrenzten Umfang ruht und nach der Elternzeit im vollen vertraglichen Umfang wieder auflebt. (…)
Mithin muss es dem schwerbehinderten Beschäftigten entsprechend dem gesetzgeberischen Ziel der Verbesserung seiner Chancengleichheit im Arbeits- und Berufsleben im Vergleich mit nichtbehinderten Menschen (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Januar 2022 – 5 C 2/21 –, juris, Rn. 20; Urteil vom 23. Januar 2018 – 5 C 9/16 –, juris, Rn. 17) überlassen bleiben, das ihm – gleichermaßen wie auch nicht schwerbehinderten Menschen – zustehende Wahlrecht, während ihrer Elternzeit mit abgesenktem Stundenumfang berufstätig zu sein, ausüben zu können. Dies beinhaltet die Entscheidung, flexibel eine Teilzeittätigkeit während der Elternzeit mit notwendiger Arbeitsassistenz aufnehmen zu können, etwa um – auch im Vergleich zu einem nichtbehinderten Beschäftigten – den Anschluss im jeweiligen Berufsfeld nicht zu verlieren und einen ggf. schrittweisen Wiedereinstieg in die berufliche Tätigkeit vollziehen zu können bzw. von vornherein nicht vollständig aussetzen zu müssen. (…) Daher muss der Anspruch auf Kostenübernahme für eine Arbeitsassistenz während der Elternzeit bestehen bleiben, auch wenn dadurch zeitweise die tatsächliche Wochenarbeitszeit unter 15 Stunden liegt. Ansonsten käme es zu einer „doppelten“ Diskriminierung der Klägerin – einerseits als Elternteil, andererseits als schwerbehinderte Person.“
Die Fälle zeigen, dass „Chancengleichheit im Arbeitsleben“ möglich ist, aber auch welche Hindernisse im Einzelfall der Umsetzung entgegenstehen können.
Nicht immer stellt sich der Erfolg sofort ein und es Bedarf der Beharrlichkeit. Im Ergebnis hilft aber jedes Urteil, die von den Inklusionsämtern oft zu hohen Hürden zu beseitigen oder zumindest wichtige Klarstellungen zu erreichen und verbindliche Regelungen gerichtlich entwickeln zu lassen.